Am Samstag überraschte sich Katrin damit, dass sie sich nicht treiben ließ und dass ihr das Leben in seiner unerträglichen vorweihnachtlichen Kargheit Respekt abtrotzte. Um neun Uhr läutete der Wecker. Fünf nach neun stand sie auf, duschte sich (unnötig lang), holte sich mit Zahnseide letzte (unsichtbare) Bröselreste von diesem ekelhaften Stachelbeerkuchen aus den Zwischenräumen und spuckte mehrmals kräftig ins Waschbecken. Danach überlegte sie drei Sekunden, ob der Tag dafür geschaffen war, Weihnachtseinkäufe zu erledigen: Er war nicht dafür geschaffen.
Draußen schneite es aus meteorologischer Langeweile und klimatischer Resignation lustlose fünf Schneeflocken pro Minute. Katrin zog sich die hässlichste Wollunterwäsche an, die sie finden konnte, ohne danach zu suchen. Darüber passte ihre uralte graue Stepphose und der hellblaue Schlabberpullover, den sie für den Bahnhofssozialdienst zur Seite gelegt hatte. Ihre Haare pickte sie sich mit Gel aus dem Gesicht, den Lippenstift wischte sie wieder weg. Schminke erschien ihr in dieser Gemütsverfassung zu weibisch. Mit den weinroten Wanderschuhen hatte sie ihr Styling zur Perfektion gebracht. Sie sah aus wie eine Frau, die keinem Mann gefallen wollte. Genauso fühlte sie sich. Genauso fühlte sie sich gut. Genauso ging sie ins Kaffeehaus frühstücken. Sie aß dick belegte Eiaufstrichbrote, trank unter konstruierten Schlürfgeräuschen heiße Schokolade und zog eine abschließende Bilanz über Männer. Dazu machte sie sich Notizen. Sie wollte ein Beweisstück in der Hand haben, wie sinnlos es war, die Hoffnung nicht aufzugeben, es könnte einmal einer ins Leben treten, der nicht bald wieder hinaustrat oder hinausgetreten werden musste:
»1) Es gibt Schöne und Hässliche. Die Schönen sind brandheiß, spannend wie Telefonbücher oder bekennende Arschlöcher. Die Hässlichen sind nicht- bekennende Arschlöcher.
2) Zehn Prozent aller Männer wollen von einer Frau Sex und nichts anderes. Neunzig Prozent wollen von mehreren Frauen Sex und nichts anderes.
3) Achtzig Prozent der Männer interessieren sich nicht für Frauen. Von den restlichen zwanzig Prozent interessieren sich achtzehn Prozent für jede gut aussehende Frau. Zwei Prozent interessieren sich für eine bestimmte Frau. Davon interessieren sich 1,8 Prozent für eine bestimmte Frau, weil sie sie nicht kriegen können. 0,2 Prozent interessieren sich für eine bestimmte Frau auch noch, nachdem sie sie gekriegt haben. Davon interessieren sich 0,1999 Prozent für eine bestimmte Frau, um sie noch ein zweites und drittes Mal zu kriegen. 0,0001 Prozent aller Männer interessieren sich für eine bestimmte Frau, obwohl sie sie gekriegt haben. Davon interessieren sich 0,0000999 Prozent für eine bestimmte Frau, um mit ihr ein Kind dazu - oder die Mama zurückzukriegen. Bleiben 0,0000001 Prozent Männer, die sich dauerhaft, sozusagen >ein Leben lange, für ein und dieselbe Frau interessieren, ohne damit ein Ziel zu verfolgen. Das ist der statistische Schätzfehler.
4) Es gibt interessante und uninteressante Männer. Die Interessanten sind vergeben oder sie tun so (und kommen sich gut dabei vor) oder sie leben zurückgezogen oder im Ausland oder sie tauchen plötzlich auf, sind dann aber doch nicht so interessant. Oder sie pflegen gerade eine >unproblematische sexuelle Beziehung< zu einer anderen Frau.
5) Fazit eins: Am zweitklügsten ist es, einen Mann zu erobern, der hässlich und uninteressant ist und sich nicht für Frauen interessiert. Ein solcher ist an jeder Ecke zu bekommen. Man kann ihn jederzeit austauschen. Er hält hundertprozentig, was er nicht verspricht. Man hat ihn, wenn man will, für immer.
