19. Dezember

Ihr »Ich will mit dir schlafen und neben dir einschlafen« erregte und irritierte Max. Die Erregung bezog sich auf den ersten Teil und war das kleinere Übel, nein, sie war kein Übel, sie war das Gegenteil eines Übels. Sie war so heftig wie der Föhnsturm, der sich seit Stunden in die Fensterscheiben kniete - aber etwa hundertdreißig Grad Celsius wärmer. Und diese Hitze kam in Wellen, stieg ganz plötzlich in ihm hoch, zog rasch wieder ab und schwoll neuerlich an.

Er stellte sich vor, wie Katrin am Türstock lehnte, wie sie ihm einen jener Blicke zuwarf, die sofort entschieden, was folgen musste, und wie sie dann sagte: »Ich will mit dir schlafen.« Und er stellte sich vor, dass sie dabei einen ihrer Knöpfe öffnete, egal welchen. (Also gut: Nicht egal welchen! Zum Beispiel nicht einen ihrer Ärmel.) Es ging ihm dabei um die Drehbewegung ihrer Finger beim Knopföffnen, um das spielerische Signal der Bereitschaft, um das Vorher (Knopf zu) und das Nachher (Knopf offen), was sie ihm damit sagen wollte, wie sich ihr Blick dazu veränderte.

Und dann stellte er sich der Reihe nach vor, wie alles passierte. Es dauerte Stunden, was sich da in ein Sekundenkonzentrat seiner Fantasie drängte. Die Hitzewellen in ihm gaben sich die Türklinken in die Hand. Und: Es war keiner dabei, kein einziger frevelhafter, verwerflicher, zerstörerischer Kuss. Das war der feine Unterschied zwischen sexuellem Denken und Tun, darum zelebrierte er das eine und ließ das andere lieber sein.

Und eben deshalb irritierte ihn Katrins »Ich will mir dir schlafen und neben dir einschlafen«. Er hatte das schizophrene Gefühl, dass sie leichtfertig aussprach, was er selbst noch viel mehr wollte als sie. Er wünschte es so sehr, dass er nie gewagt hätte, es zu formulieren, schon gar nicht in dieser Direktheit. Sein Verlangen war zu groß für Worte, die auf Umsetzung drängten. Katrin verlangte zu viel für ihn - und von ihm.

Außerdem wollte er gerade abbiegen. Sie erwischte ihn mit ihrer Offenbarung ausgerechnet bei der Generalprobe zur Flucht an den Indischen Ozean. Er hatte das Flugticket und den Hotelgutschein zugesandt bekommen. Er hatte sein Sommergewand ausgepackt und von seinem Spiegelbild vorführen lassen. Er hatte das Fenster geöffnet, sich hinausgelehnt, dem aus finsteren Löchern pfeifenden Sturm Vergeltung geschworen und der vergrabenen Sonne eine Befreiungsaktion in Aussicht gestellt. Er war im Begriff, sich mit eigener Kraft aus dem Schneematschsumpf zu ziehen und sich von der weihnachtlich überschminkten städtischen Kettenpflicht zu befreien.

Katrin holte ihn mit ein paar Worten zurück. Die Vorstellung, die Verlockung, die Aufforderung, mit ihr zu schlafen und neben ihr einzuschlafen, ließ ihn nicht mehr los. Er beschloss, es zu tun (kostete es auch einen Kuss zu viel und verursachte es damit einen Abbruch und ein endgültiges Aus). Danach beschloss er, es nicht zu tun. Danach beschloss er, Paula zu fragen. Danach beschloss er, Paula nicht zu fragen, da er selbst schon erwachsen war.

Danach schrieb er an Katrin: »Ich will es auch, aber ich brauche noch ein bisschen Zeit.« Danach löschte er: »Aber ich brauche noch ein bisschen Zeit.« (Wenn er hilflos war, neigte er dazu, sich an die fürchterlichsten Phrasen der Menschheit zu versklaven.) Danach las er laut, was als Antwort übrig geblieben war: »Ich will es auch.« Danach las er es so oft, bis sich die letzten Stirnfalten der Unzufriedenheit lösten. Danach hielt er etwa fünf Stunden lang (zehn Sekunden waren es sicher) seinen linken Zeigefinger auf die Taste »Mitteilung senden«. Dann musste ihn irgendwer gestoßen haben, sodass der Finger auf die Taste tippte und den Befehl ausführte. Kurt war es nicht. Der lag unter seinem Sessel und schlief.


