20. Dezember

In der Früh lag Max nicht neben Katrin. Das war eine große Enttäuschung. (Auch Kurt lag nicht neben ihr, das war eine kleine bis keine Enttäuschung.) Sie hätte schwören können, dass Max neben ihr lag. Sie hatte es ... nein, das war mehr als ein Traum. Das war eines der nächtlichen Erlebnisse, an denen man festhielt, weil sie logisch, vernünftig, in sich geschlossen waren. Aber zum dauerhaften Festhalten fehlte neben ihr jetzt Max.

Der Wecker hatte getan, was er tun musste. Er erlaubte ja keine Übergänge, er duldete keine Fristen. Es war sieben Uhr. Katrin konnte noch nicht denken. Sie konnte daher noch nicht wissen, warum Max nicht neben ihr lag. Sie musste ihn persönlich fragen, warum er es nicht tat. Vielleicht hatte er eine einleuchtende Erklärung. Sie konnte sich noch nicht die Zähne putzen. Sie konnte sich noch nicht den Schlaf aus den Augen reiben. Sie nahm das Telefon und wählte seine Nummer. (Die kannte sie selbst im noch nicht aus den Augen geriebenen Schlaf.) Als er abhob, wachte sie auf und ließ vor Schreck den Hörer fallen. Es war Donnerstag vor Weihnachten, ihr letzter Arbeitstag. Ihr ging es nicht besonders gut. Ihr fehlte die Balance. Sie fühlte zu viel und spürte zu wenig.

Kurt lag unter seinem Sessel und schlief, als das Telefon läutete. Max ging normalerweise nicht hin, wenn der Tag noch nicht angebrochen war. Aber die Anruferin konnte Katrin sein. Und obwohl sich niemand meldete, obwohl das Gespräch beendet war, bevor es anfing, war es Katrin. Die Technik der Kommunikation war ja so weit fortgeschritten, dass man in Zahlen ablesen konnte, wer gerade nicht (oder nur beinahe) mit einem sprechen wollte.

Max rief sofort zurück und sagte: »Guten Morgen.« Schlagfertig wie sie war, erwiderte sie: »Guten Morgen.« Danach entstand eine Pause. Die Standpunkte waren abgeklärt.

Telefonieren lernt man von klein auf oder nie. Max hatte diesbezüglich eine raue Kindheit hinter sich. Die Großeltern lebten in Helsinki. Das hieß: Telefonieren mit oder aus Finnland war an sich zu teuer, aber es war die einzige Verbindung zwischen Eltern und Großeltern, die innerhalb eines Tages hergestellt werden konnte.

Max musste drei Millimeter neben dem Hörer stehen, um ihn auch einmal zum Ohr zu kriegen, wenn Helsinki in der Leitung lag. Und er durfte nicht länger als drei Zehntelsekunden brauchen, um »Hallo Oma, hallo Opa« zu sagen. Um Zeit (und Geld) zu sparen, sagte er »Hallomahallopa!« Bei jedem dritten dieser Gespräche kam noch ein Rauschen, das »Hallo Maxiburli« heißen sollte, zurück. Dann war die Verbindung unterbrochen. Oder der Hörer war ihm entrissen worden.

Andere Telefonkontakte als mit Oma und Opa in Helsinki gab es nicht. Die Rechnung war nach Ansicht der Vaters zu hoch für die Perversion, mit jemandem fernmündlich zu korrespondieren, der in der gleichen Stadt lebte; den konnte man ja auch besuchen. Strengstens untersagt war Max die ganz besondere Perversion, am Nachmittag mit Schulfreunden zu telefonieren, die er noch wenige Stunden zuvor persönlich hatte antreffen und ansprechen können. Da Max praktisch nie telefonieren durfte, wurde er auch fast nie angerufen. Und wenn ihn einmal ein Gespräch erwischte, dann verfiel er in die »Hallomahallopa«-Hektik und konnte weder Gedanken fassen noch Worte finden.

Mit den Jahren lernte er, die Verbindung länger als ein paar Sekunden aufrecht zu halten. Mit geübten Partnern konnte er mitunter sogar hübsch ein paar Worte wechseln. Zum Plaudern reichte es nie. Und wenn einmal eine Sprechpause eingekehrt war, hörte er die Zahluhr ticken und brachte kein vernünftiges Wort mehr heraus.