6) Fazit zwei: Am klügsten ist es, auf Männer zu verzichten und sie schon im Ansatz aufkeimenden Interesses zum Teufel zu schicken. Deswegen lesbisch zu werden, ist kindisch und zu viel der Ehre für die Männer.«
Als Katrin das Kaffeehaus verließ, war sie radikalmilitante Feministin, die zum Glück keine Kettensäge in der Hand hatte. Daheim überlegte sie es sich noch einmal anders und schrieb Max eine E-Mail. Sie begann mit den Worten: »Ich hoffe, du hattest einen erholsamen, entspannenden, befriedigenden Abend.« Diesen Satz löschte sie - und tippte ihn gleich darauf noch einmal ein. (So schlecht war er nicht.) Dann folgte: »Wenn du morgen einen ungestörten Sonntag verbringen willst, um eventuell auch wieder deiner unproblematischen sexuellen Beziehung zu frönen, kannst du mir Kurt vorbeibringen. Der Hund hat ohnehin zu wenig Auslauf. Außerdem - warum muss er sich das dauernd anhören? Gruß, Katrin.« Den Nebensatz mit der sexuellen Beziehung und den Fragesatz löschte sie - unwiderruflich.
Danach rief sie ihn an. Sie wollte ihm nur mitteilen, dass sie ihm eine Nachricht geschickt habe. Und sie wollte ihn bei dieser Gelegenheit fragen, was er am Abend vorhabe. Sollte er noch nichts geplant haben, würde sie sagen: »Schade, ich bin am Abend leider mit Freunden unterwegs. Aber vielleicht ein anderes Mal.« Hatte er schon etwas vor, würde sie ihn danach fragen. Nein, das würde sie nicht machen. Oh doch, das würde sie machen.
Und würde er sagen, er erwarte Besuch, und würde auch nur irgendwie versteckt anklingen, dass es sich um sexuellen Besuch der unproblematischen Art handle, würde sie ihm »leider etwas Unangenehmes« mitteilen müssen: »Lieber Max. Ich kann Kurt zu Weihnachten nicht nehmen. Es ist mir etwas dazwischengekommen: ein uralter Freund aus Amerika, meine große Jugendliebe, der ist jetzt plötzlich da und er wird über Weihnachten bei mir wohnen und da wollen wir von einem Hund natürlich nicht gestört werden, wir haben ja viel nachzuholen, das wirst du verstehen.« Etwas in dieser Art wollte sie ihm sagen. Und dann würde sie noch anfügen: »Aber vielleicht ist ja diese sexuell unproblematische Frau, von der du erzählt hast, so nett und kann sich um den Hund kümmern. Oder wäre das der unproblematischen sexuellen Beziehung abträglich? Das hoffe ich doch nicht«, würde sie sagen.
Zu dem Gespräch kam es leider nicht. Er hob nicht ab. Er schien zu wissen, dass es klug war, nicht daheim zu sein. Katrin sprach ihm aufs Band: »Hallo, hier Katrin. Ich hab dir eine E-Mail geschickt. Ich wünsche dir einen schönen Abend.« Danach ärgerte sie sich. Ihre Worte waren von einer geradezu unterwürfigen Harmlosigkeit.
Am Abend war Katrin bei Franziska »Nichts-ohne- meine-Töchter« Huber eingeladen. Die wog jetzt hundertzehn Kilo, davon je fünfzehn Kilo an ihren beiden Brüsten, wenn auch erstaunlicherweise nicht mehr saugend: Leni und Pipa. Franziska war Katrins beste Freundin. Die Freundschaft war so gut, dass sie die letzten drei fruchtlosen Jahre (beziehungsweise fruchtbringenden, je nachdem, wie man es sah) hatte überstehen können. So lange stand die Freundschaft nun schon unter Zwillingsgeburtenschock.