Katrin las sein »Ich will es auch« erst am späten Nachmittag. Bis dahin hasste sie sich zunehmend für ihr Talent, Situationen heraufzubeschwören, in denen sie nichts anderes tun konnte, als zu warten. In der Früh würgte sie den Computer bis zur virtuellen Bewusstlosigkeit, aber er gab keine Antwort- Mail her. In der Ordination verfluchte sie die Telefongesellschaft, die ihr Aurelius statt Max in die Leitung gelegt hatte. Strafweise warf sie ihn mit einer nur unwesentlich freundlicheren Umschreibung von »Falsch verbunden« sofort aus dem Netz. Die drei letzten Patienten des Tages wurden blindlings heimgeschickt. Katrin musste vorzeitig nach Hause, um nachzusehen, ob elektronische Post von Max eingelangt war. - Und sie war es. Das beendete Katrins fahrlässig herbeigeführte Qual.

Max' »Ich will es auch« wirkte etwa eine Stunde. Es war eine klare, schöne und spannende Nachricht, die Katrin dazu drängte, ein aufwühlend heißes Beruhigungsbad zu nehmen. Danach kühlte der Abend rasch ab. Und plötzlich kam ihr die Antwort unbefriedigend und mangelhaft vor. Sie klang wie: »Einverstanden.« Wie: »Okay.« Wie: »Warum auch nicht.« Wie: »Kann nicht schaden.« Der Antwort fehlte Feuer. Und ihr fehlte ein zweiter Teil. Ihr fehlte das Entscheidende, die Entscheidung, der Schritt weiter.

Da Katrin weder außer Haus gehen noch den Abend mit einem unverbindlichen »Ich will es auch« alleine verbringen wollte, besuchte sie telefonisch ihre beiden treuesten Freundinnen. Beate erwischte sie in einer Hochphase mit Joe. Sie hatte ihm gerade den letzten Seitensprung verziehen und er hatte sich dafür mit einem eigens für sie einstudierten Love- Song (den ihm sein Freund Bruce Springsteen geliehen hatte) bedankt. »War er bei dir?«, fragte Katrin. »Nein, er hat mir ein Demoband geschickt, mit Eilboten sogar. Weißt du, er sagt, wenn er mich sieht, dann ist er so verwirrt, dass er gar nicht singen kann.« Außerdem hatte er ihr ein langes Wochenende zu zweit versprochen. »Wann?«, fragte Katrin scharf. »Weißt du, momentan ist er noch sehr viel auf Tournee, aber wenn Weihnachten einmal vorbei ist ...« Katrin erzählte nichts von Max. Womöglich hätte Beate versucht, ihre Liebesgefühle zu vergleichen und die Männer aneinander zu messen.

Franziska war gerade dabei, Pipa und Leni zu füttern. Aus dem Telefon roch es nach Banane. Zwischendurchgeräusche verrieten, dass nicht alle Löffel Brei ihren Weg in die Münder der Kinder fanden (oder darinnen blieben). Einmal soff der Hörer offensichtlich in der Bananenbreischüssel ab. Danach klang das Gespräch, als würde E. T. nach Hause telefonieren.

Franziska hatte von Eric die Scheidung verlangt, erzählte sie. Erst hatte er bitter geweint und ihr geschworen, um sie zu kämpfen. Als sie sagte, dass er sich das sparen könnte, dass sie ihn einfach nicht mehr liebte, gab er zu, seit einem Jahr ein Verhältnis mit einer verheirateten Kollegin zu haben. Danach war ihr leichter, erzählte Franziska. Sie hatte schon gedacht, sie und die Kinder wären am Scheitern der Ehe schuld gewesen.