So gesehen war sein: »Hast du mich gerade angerufen?«, mit dem er die Schweigeminute beendete, gar nicht schlecht. Leider antwortete Katrin schlaftrunken: »Nein, wieso?« - »Weil deine Nummer aufgeschienen ist«, erwiderte er recht spontan. »Ah so«, sagte sie. »Verzeihung, da muss ich mich dann verwählt haben.« Er überhörte ihren notlügnerischen Akzent. Er war stolz, dass sie sich gerade ihn zum Verwählen ausgesucht hatte. Er fragte - und das war wirklich mutig und darüber freute er sich sehr: »Was ich dich eigentlich fragen wollte: Willst du nicht vor der Arbeit noch zu mir auf einen Kaffee kommen?« - »Ja, gerne.« Ihre Antwort langte gleichzeitig mit dem Ende seiner Frage ein. »Um acht?« - »Um acht!« - »Bis dann.« - »Bis gleich.« - »Ich freu mich.« - »Ich mich auch.« - »Ich mich sehr.« - »Ich mich auch sehr.« - »Also bis dann.« - »Bis gleich.«

Das war ein verdammt gutes Telefongespräch, dachte Max danach und behielt den Hörer als Andenken noch eine Weile in der Hand.


Im Esterhazypark wurde ihr bewusst, dass sie ihm geschrieben hatte, dass sie mit ihm schlafen wolle. (Und dass es stimmte.) Und dass er geantwortet hatte: »Ich will es auch.« Und dass sie jetzt auf dem Weg zu ihm war. Und dass er hoffentlich nicht glaubte, dass sie erwarte, dass ihrer beider Wunsch jetzt eingelöst werden sollte. Und dass er hoffentlich nichts dergleichen unternahm. Sie hatte eine halbe Stunde Zeit. Sie wollte ihn nur sehen. Nur »Guten Tag« sagen. Nur einen Kaffee trinken und ihre Verwirrtheit auf ein erträgliches Maß reduzieren.

Immerhin musste sie noch ein Dutzend Patienten empfangen, bevor sie dreißig Jahre alt werden durfte.

Im Stiegenhaus legte sie sich einen groben Verhaltenskatalog für die Türszene zurecht: Wenn er ihr im Pyjama öffnete, würde sie schreien. Wenn er ihr im Morgenmantel öffnete, würde sie davonlaufen. Wenn er ihr nackt öffnete, würde sie schreien und davonlaufen.

Er war angezogen. Sie fiel ihm um den Hals. Er drückte sie an sich. Sie spürte seine heiße Wange an ihrer kalten. So standen sie etwa eine halbe Stunde. Dann musste sie gehen. Nein: So standen sie ein paar Sekunden, die ihr wie eine halbe Stunde vorkamen. Danach gab es keinen Kaffee. Keiner machte einen. Es gab auch sonst nichts. Keiner dachte daran. Nichts lenkte sie voneinander ab. Das war schön.

Sie saßen auf der Couch. Sie saßen eng nebeneinander. Er hielt ihre Hand. Sie erzählten einander belanglose Geschichten, wahrscheinlich aus der Kindheit. Es war egal, was sie sich erzählten. Keiner bemerkte es und keiner merkte sich ein Wort davon. Es galt, sich an die Stimme des anderen zu gewöhnen und Vertraulichkeitspunkte zu sammeln.

Es waren Geschichten, bei denen man einander in die Augen schauen konnte, bei denen man einander zunickte, bei denen man ständig lächelte, obwohl es keine lustigen Geschichten waren. Wenn man verliebt war, erzählte man sich keine lustigen Geschichten, sondern Geschichten, bei denen man sich und dem anderen die Möglichkeit gab, Verliebtheit zu leben, ohne dabei schweigen zu müssen. Es waren Geschichten, bei denen man in die Hände hineinhorchen konnte, die man einander hielt.

Dazwischen hätte man einander eigentlich küssen müssen, dachte sie. Es waren Geschichten, bei denen dies nicht nur gegangen wäre. Es waren Geschichten, die dafür bestimmt waren. Geschichten, die man an jeder Stelle bequem hätte unterbrechen können. Geschichten, die man nachher gar nicht mehr hätte fortsetzen müssen. »Worüber haben wir vorhin geredet?«, hätte einer dann gefragt. Keiner hätte es mehr gewusst. Dann hätte man einander wieder geküsst. Und dann hätte man nicht mehr damit aufgehört. So endeten solche Geschichten. Es waren in Worte gefasste Küsse.

