Wenn Kurt irgendwas verstand, dann am ehesten Spaß, dachte Katrin. Als Gastgeschenk hatte sie für ihn eine Leberkäse-Semmel aus Plastik ausgesucht, die wieherte, wenn man hineinbiss. Das Wiehern sollte eine akustische Anspielung darauf sein, dass es sich bei dem Leberkäse um Pferdeleberkäse handelte.
Max hätte sie beinahe einen Pin-up-Kalender mit persönlicher Widmung »Zur Anregung der Kreativität und Förderung der Arbeitsleistung« mitgebracht. Aber dafür war es noch zu früh, dachte sie. Es war wohl mehr ihr Übermut, in dieser trostlosen Zeit so große Freude über eine so simple Sache wie eine Einladung zu einem Frühstück entwickeln zu können. Vielleicht hatte Max ja auch wirklich ein Problem. So brachte sie ihm besser eine Packung Kürbiskerne mit Vanillegeschmack mit.
Draußen schneite es in dicken Flocken. Als Kind war Katrin abends oft stundenlang am Fensterbrett gelehnt und hatte angespannt das strichlierte Laternenlicht fixiert. Und wenn sie in der Nacht aufwachte (oder wenn sie vor Aufregung gar nicht eingeschlafen war), musste sie nachsehen, ob der flimmernde Kreis um das Licht noch vorhanden war, ob das Schwirren der Flocken zugenommen oder nachgelassen hatte.
Im Laufe der Jahre hatte sich die Symbolkraft des Schneefalls in den Bereich der negativen Gefühle verschoben. Katrin hatte den Schnee durchschaut. Er war trügerisch. Er kam im Anflug auf romantisch daher, aber sowie er den Boden berührte, bekannte er sich dazu, sinnlos und überflüssig zu sein. Die Zeit, in der sich Katrin den Schnee wegwünschte, war um ein Vielfaches länger als jene, in der sie ihn ersehnte. Die Intervalle wurden von Jahr zu Jahr größer.
Im Esterhazypark, auf dem Weg zu Max und Kurt, schloss sie für wenige Minuten Frieden mit dem Winter. Sie schob die Kapuze zurück, ließ ihre Haare weiß bedecken und sich die Flocken vom Wind ins Gesicht treiben. Sie schloss die Augen und fühlte sich jung. Sehr jung. Ihr war, als wäre sie ein Kind geblieben.
Kurt lag unter seinem Sessel und schlief. Als Katrin eintrat, wachte er nicht auf. Als sie ihm mit der Plastikleberkässemmel ins Ohr wieherte, ebenfalls nicht. Die Wohnung war warm und hell, sie machte es einem unmöglich, melancholisch zu werden, dachte Katrin. Sie war weder eingerichtet noch ausgestattet, sondern es war dem Zufall schöner und potthässlicher Einzelstücke überlassen, etwas daraus zu machen. Und das war ihnen gelungen. Die Wohnung war das Gegenteil von stillos; sie hatte zu viele Stile auf einmal. Dem Mobiliar sah man die unterschiedlichen Stimmungslagen des Käufers bei der jeweiligen Anschaffung an. Einmal wollte er günstig kaufen, dann praktisch, dann bunt, dann edel, einmal avantgardistisch, dann exquisit, dann wieder so, dass seine Urgroßeltern »spießbürgerlich« dazu sagen würden.
Auf dem hellen Parkettboden im Wohnzimmer lagen drei Teppiche aus unterschiedlichen Kontinenten, die sich farblich bekriegten. (Europa verblasste, Asien verkroch sich, Südamerika siegte.) Dem mahagonibraunen Kleiderschrank sah man an, dass er zu groß und schwer war, um beim Fenster hinausgeworfen zu werden, was ihm gebührt hätte. Das geeignete Wortpärchen, mit dem sich Gäste angesichts solcher Holzmonumente des Grauens aus der Affäre ziehen konnten, hieß »notwendiger Stauraum«.