Ursprünglich wollten sie ins Kino gehen, aber das ging dann doch nicht, wegen Leni und Pipa. Nichts ging mehr wegen Leni und Pipa und schien etwas zu gehen, so ging es dann doch nicht wegen Leni und Pipa. Dabei wäre Eric beinahe allein bei den Kindern daheim geblieben. Doch buchstäblich in letzter Sekunde war ihm - zu Franziskas Erleichterung - eine Praktikanteneinschulung dazwischengekommen. Seit der Geburt seiner Töchter hatte sich die Zahl der abendlichen Praktikanteneinschulungen dramatisch erhöht. Möglicherweise war es Franziska, die diese Schulungen in geheimer Absprache mit seinem Chef organisierte.
Sie konnte mit Eric zu Hause nichts anfangen. Er war noch nicht reif für Leni und Pipa. Bei ihm spannten sich die Gesichtsmuskeln, wenn die Töchter im bewussten und gewollten Zusammenwirken nicht daran dachten, die Phon-Stärke ihres Presslufthammer-/Sirenen-Getöses noch vor Mitternacht des jeweiligen Abends zu senken. Außerdem wischte er ihnen mit einem an seine zittrigen VaterFinger angewachsenen feuchten Tuch jede Stunde zwanghaft Mund und Hände ab und spekulierte mit geregelten Schlafensgehzeiten. Und schließlich begann er jüngst in unangenehm unterschwelliger Weise auf Franziska einzudringen, sie könnten doch wieder einmal miteinander schlafen, und das bereits drei Jahre nach der Geburt. Er verstand nichts von Müttern und Kindern.
Mit Franziska war eine extreme Wandlung vor sich gegangen. Sie war früher nicht nur anders, sie war eine andere, eine gegenteilige Person gewesen. Sie hatte die sexuelle Freiheit gepredigt und zelebriert und sich dabei jede Woche aufs Neue gebunden. Nach zwei, drei Tagen war der Höhepunkt ihrer Verliebtheit erreicht gewesen. Am vierten Tag hatte sie vom Heiraten gesprochen, am fünften Tag war ihr die Sache »langsam ein bisschen zu eng« geworden. Am sechsten Tag hatte sie eine Beziehungspause gebraucht. Am siebenten Tag den Neuen kennen gelernt. Sie hatte natürlich niemals unter gescheiterten Beziehungen gelitten. Das Kommen und Gehen von Männern hatte auf natürliche Weise ihre Blutzirkulation angeregt und für einen gesunden Hormonhaushalt gesorgt.
Katrin sparte sich damals die Enttäuschung der Lektüre eintöniger Liebesromane. Franziskas Geschichten waren niemals langweilig, oftmals sogar anregend. Und sie gingen für sie auf erstaunliche Weise immer gut aus. Zumeist war das Ende selbst das Gute daran. Katrin beneidete Franziska um die Fähigkeit, das »Ernsthafte« an einer Beziehung gar nicht erst zuzulassen. Somit waren selbst die leichtfertigsten ihrer Männer noch immer ernsthafter als sie selbst.
Als ihre beste Freundin und erste Ansprechstation musste Katrin in Franzis wildesten Zeiten vorübergehend einen Parteienverkehr mit Seelsorge und Nachbetreuung für stehen gelassene Opfer einrichten. Da lernte sie Männer von ihrer demutsvollen Seite kennen und gering schätzen. Bei manchen war sogar eine Art emotioneller Tiefgang zu bemerken, der sich dann aber doch rasch als pures Selbstmitleid entpuppte.
Einige waren willens, sich wegen Franzi das Leben zu nehmen und hatten panische Angst, in den Nächten nach der Trennung alleine zu sein. Katrin durchschaute den Trick allerdings bereits nach der dritten Annäherung eines Stehengelassenen, der bei ihr im Bett lebensrettenden Trost suchen und Kraft für ein Weiterleben ohne Franzi tanken wollte.