»Ich muss gehen«, sagte Katrin stattdessen und verlor seine Hand. Sie hätte ihn jetzt doch noch küssen können, aber es war ihr zu riskant. Er hätte zumindest »Wann sehen wir uns wieder?« fragen müssen. Er hatte dazu bereits den Kopf leicht schräg gestellt und das Gesicht nach vorgezogener Sehnsucht aussehen lassen. Aber er fragte nicht. Sie umarmten sich. Das war schön. Ihr war nach »Hast du heute Abend Zeit?« zumute. Aber da schlich gerade Kurt vorbei. Er war müde. Er war nicht der Hund, der vor ein paar Tagen neben ihr erwacht war.

»Darf ich ihn mitnehmen?«, fragte Katrin, um eine interessante Frage zu stellen und aus tiefem Mitleid mit sich selbst, ohne Kuss und ohne Max und ohne Kaffee gleich einem Rudel sehwütiger Augenarztpatienten vor die verkrümmten Linsen gesetzt zu werden. Sie brauchte plötzlich einen Beschützer und ein Bindeglied. - Max war überrascht, aber großzügig. Natürlich durfte sie Kurt haben. Kurt durfte sie immer haben. »Mein Hund ist dein Hund«, sagte er und gab ihr statt eines Kusses auf den Mund die Leine in die Hand, an deren anderem Ende Kurt gegen das Wachsein und für den gesunden Morgenschlaf kämpfte.

»Und wann willst du ihn wieder zurückhaben?«, fragte Katrin. Ihre unausgesprochene Frage dahinter hieß: »Wann sehen wir uns wieder?« Seine Antwort hätte lauten müssen: »Wenn es dir recht ist, dann komm doch heute Abend mit ihm zu mir.« Seine Antwort lautete: »Wenn es dir recht ist, dann hol ich ihn morgen zu Mittag bei dir ab.« Nein, das war ihr nicht recht. »Ja, das passt«, sagte sie.

Im Stiegenhaus wusste Kurt, dass er sich nicht den kleinsten Quietscher seiner Leberkäsesemmel und nicht den leisesten Schritt entgegen die Marschrichtung von Katrin leisten konnte. Sie war nicht gut aufgelegt und er wäre der Erste und Einzige gewesen, der dies zu spüren bekommen hätte.


Zu Mittag, am frühen und am späten Nachmittag rief Max bei Katrin an, um zu fragen, wie es Kurt ging - und um zu erfahren, wie es ihr ging. Kurt schlief jeweils im Zentrum des Wartesaals. Manchmal stolperte ein besonders schlechtsichtiger Patient über ihn, aber Kurt schlief angeblich zu tief, um ihm deswegen ins Bein zu beißen. Katrin gab knappe, freundliche, verbindliche Stellungnahmen ab. So ähnlich redete sie vermutlich mit ihren Augenarztkunden. Wäre sie zu ihm weniger knapp, dafür unfreundlicher und unverbindlicher gewesen, hätte er sich besser gefühlt.

Am Abend begann es wieder zu schneien. Max war auf dem Weg zu Paula, um das alte Lied von der Aufarbeitung der Vergangenheit neu anzustimmen. Er fand lächerlich, was er gerade tat. Was suchte er bei Paula? Was hatte er dort verloren? Warum ging er nicht zu Katrin, die er liebte? Warum sagte er ihr nicht, dass keine Minute mehr ohne Gedanken an sie verginge und dass er für sie alles tun würde, zum Beispiel würde er für sie Rom in einem Tag abreißen und wieder aufbauen - unter der Bedingung, dass ihm schlecht werden durfte, wenn er sie küsste?

Als er bei Paula an der Tür läutete, schwor er sich, dass das »Unternehmen fette Sissi« sein letzter Versuch sein sollte, den natürlichen Abläufen mit selbsttherapeutischen Kunstgriffen eine Wendung zu geben.