Nett waren die kleinen Kommoden, Kästchen und Tischchen, die man von weitem für Antiquitäten halten konnte. An den Wänden hingen kitschigschräge Landschaftsmalereien und eine monströse Kuckucksuhr ohne Kuckuck, dafür mit stündlich auftauchenden Figuren aus der hellenistischen Mythologie. Katrin erkannte an den fehlenden Vasen, Lampen, Kerzenständern und sonstigen Ziergegenständen, dass dem Haushalt die Verspieltheit des Einrichtens und die Liebe zum Detail fehlte, also die Frau.
Das wärmste Eck des Wohnzimmers bog sich weich in einer mondänen orangeroten Rauledergarnitur, vor der ein schmerzhaft-rustikaler, mit Schieferplatten bedeckter und mit Eichenholz umrandeter Couchtisch stand. Der Jugendstilschreibtisch war das vielleicht edelste Stück des Wohnraums. Ohne Bedeckung mit Pin-up-Girls kam er noch besser zur Geltung, dachte Katrin. Beinahe hätte sie es ihm gesagt.
Max stand in seiner kleinen Küche, die nach »einmal in der Woche Ham and Eggs aus der Hand eines verkaterten Junggesellen« aussah. Aber sie roch nach Großmutter. Es war der Geruch von Stachelbeerkuchen, nein, es war der Geruch von Kuchen. Stachelbeeren rochen nach nichts.
»Woher hast du sie?«, fragte Katrin. Sie war mit dem unreinen Klang ihrer Worte unzufrieden. Sie konnte eine so angenehm tiefe Stimme haben, wenn sie souverän war, wusste sie - und dann dieses Gekrächze! Merkte er ihre Aufgeregtheit? Er erzählte irgendetwas von einem Markthändler, den er kannte und der ihm den Tipp gegeben hatte, es doch dort und dort zu probieren; »dort und dort« gab es aber keine, also versuchte er es .
Sie konnte sich nicht auf den Inhalt seiner Worte konzentrieren. Er hatte Stachelbeeren vom Ende der Welt geholt. Das hatte er für sie getan. Nur für sie. Für sie allein. Ein Schmuckstück kaufte einer von vielen Männern für eine von vielen Frauen. Aber einen Stachelbeerkuchen machte nur der eine, der das Stichwort kannte, nur für die eine, die es ihm hingeworfen hatte. Intimer konnte ein Geschenk nicht sein.
Er sah sie beim Reden an, sie musste wegschauen. Sie kam sich entlarvt vor, er ihr verwandelt. Seine Blicke okkupierten sie. Er war wie neu, wie plötzlich in ihr Leben getreten. Er beschäftigte sie. Sie begann ihn zu studieren. Er gefiel ihr. Sie staunte über sich, wie ihr ein Mann, der ihr zum ersten Mal bewusst begegnete, gleich so sehr gefallen konnte.
Sie verbrachten den halben Tag auf der orangeroten Eckcouch. Sie saßen gut zwei Meter auseinander und rutschten keinen Millimeter näher zusammen, sie, weil sie es nie tun würde, er, weil er es nicht tat. Kurt schlief durchgehend, Katrin liebte ihn dafür. Er war ihr Lieblingshund. Der Kuchen schmeckte nach nichts. Immer wenn Max: »Möchtest du noch ein Stück?« fragte, sagte sie: »Ja, gern, aber nur ein kleines.« Dazu trank sie acht Tassen Kaffee und zwei Liter Mineralwasser. Sie musste ständig konsumieren (und dazwischen regelmäßig die Toilette besuchen). Sie brauchte die stete Berechtigung, dazubleiben. Sie wollte dableiben. Sie wollte nicht mehr fortgehen, und wenn sie bis an ihr Lebensende Stachelbeerkuchen und Kaffee und Wasser zu sich nehmen (und die Toilette besuchen) musste, um die Aufenthaltsberechtigung nicht zu verlieren.