Eric wäre eigentlich für Katrin vorgesehen gewesen. »Der ist mir zu schade«, hatte Franzi gesagt. »Der ist so gewissenhaft. Der wäre mehr etwas für dich.« Er hätte ihr auch gefallen. Er redete nicht viel, dafür keinen Schwachsinn. Er konnte ihr nicht nur zuhören, er tat es auch. Überdies sah er ganz gut aus und er schaute ihr in die Augen, wenn er mit ihr redete. Er hatte weder einen Schleier- noch einen Röntgenblick, sondern die vom Aussterben bedrohte unpeinliche Mischung daraus, die Frauen das Gefühl gab, ohne Gegenleistung ernst genommen zu werden und etwas Besonderes zu sein. Er war auf bescheidene Weise selbstbewusst. Er hatte nur einen großen Fehler: Er unternahm nichts, um Katrin näher zu kommen.
Eric konnte keine ersten Schritte setzen. Katrin ebenfalls nicht. Das verband sie. Leider nicht miteinander, sondern mit Franziska. Als Katrin den Entschluss gefasst hatte, Eric ein Signal zu geben, welches er dahingehend hätte interpretieren können, dass sie bereit gewesen wäre, auf ein Zeichen von ihm positiv zu reagieren, sagte ihr Franziska am Telefon: »Eric und ich sind zusammen. Ich hab ihn mir aufgerissen. Wir müssen einen anderen für dich suchen.« - »Kein Problem«, erwiderte Katrin. »Er war ohnehin nicht mein Typ.« Wenn Franziska damals ein Knirschen in der Leitung gehört hatte, so musste es vom zusammengequetschten Telefonhörer in Katrins Händen hergerührt haben.
Mit Eric ging es Franziska scheinbar so gut, dass sie sich ein Jahr nicht meldete. Als Entschädigung durfte Katrin ein weiteres halbes Jahr später ihre Trauzeugin sein. Die Hochzeit war wie aus dem Film »Vier Hochzeiten und ein Todesfall«. - Wie der Todesfall. Franziska war unter ihrem Brautkleid lebend begraben und hatte diese missverständlich oft als »Glück« oder »Harmonie« bezeichnete satte Zufriedenheit um die Mundwinkel und im Ansatz eines Doppelkinns. Dazu setzte sie ein ironisches, abgebrüht wirkendes »So-ist-das-Leben«-Lächeln auf, wie es Menschen tun, die die Dinge laufen lassen, weil es ihnen zu mühsam ist, alles wieder rückgängig zu machen, weil sie dann zu viel Geschehenes (oder Passiertes) in Frage stellen müssten. Ausgerechnet Franziska, die keinen Weg gescheut hatte, um ihrem Begriff von Liebe nachzuspüren, war in eine emotionelle Sackgasse geraten und errichtete sich nun dort, wo es nicht mehr weiterging, ein gutbürgerliches Einfamilienhaus.
Eric war ein Bräutigam, der nicht wusste, wie ihm geschah. Er freute sich einerseits rührend für seine Großfamilie, die mit Franziska einen weiteren Volltreffer gelandet hatte. Andererseits suchte er wehmütig Kontakt zu seinen Freunden aus der Baseball-Mannschaft, als fürchtete er nichts mehr, als mit dem Jawort und dessen Nachfolgeerscheinungen seinen Platz im Team (und in der Gesellschaft überhaupt) zu verlieren.
Die Festgäste bemühten sich aufrichtig, das frisch vermählte Paar um sein beispielloses Glück zu beneiden. Aber der Brautkuss war kühl, die Ringe wurden lieblos ausgetauscht. Die Intimität des Ehepaares bei der Hochzeitsfeier erschöpfte sich in Dialogen darüber, ob das Weißbrot ausreiche, ob die Kapelle zu laut oder leise spiele und welche Schwiegereltern sich wohler fühlten und warum (nicht). Katrin gelang es nur für wenige Minuten, an Franziska heranzukommen. Ihr fiel keine dem Anlass gerechter werdende blöde Frage als »Liebst du ihn wirklich?« ein. »Wir passen gut zusammen«, erwiderte Franziska und lächelte. Also: Nein.
Das Haus in der Sackgasse blieb von da an gut abgeschirmt. Auch Katrin zählte zu den Unbefugten, denen der Zutritt nur selten erlaubt war. Die Hochzeit ging nahtlos in Franziskas Schwangerschaft über. Der Kontakt mit Katrin wurde immer telefonischer. Nach der Geburt der Zwillinge war auch Telefonieren nur noch in Ausnahmesituationen möglich - etwa wenn Leni und Pipa gleichzeitig schliefen. Dennoch wollte sich Katrin nie an den Gedanken gewöhnen, dass sich ihre Freundschaft mit Franziska ausgelebt haben könnte. Bei jedem der rar gewordenen Treffen hoffte sie, die alte Franzi wiederzuerkennen.