In Paulas Wohnung waren alle Räucherstäbchen der arabischen Welt versammelt, um gemeinsam einen biologisch abbaubaren Mega-Joint abzurauchen. Ein Dutzend Duftkerzen, falsch: Heilkerzen färbten den Geruch medizinisch-psychedelisch und beleuchteten die Rauchschwaden. Aus dem überhitzten Dunst trat, ziemlich schulter-, bauch- und beinfrei, Paula hervor. Sie gab eine scharf kontrastierend geschminkte Frau indianischen Blutes, die man sofort haben wollte und wohl auch durfte, beides war man ihrem perfekt inszenierten LSD-Rausch-Auftritt schuldig. Weil überreizte Klischees bei Paula ungern unvollständig vorkamen, spielten Pink Floyd dazu »Dark Side of the Moon«.

»Was soll das?«, fragte Max. »Holst du deine Pubertät nach?« - »Nein, deine«, erwiderte Paula. Sie hatte diesmal besonders kräftige Lippen, oder waren sie ihm nur schon so nahe zu Leibe gerückt? Die Eingangstür war zu, der Schlüssel steckte zum Glück, bemerkte Max. Schlimm genug, dass er an solche Dinge denken musste.

Paula nahm ihn wie einen Patienten am Arm und führte ihn in den beräucherten und von brennenden Armleuchtern bewachten Arbeits- und Meditationsraum. Dort drückte sie ihn sanft auf den mit Polstern und Decken ausgelegten Parkettboden und hockte sich dazu. »Was hast du mit mir vor, willst du mich verführen?«, fragte er bemüht unerschrocken. »Nein, nur küssen«, sagte sie. »Aber nicht im Ernst«, erwiderte er vergeblich bemüht unerschrocken. »Einmal musst du es ja lernen«, meinte sie und begann, ihre Lippen mit Dehnungsübungen in Fahrt zu bringen.

Max wollte aufstehen und gehen, als ein weißes Lichtquadrat mit abgerundeten Ecken auf die Wand fiel. Paula hatte den Diaprojektor angeworfen, klickte einmal, und da war sie nun vor ihm - lebensgroß, mächtig, schicksalsträchtig: eine klassische junge Frau von nebenan, die man täglich hundert Mal sah und sehen konnte, ohne sie beim hundertersten Mal wieder zu erkennen. Sympathisch, aber nicht zu sehr. Mit ehrlichem »Ich-habe-meine-Tage- aber-es-stört-mich-nicht«-Blick. Dazu ein frisches »Ich-mache-die-beste-Marillenmarmelade-der-Welt«- Lächeln. Darüber eine kräftige »Wem-sie-nicht- passt-der-hat-Pech-gehabt«-Nase, Marke: Großschanze. Darüber eine schmale »Denken-heißt- Gehirn-verrenken«-Stirn. Darauf eine raffiniert blond gemeschte, steifgegelte »Mode-ist-wenn-man- vergisst«-Kurzhaarfrisur. Eine Hand zur Faust geballt und in die Hüfte gebohrt. Ein Bein unter dem Kostümsaum vorgestreckt, um der maßlos unterschätzten Erotik der heimischen Natur-Wade zum Durchbruch zu verhelfen. - Ein Frauenbild wie ein Geständnis. Sie war es. Sie hatte einst den kleinen Max in die Ohnmacht geküsst: Lisbeth »Sissi, die Fette« Willinger.

»Und? Erinnerst du dich?«, fragte Paula. »Flüchtig«, sagte Max, um irgendetwas Kurzes mit »Flucht« zu sagen, und hielt sich beide Hände vor die Brust, um die ersten Donner- und Grollgeräusche einer herannahenden Gewitterfront zu erfassen. »Sieht doch recht süß aus«, meinte Paula und klickte weiter. Der Projektor schob Sissis Ganzkörperaufnahme zur Seite und hob den ausschnittsweise vergrößerten Kopf hinein. Mit einem Leuchtstab zeichnete Paula Sissis Mund nach und meinte: »Tadellos symmetrisch, nicht aufgeblasen, keine Ecken, darunter saubere schöne weiße Zähne. Sag bloß, dir graust noch immer davor?« Max holte tief Luft und sparte sich eine Antwort. Wenn sich beide nicht bewegten (weder er noch der Mund auf der Wand), konnte er es noch einige Zeit hier aushalten.