Sie redeten über alles und nichts. Beides war spannend. Max war ein erfreulich schlechter Unterhalter, bemerkte Katrin. (Gute Unterhalter ließen einen nie zu Wort kommen, nach ein paar Stunden war ihr Programm zu Ende. Dann drückten sie auf die Wiederholungstaste und ließen ihre besten Geschichten noch einmal Revue passieren. Manchmal rangen sie sich für die jeweiligen Publikumsgäste noch eine zweite Zugabe ab. Danach war endgültig Sendepause. Dann musste rasch etwas Nonverbales passieren. Oder sie mussten die Zuhörer wechseln.)
Max war anders. Wenn er länger als zehn Sekunden von sich erzählte, begann sein Redefluss zu stocken, dann suchte er nach einem passenden Übergang und erteilte Katrin das Wort. Ihr blieb es erspart zu überlegen, was sie ihm sagen konnte. Er fragte gezielt nach allem, was ihn interessierte. Sie wunderte sich, wie wenig Geheimnisse sie vor ihm hatte und wie leicht es ihr fiel, persönliche und familiäre Dinge preiszugeben.
Irgendwann musste es kommen: »Und dein Freund?«, fragte Max. - Die Frage war fairerweise sehr allgemein gestellt. Katrin probierte: »Welchen meinst du? Ich habe mehrere sehr enge Freunde.« - »Dein fester Freund, der keinen Birnenkuchen mag.« Dies war unfairerweise sehr eindeutig formuliert. »Mit dem ist es schon vorbei«, sagte Katrin. Das war keine schlimme Lüge, oder? »Zahlt sich nicht aus, über ihn Worte zu verlieren«, fügte sie an. Jetzt war sie stolz auf sich, so rasch zur vollen Wahrheit gelangt zu sein.
»Und du?«, fragte sie, um ihren »Ex-Freund« endgültig zu tilgen. »Bei mir ist die Sache komplizierter«, erwiderte Max niedergeschlagen, und er begann, mit den Daumenkuppen die der Mittelfinger zu reiben, als würde er dazwischen etwas zerbröseln lassen. »Aber das erzähle ich dir ein anderes Mal«, sagte er und schaute demonstrativ auf die Uhr. Es musste etwa fünf Uhr sein. Draußen war es schon finster. Katrin kroch ein flaues Gefühl in den Magen. »Hast du noch etwas vor?«, fragte sie professionell freundlich, als wäre es ihr gleichgültig. »Ja, am Abend kommt eine Freundin zu Besuch«, sagte Max. Katrin vermeinte die Spitzen Dutzender Stachelbeeren an ihren Magenwänden zu spüren.
»Ist sie die komplizierte Sache?«, fragte sie. »Natalie? Nein. Sie ist die unkomplizierte Ausnahme von der komplizierten Sache«, erwiderte Max und lächelte wie jemand, der wusste, dass für niemanden lustig sein konnte, worüber er lächelte und wie er lächelte. »Was habt ihr für ein Verhältnis?«, fragte Katrin. (Was war in sie gefahren, solche Dinge zu fragen? Was war das für ein Ton?) »Ein sexuelles«, erwiderte Max leidenschaftslos und schaute ihr so tief in die Augen, dass er ihren Sekunden-Verfall bemerken musste. - Das war keine gute Antwort, nein, das war wirklich keine gute Antwort, dachte Katrin. »Aber ganz anders, als du denkst«, ergänzte Max hastig. Zu spät. Katrin dachte nicht mehr.
Sie spürte einen Befehl in ihren Beinen, die Wohnung auf die schnellstmögliche unverdächtige Weise zu verlassen. »So spät ist es schon?«, rief sie geschockt im Aufspringen und tastete sich mit Gesprächsfetzen bis zum Ausgang. »Willst du schon gehen?«, fragte Max. Sie sah ihn nicht mehr an. Seine Stimme klang ängstlich, aber sie hatte jetzt nicht die Muße, darüber nachzudenken. Sie befürchtete einen Gefühlsausbruch. Sie wusste nicht einmal, was für ein Gefühl es war, aber sie spürte die Bereitschaft, es eskalieren zu lassen. Bei der Tür umarmte er sie und gab ihr zwei kurze trockene Küsse auf die Wangen. Sie taten ihr weh. »Wann sehen wir uns wieder?«, fragte er. »Ich melde mich«, erwiderte sie mit eiskalter Freundlichkeit. »Danke für Kuchen und Kaffee«, setzte sie mit grausamer Höflichkeit nach. »Bitte sehen wir uns bald wieder, ja?«, rief ihr Max nach. Sie reagierte nicht. Sie ließ die Steintreppen unter ihren Schuhabsätzen in abnehmender Lautstärke poltern. Es sollte nach »Das war es dann wohl« klingen.