Der Besuch war unpassend, merkte Katrin, als es zu spät war. Die Wohnung war kindgerecht verwüstet und roch nach Banane. Leni (oder Pipa) beschäftigte sich still. Sie spielte mit den Blättern des Gummibaumes »Er liebt mich, er liebt mich nicht«. Pipa (oder Leni) beschäftigte sich laut. Sie hatte fünf Pfannen aus der Küchenlade geholt und ließ jede mit jeder zusammenkrachen. »Schreck dich nicht, wie's hier aussieht«, sagte Franziska und hielt Katrin zur Begrüßung den Ellbogen entgegen. Katrin schreckte sich, wie ihre Freundin aussah. Sie war kindgerecht verwüstet und roch nach Banane. Außerdem hatte sie seit ihrer stürmischen Phase gut zwanzig Kilo zugenommen. Allein ihre Haare wogen leicht fünf Kilo. Für Körperpflege fehlte ihr anscheinend nicht nur die Zeit, sondern auch der Grund.
»Wie machst du das, dass du so schlank bleibst?«, fragte Franzi, obwohl sie es wusste und obwohl es ihr egal war: Weil es Katrin eben nicht egal war. Leni (oder Pipa) war der Gummibaum bereits zu kahl. Sie nahm Anlauf und sprang Katrin an. Das rief die Pfannen dreschende Pipa (oder Leni) wach. Sie ließ das Küchengerät fallen und hängte sich Katrin um den Hals. »Ihr zwei seid aber stürmisch«, rief Katrin, in der Hoffnung, durch ein Machtwort der Mutter befreit zu werden. Franzi setzte ein entschuldigendes »So-sind-Kinder«-Lächeln auf. So waren Kinder, wenn einem die Kraft fehlte, etwas dagegen zu unternehmen. »Süß sind sie«, sagte Katrin. »Zum Fressen«, dachte sie. Danach sah man sich Fotoalben an: Leni und Pipa, mit eins, zwei, drei und jeweils dazwischen. Die Kinder turnten indessen auf den Köpfen.
Bei der Fertigpizza fielen persönliche Worte, nicht viele, Pipa und Leni waren ja schließlich auch noch da und hörten keine Minute auf, daran zu erinnern. »Eric ist mir fremd geworden«, sagte Franziska im gemütlichen Ton, in dem frühere unbeschwerte Zeiten anklangen. »Eine Weile schau ich mir das noch an, dann lasse ich mich scheiden.« Was genau sie sich anschauen wollte, ging im Kriegsgeschrei der hungrigen Zwillinge unter.
»Und du?«, fragte sie Katrin, vielleicht in der Hoffnung, etwas vom Leben zu erfahren. »Ich bin verliebt«, erwiderte Katrin und war verblüfft über ihre Worte und wie sie klangen. »Hab ich gleich gesehen«, sagte Franzi. »Und was kann er?« - »Weiß ich noch nicht«, erwiderte Katrin. »Liebt er dich?«, fragte sie. »Weiß ich noch nicht«, erwiderte Katrin. »Ist er gut im Bett?«, fragte sie. »Weiß ich noch nicht«, erwiderte Katrin. »Kriegst du eine Gänsehaut, wenn er dich küsst?«, fragte sie. »Weiß ich noch nicht«, erwiderte Katrin. »Willst du es nicht wissen?«, fragte sie. »Oh ja, na sicher«, erwiderte Katrin und lächelte verlegen. »Was tust du dann hier bei mir?«, fragte Franziska. - Das war eine gute Frage, dachte Katrin. Sie half noch mit, die Kinder wenigstens in eine Vorstufe der Nachtruhe zu bringen und verabschiedete sich mit einer angedeuteten Umarmung von ihrer Freundin. Pipa und Leni hängten sich dazwischen.