»So«, sagte Paula. Das klang gefährlich. »Wir machen jetzt genau fünf Übungen.« - Nein Paula, wir machen jetzt genau nicht einmal eine Übung!, dachte Max. Über das Denken ging sein Widerstand aber nicht mehr hinaus. »Wenn dir übel wird, dann klopfe dreimal mit der Faust auf den Boden, dann höre ich sofort auf«, versprach Paula. - Max klopfte dreimal mit der Faust so heftig auf den Boden, dass die Wände arabischen Rauch husteten. Aber Paula blieb gnadenlos bei der Sache.

Übung eins: Der Kuss mit geschlossenen Augen. Max spürte, wie Paulas Lippen sich wie eine drückende tropische Regenfront über seine legten - und klopfte dreimal. Sie warf ihm einen hässlich funkelnden Indianerblick zu und machte weiter. Er spürte ihre Zunge in seinem Mund. Sie war spitz, rau und erfreulich sparsam im Umgang mit Speichel. Er wollte an Katrin denken, aber er war zu verschämt. Stattdessen fiel ihm die stöhnende Natalie im feuchtfröhlichen Liebesrausch ein. Und hinter ihr lauerte schon die fette Sissi. Sie sprang vor, hielt seine Wangen zwischen je zwei ihrer Wurstfinger fest, sagte »Na, du Schlimmer« und hauchte ihm ihr »Best of Mundgeruch, Junior-Edition« ins Gesicht. Max klopfte dreimal. »Fünf Sekunden«, stoppte Paula, die Schinderin. »Eindeutig zu kurz.«

Übung zwei: Der Kuss mit geöffneten Augen. Der ließ sich gut an. Paulas Pupillen waren groß und leuchteten wie Tautropfen im gelbgrünen Moos. Ihr Gesicht spannte sich anmutig verklärt, wie das einer südamerikanischen Vollblutturnlehrerin, die sich ihrem untrainierten europäischen Lieblingsschüler hingab. Max fühlte im unteren Körperbereich Kräfte aufkommen. Da fiel ihm Samuel, ihr Freund, ein. Was, wenn er sie so sehen würde? Was, wenn er jetzt hereinkäme? Bei dieser Vorstellung hob sich ihm der Magen, darunter kam das Schweinsgesicht der fetten Sissi zum Vorschein. Sie strich sich mit der Zunge über die Oberlippe und wünschte ihm guten Appetit. Max klopfte dreimal. »Elf Sekunden«, sagte Paula. »Besser mit offenen Augen als mit geschlossenen küssen, mein Guter.« - »Besser, DICH so zu küssen«, erwiderte Max. Sie hatte sich ein Kompliment verdient, dachte er und atmete kräftig durch.

»Jetzt kommt die schönste Übung«, versprach Paula. »Du darfst deine Hände benützen.« Max lächelte in gespielter Vorfreude. »Aber nur bis hierher«, ergänzte sie und hielt ihre Hand wie eine Bauchtänzerin vor den Nabel. Diesmal schaffte er beeindruckende zwanzig Sekunden. So lange brauchte er, um zu wissen, wo er seine Hände hintun sollte, ohne Paulas Schönheit zu beleidigen, ohne die Freundschaft zu sprengen, ohne die Prüfungssituation für libidinöse Zwecke zu missbrauchen, ohne das Gefühl zu haben, Samuel mit ihr zu betrügen. An Katrin war gar nicht zu denken. Sie wartete in einem anderen Sonnensystem - und wahrscheinlich nicht einmal mehr auf ihn.

Natürlich hätte er Paula gerne auf den Busen gegriffen und wäre dort länger verweilt. Wer hätte das nicht? Er war wahrscheinlich der einzige volljährige Mann der westlichen Welt, der ihren Busen berühren durfte und es nicht tat. Es war allerdings gar nicht leicht, auf ihrem Oberkörper eine Stelle zu finden, die von der Dominanz und Ausbreitung des Busens ausgespart war. Er wusste, er ließ hier eine Jahrhunderteinladung platzen. Aber er war ja nicht zum Vergnügen da.