Draußen schneite es noch immer dicht. Katrin vermummte mit dem Schal ihr Gesicht und begann durch den Esterhazypark zu laufen. Er hatte also ein unkompliziertes sexuelles Verhältnis. Gratulation! An ihren Beinen klebten schwere Klötze. Sie musste sie abschütteln. Sie musste schneller laufen. Sie musste sich hinter sich lassen. Sie musste von sich Abstand gewinnen. Sie spürte ein Stechen in ihrer Brust. Stachelbeeren, überall Stachelbeeren in ihr. Der Schal rutschte ihr unters Gesicht. Die Luft war grausam kalt. Keine Aussicht auf Wärme. Die orangerote Eckcouch war wohl schon wieder besetzt. Gratulation, Katrin, gut gemacht, gut erwischt!
Die Flocken peitschten und zerplatzten in ihrem Gesicht. Stachelbeeren, schwere, spitze, überreife Stachelbeeren. Aha, ein unkompliziertes sexuelles Verhältnis, aber ganz anders, als sie dachte. Sie dachte nicht, ihre Augen waren nass von außen und aufgeweicht von innen. Sie brannten. Stachelbeeren, Körbe von wässrigen Stachelbeeren. Sie rieb sie sich mit den Fäusten aus dem Gesicht und lief weiter, noch schneller, noch schneller davon. Eine Natalie also. Eine unkomplizierte Ausnahme. Scheiße. Das Keuchen übertönte ihre Weinkrämpfe. Sie hasste Schnee. Sie hasste den Winter. Sie hasste Weihnachten. Sie riss die Augen weit auseinander und fühlte sich alt. Sehr alt. Ihr war, als hätte sie alles versäumt, was sie jung gehalten hätte. Und ihr war, als fehlten ihr Idee und Kraft, diese Versäumnisse jemals nachzuholen und den rapiden Alterungsprozess zu stoppen.
Max hatte gerade den Hörer in der Hand, um Natalie abzusagen, als sie an der Tür läutete. Er überlegte kurz, sie nicht hineinzulassen - ein Notfall: Scharlach, Feuchtblattern, Maul- und Klauenseuche, irgendwas mit vielen ekeligen Flecken oder Schaum vor dem Mund, mit hohem Fieber und akuter Ansteckungsgefahr bei Sichtkontakt.
Er hatte nicht nur keine Lust auf sie, er konnte sich auch nicht vorstellen, eine solche zu entwickeln. Es fehlte ihm die erforderliche Lust auf Lust auf sie. Denn zur Lust auf Lust gehörten vermutlich Gefühle. Die waren nicht vorhanden.
Ein Alternativprogramm zum Lustprogramm stand aber nicht zur Diskussion. Natalies telefonische Vorworte des Treffens waren »Ich will dich wieder« gewesen. Dazu noch ein hübsches Wortspiel über den Ort des Geschehens: »Diesmal komm ich bei dir.« Max hätte vermutlich »Ich mag es, wenn du so direkt bist, Baby« erwidern müssen. Dazu hätte er sich vorher noch eine Schachtel Sägespäne in die Kehle schütten müssen. Aber er blieb bei seiner natürlichen Stimme. Und er schaffte gerade noch: »Dann komm!«
Da war sie also. »Ich kann nicht lange bleiben, darum bin ich früher da«, erklärte sie in zur Perfektion gebrachter Jugendlicher Abgeklärtheit, kniff die Augen zusammen und brachte ihre unruhigen zarten Hände am Kragen ihrer gepolsterten Lederjacke in Stellung, scheinbar um diese ruckartig zu öffnen. Wahrscheinlich hatte sie darunter nichts an. Das waren zwar Männerphantasien, aber bei Natalie musste man mit solchen Dingen rechnen.