Daheim war Katrin außer Atem. Sie war den Weg durch den Park gelaufen. Sie hatte das dringende Verlangen, von Max geküsst zu werden. Sie wollte sich auf schnellstem Wege in die Nähe einer Situation bringen, in der dieses Verlangen Aussicht hatte, gestillt zu werden. Sie stürzte zum Telefon. Der Anrufbeantworter hatte zwei Nachrichten gespeichert. Die erste kam von Aurelius. Katrin rieb ihre Knie aneinander und biss sich auf die Unterlippe. »Liebste Katrin, ich hoffe, du bist nicht böse, dass ich dich gestern nicht angerufen habe. Ich hatte es dir ja versprochen. Bei mir in der Kanzlei geht es momentan turbulent zu ...« Katrin hielt sich die Ohren zu und ließ nur noch vereinzelte Worte durch: »sollst du wissen«, »die Einzige«, »wegen des Kinobesuchs«, »Weihnachten«, »mit deiner Mama telefoniert«, »jederzeit anrufen«, »morgen wieder versuchen«, »gute Nacht, Liebling«, »ich träum von dir«. Überstanden. Ende.
Die zweite Nachricht musste von ihm kommen, und sie kam von ihm. Katrin presste ihr Ohr an den Lautsprecher. »Hallo Katrin, hier ist Max. Ich hab dir eine E-Mail geschickt. Ich vermisse dich.« - Der Computer brauchte drei Minuten, um anzustarten. Katrin kürzte währenddessen mit den Zähnen sechs ihrer Fingernägel. Er hatte »Ich vermisse dich« gesagt, dachte sie etwa zwanzig Mal, um die Wartezeit zu überbrücken. Sie hatte nur noch ein T-Shirt an und ihr war noch immer zu heiß für den Empfang seiner Mitteilung. Zuerst sprangen ihr zwei neue EMails von Aurelius ins Auge. Langsam hasste sie ihn für seine Frechheit, sich über elektronische Schleichwege in ihrem Leben eingenistet zu haben und ihr den Zugang zu den wichtigen Dingen zu blockieren. Sie löschte die Mails, ohne sie gelesen zu haben, öffnete die Nachricht von Max und las:
»Liebe Katrin, du schriebst mir: >Ich hoffe, du hattest einen erholsamen, entspannenden, befriedigenden Abend.< - Glaube ich dir nicht, Katrin. Du hofftest, ich würde einen unbefriedigenden Abend haben. Deine Hoffnung wurde übertroffen: Es war ein grauenvoller Abend. Du schriebst ferner: >Wenn du morgen einen ungestörten Sonntag verbringen willst, kannst du mir Kurt vorbeibringen. Der Hund hat ohnehin zu wenig Auslauf< - Ich würde dir Kurt gerne vorbeibringen, aber ich selbst will keinen >ungestörten< Sonntag verbringen. Ich würde den Sonntagnachmittag gerne mit dir verbringen. Wenn ich Kurt bringe, darf ich auch hereinkommen? Katrin, ich habe natürlich gemerkt, was mit dir los war. Ich würde dir die Sache gerne erklären. Gibst du mir Gelegenheit dazu? Ich denke ununterbrochen an dich und würde dich gerne sehen. Kurt hat übrigens nicht zu wenig Auslauf. Ihm ist jeder Auslauf einer zu viel. Wenn es nach Kurt ginge, gäbe es für Hunde überhaupt keinen Auslauf mehr. Hoffentlich bis morgen, Max. P. S.: In Kurts Namen bedanke ich mich noch einmal für die wiehernde Leberkäsesemmel. Wir haben sie schon ins Herz geschlossen.«
»Hallo Max«, antwortete Katrin sofort, »ja, ich würde mich freuen, wenn du mit Kurt mitkommst. Ich lasse dich herein. Du kannst auch länger bleiben.«
Danach legte sie sich ins Bett, biss an den übrig gebliebenen vier Fingernägeln und wiederholte im Geiste mit unterschiedlichen Betonungen: »Ich denke ununterbrochen an dich und würde dich gerne sehen.« Das hatte er tatsächlich geschrieben. Wie konnte er es gemeint haben?