Bei solchen Überlegungen flossen die Sekunden bei hoher Pulsfrequenz dahin und er vergaß ganz auf die beiden kampfsportartig ineinander verkeilten Zungen. Endlich fand er auch Halt für seine Hände. Auf Brusthöhe in der Nähe ihrer Schulterblätter gab es warme, muskulös gewölbte Flächen, die er ohne schlechtes Gewissen massieren konnte. - Da nun sinnliche Ruhe eingekehrt war, blendete sich die fette Sissi in das Geschehen ein und warf ihm einen lebertranigen Kussmund zu. Max klopfte dreimal. Paula war enttäuscht. Sie hätte ihm einen vollen Erfolg mit sich gewünscht.

Nun blieb ihm Übung vier nicht erspart: Der Kuss mit gleichzeitigem Blick auf das projizierte Ganzkörperbild von Lisbeth Willinger. Sieben Sekunden benötigte er, um von der adretten Lisbeth zu ihrem fetten Ursprung zurückzugelangen. Dann klopfte er dreimal und brauchte bei geöffneten Fenstern eine längere Pause.

Übung fünf: Der Kuss mit gleichzeitigem Blick auf den projizierten Bildausschnitt des Gesichts von Lisbeth Willinger. Er sah also beim Küssen über Paulas quergestellten Kopf hinweg direkt auf Sissis Mund an der Wand. - Vierzig Sekunden, dann wollte Paula nicht mehr. »Was ist los mit dir, geheilt?«, fragte sie nachher.

Es war seltsam: Sissis Mund, bei dem nur die Zähne zum Vorschein kamen, beruhigte ihn. Der Blick darauf nahm dem Trauma den verfaulten Geschmack. Max fühlte sich wie ein (küssender) Marathonläufer. Er sah sich mit den Augen Dutzende Kreise um Sissis Lippen ziehen. Er lief dabei nie Gefahr, abzurutschen und hineinzugleiten. Die ersten Runden kosteten noch die übliche Überwindung und Anstrengung. Doch von Sekunde zu Sekunde fühlte er sich leichter auf seiner Bahn. Schließlich trat er mit seinen Augen in eine Art aerobe Mund-Umrundungs-Phase ein. Er verspürte dabei ein angenehmes Schwindelgefühl, das ihn wie ferngesteuert weitermachen ließ.

Gleichzeitig hatte er sich an Paulas Zunge in seinem Mund gewöhnt. Sie drang ja doch nie weiter vor als bis zu seinem hinteren Gaumen. Das Glitschige verlor seine üble Schärfe. Die Gedanken trugen ihn bis zur Mutprobe der »Dreckigen Toten- kopfpiraten« zurück. Er hörte, wie ihn die Kinder anfeuerten: »Bravo-Max-der-Küsser-König-der-Max-der-kann's-der-Max-der-hat's.« Er rechnete mit heftigen Schüben von Übelkeit und seine größte Angst war es, dass Paula die drei Klopfgeräusche im Kussrausch überhören könnte. Aber es passierte nichts, der Magen blieb ruhig. Die Augen zogen unermüdlich ihre Runden um Sissis Lippen auf der Projektionswand. Max fühlte sich stark genug, damit über jede volle Distanz zu gehen. Er hätte noch Stunden weiterküssen können.

»Gratuliere«, sagte Paula und rüttelte an seiner Schulter. »Danke«, flüsterte Max erschöpft. »Dann haben wir's also«, meinte sie und richtete sich auf. »Was?« - »Die Lösung deines Problems. Du brauchst ein Foto von ihren Lippen. Das trägst du von nun an immer bei dir. Und das verwendest du mir bei jedem Kuss!« - Jetzt war sie die strenge Apothekerin. »Vielleicht war es nur Zufall, nur ein einmaliger Erfolg«, gab Max zu bedenken. - »Das musst du ausprobieren, mein Guter«, sagte sie, ging zum Schreibtisch (Meditationstisch) und kam mit einem Stoß Fotos zurück: Lisbeth Willinger in allen Größen und von allen Seiten, darunter drei herrlich ausgearbeitete Lippenbilder.

»Paula, ich ...« - »Ich weiß, dass das großartig von mir war«, sagte sie. »Wie kann ich mich revanchieren? Was kann ich dir dafür geben?«, fragte Max. - »Einen Kuss«, erwiderte Paula. »Muss aber nicht heute sein.«

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