»Und was macht dein Neuer?«, fragte Franziska. »Wie küsst er?« - »Gar nicht«, erwiderte Katrin, »aber er will mit mir schlafen.« - »Auch nicht schlecht«, meinte Franziska gequält. Sie musste gerade einen wuchtigen Stoß eines Kinderkopfes in die Magengrube verdauen. Katrin erzählte ihr von dem verpatzten Abend mit Max und vom vergessenen Hund und las ihr dann »Kurt erzählt eine Bettgeschichte« vor. - »Warum schreibt mir nicht einmal einer so etwas?«, fragte Franziska. »Der Typ ist Hals über Kopf in dich verliebt!« - »Aber er unternimmt nichts«, jammerte Katrin und wurde darin mit einem solidarischen Aufheulen der Zwillinge im Hintergrund bestätigt. »Dann tu's du!«, sagte Franziska. »Der Mann schreit doch danach, verführt zu werden!«


Max steckte gerade mit seinem Kopf in der gefüllten Badewanne, um die Dichtheit seiner Taucherbrille zu prüfen - da musste sogar Kurt aus dem Schlaf erwachen und nachschauen, was los war; Aktionen solcher Art gab es selten in diesem Haus -, als Paula anrief. Sie ließ lange genug läuten, dass Max auftauchen konnte. Sie hatte wichtige Nachrichten. »Darf ich?«, fragte sie. Ihre Stimme klang gehetzt wie die einer Kriminalheldin, die einen lang gesuchten Serienmörder ausfindig gemacht hatte und nun mit ihrem Chef verbunden war, um ihm die Fakten zu präsentieren.

»Lisbeth Willinger, ehemalige Unger. 29 Jahre alt. Vier Jahre Volksschule, vier Jahre Polytechnischer Lehrgang, drei Jahre Berufsschule. Friseur-Lehre mit Gesellenprüfung. Angestellte bei >Frisiersalon Friedl<. Seit acht Jahren verheiratet. Zwei Kinder, Uschi, sieben, Manuel, fünf. Dazu ein Streifenhörnchen: Woodo. Ehemann: Hubert Willinger, Dachdeckermeister. Alle wohnhaft in der Stifterstraße Nr. 14, Tür 8. Lisbeths Größe: 1,74 Meter. Gewicht ...« Hier gönnte sich Paula eine dramaturgische Pause. »Gewicht: 72 Kilogramm.« - »Gar nicht so dick«, murmelte Max. »Und schaut auch gar nicht so übel aus«, erwiderte Paula. »Wieso weißt du das?«, fragte Max. »Ich halte ein Foto von ihr in der Hand«, sagte Paula.

Wie dieses? Endlich konnte sie von ihrer Recherche erzählen. Also: In der Volksschule nach dem früheren Direktor gefragt. Den Direktor nach alten Lehrern gefragt. Die Lehrer nach einem auffallend fettleibigen Mädchen des Jahrgangs gefragt. Ergebnis: Lisbeth »Sissi« Unger. Eine Dickere gab es nie wieder.

Fortsetzung: Auf einer Polizeiwachstube »den Charme spielen lassen« und Einsicht in die Meldelisten bekommen. Von Lisbeth Unger auf Lisbeth Willinger und die neue Anschrift gestoßen. Telefonnummer ausfindig gemacht. »Und einfach angerufen«, sagte sie. »Und was gesagt?«, fragte Max.

Nun, Paula war von der Lotteriegesellschaft und hatte eine erfreuliche Nachricht. Lisbeth Willinger bedauerte: Sie spielte nicht Lotto, auch nicht ihr Mann, und ihre Kinder waren noch zu klein. »Das wissen wir«, meinte Paula. »Darum würden wir Sie gerne mit einem schönen Werbegeschenk auf den Geschmack bringen.« Leider durfte Paula nicht verraten, was es war. Das Geschenk würde Frau Willinger mit Erlaub in den nächsten Tagen zugestellt werden. »Nur eine kleine Bitte«, sagte Paula: Intern wolle man eine Kartei der Beschenkten anlegen. »Und da brauchten wir ein Foto von Ihnen.« - »Darf es auch von meinem Mann sein?«, fragte Lisbeth. Nein, das ginge nicht. Männer hätte man schon zu viele in der Kartei. »Na schön. Aber Sie versprechen mir, dass das Foto nirgendwo veröffentlicht wird«, forderte Lisbeth. Versprochen. Tags darauf: Foto erhalten.

»Paula, du bist ...« - »Ich weiß«, sagte sie. »Und du lass dir ein gutes Werbegeschenk für Lisbeth einfallen.« - Max schwieg. »Und morgen Abend kommst du zu mir und wir studieren das Foto.« - Max schluckte. »Samuel fährt morgen nämlich wieder auf Dienstreise.« - Max schwieg. »Wir beide sind also allein.« - Max schluckte.

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