Edgar, der Anglistikprofessor, habe am späten Abend überraschend Zeit, erklärte sie: deshalb ihre Eile. »Ich werde aber nicht mit ihm schlafen, der wird Augen machen«, verriet sie Max und kniff die Augen in besonders kurzen Intervallen zusammen. Um ihre Edgar-Verweigerung durchzustehen und dem Professor nicht gar so ausgehungert gegenüberzutreten, nahm sie den Abstecher bei Max. Das hatte zwar relativ wenig mit einer Romanze zu tun. Aber damit beruhigte er sein Gewissen. Sein Motiv, sie kommen zu lassen, war auch nicht edler.
Er wollte üben. Er wollte es noch einmal probieren. Er wollte schauen, ob es ihm ein zweites Mal gelingen würde, heil über die Runden zu kommen. Er hatte eine gute Unterlage (Stachelbeerkuchen und Kaffee), er war mental in guter Verfassung, er konnte eine volle Sekunde an die fette Sissi denken, ohne den geringsten Brechreiz zu verspüren. Es herrschten also günstige Laborbedingungen.
Seit dem gelungenen Abenteuer mit Natalie vor zwei Tagen war Max euphorisch. Sein Sexualleben war im Begriff, sich zu verändern, das heißt: Es war im Begriff zu beginnen. Er wollte nicht unbescheiden sein: Ob er selbst dabei etwas empfand, war ihm egal. Aber allein die Vorstellung faszinierte ihn, dass er mit einer Frau ganz normalen Sex mit ganz normalen Zungenküssen haben konnte, dass er in der Lage war, sie auf konventionelle Weise zu befriedigen und ihre Lust zu stillen. Jetzt war er 34. Gar nicht so schlimm. Da gab es noch einige Jahre bis zum Ruhestand. Da war vielleicht sogar noch eine dauerhafte Lebensgemeinschaft möglich, eine Art Ehe, oder: warum nicht gleich eine Ehe, mit einem Kind oder zwei - und ohne Hund natürlich.
»Wo?«, fragte Natalie. Für »... tun wir es« war ihr die Zeit zu schade. Als Antwort sprang ihr die orangerote Ledercouch in die halb zugekniffenen Augen. Sekunden später saßen sie dort übereinander. Unter ihrer Steppjacke befand sich übrigens doch noch ein Kleidungsstück - ein ausgewaschenes schwarzes T-Shirt. Dem Anglistikprofessor konnte sie so etwas nicht vorsetzen, aber für Max reichte es. Sie nahm hastig die nächstbeste seiner Hände und schob sie unter ihr Shirt. Dazu machte sie ein konstruiertes Geräusch mit vielen »A«s, wie eine Puppe, die auf Berührung reagierte. Die Haut griff sich angenehm warm an, fühlte Max. Da war nur das Problem: Er hatte keine Lust, je schneller Natalie es vorantrieb, umso eindeutiger - absolut keine Lust.
Sie öffnete sein Hemd. Er dachte, es wäre langsam an der Zeit, die Sache abzubrechen. Aber Natalie war zu beschäftigt. Er konnte sie nicht stören. Außerdem hätte sie ihn ohnehin nicht verstanden. Sie war bereits in einem ihm unbekannten Reich der Sinne und hielt dort erotische Monologe aus der Sekundär- bis Tertiär- bis Porno-Literatur: »Weißt du, was ich gleich mit dir machen werde?« (Sie erwartete keine Antwort.) »Ich werde xxxxx nehmen und xxxx stecken.« - Und einiges mehr.
Dabei griff sie ihm zunächst auf, dann zwischen und schließlich unter die beiden Hosen. Jetzt musste auch sie langsam merken: Er hatte absolut keine Lust. Aber das irritierte sie nicht. Er wurde auf den Rücken gelegt und durfte die Augen schließen. Sie begann weiter unten mit dem Aufbautraining.
Max kam sich lächerlich und in dieser Lächerlichkeit auch noch gefangen vor. Er resignierte, überließ seine Schale der Erregerin und blendete seinen Geist aus dem Geschehen aus. Er dachte an Katrin. Er war aufgeregt, wenn er an sie dachte. Er war seit einigen Tagen aufgeregt. An diesem Nachmittag war endgültig etwas mit ihm passiert. Er wusste genau, was es war. Er wagte nur noch nicht, es sich einzugestehen. Und er hatte keine Ahnung, wie er damit umgehen sollte.
Er wollte gern einmal ihre Wange berühren. Das hätte er natürlich niemals gewagt: Katrins Wangen waren Heiligtümer, die berührte man nicht einfach so. Ihr gesamtes Gesicht war unantastbar. Ihre Hände waren zerbrechliche Kunsthandwerke. Ihr Körper? War es erlaubt, an ihren Körper zu denken? War es erlaubt, sich ihn nackt vorzustellen? War es erlaubt, ihr im Geiste über die Hüften zu streichen? Nur über die Hüften, großes Ehrenwort!
Natalie konnte zufrieden sein. Sie hatte ... sparen wir uns Details. Er war in ihr. Sie stöhnte und warf mit Wörtern wie »eng« und »hart« und »lang« und »groß« und »feucht« herum. So, aber jetzt wurde es ernst. Jetzt war ihr Kopf über seinem und sie bedeckte sein Gesicht mit etwa einem Liter Speichelflüssigkeit, ehe er ihre aufgewärmte Zunge in seinem Mund aus- und eingehen fühlte.
Max spannte alle verfügbaren Bein- und Armmuskeln an, presste die Fäuste zusammen und zwang sich zur Vorstellung, Katrin wäre es, die ihn gerade küsste. Das funktionierte nicht. Es gab in seiner Biografie nur eine, die so einvernehmend gierig zu saugen verstand wie Natalie - die fette Sissi. Max würgte die erste heftige Übelkeitsattacke hinunter und riss seinen Kopf aus Natalies Verankerung.
»Hast du was?«, fragte sie in Form von Stöhngeräuschen. »Können wir nicht Platz tauschen?«, fragte Max kränklich. »Typisch Mann. Immer wollen sie oben sein und den Rhythmus angeben«, erwiderte Natalie im Sinne von »Nein, kommt nicht in Frage«, zog ihre Beinschere fester, krallte ihre Finger in seinen Hals und versenkte ihre Zunge minutenlang in seiner Mundhöhle.
Während sein Magen wie eine hochtourige Waschmaschine kaffeedurchtränkte Stachelbeerkuchenstücke schleuderte, versuchte Max noch einmal bei Katrin Halt zu finden. Warum sagte er ihr nicht einfach, dass er sich unsterblich in sie verliebt hatte? Was konnte ihm passieren? Würde sie Max nicht jeden Wunsch erfüllen, wenn sie Kurt dafür haben konnte? - Da war er wieder, der Traum. Sie saß vor ihm in ihrem gelben Raumanzug. Er sah nur ihre mandelförmigen Augen. Sie hatte doch mandelförmige Augen, oder nicht? »Du legst deine Hände auf meinen Nacken und fährst mit allen zehn Fingernägeln ganz langsam meinen Rücken herunter«, dachte er sich zu ihr sagen. Wie sie ihn ansah! Wie sie ihre Finger bewegte. Diese Finger auf seinem Rücken! Ein Zucken ging durch seinen Körper. Er versuchte, den Mund zu schließen. Doch da war Natalies Zunge. Da war die fette Sissi. Er hob den Kopf. Er war knapp davor, sich zu übergeben. Natalie drückte den Kopf auf den Polster zurück und ließ von seinem Mund ab. Ihre Bewegungen wurden schneller, ihre Stöhngeräusche kehliger.
Bei Max mischten sich Schmerz, Angst, Ohnmacht und unbändige Lust auf Katrin. »Würdest du das für mich tun?«, dachte er sich sie fragen. »Bitte tu es schnell, ich halte es nicht mehr lange aus«, dachte er sich sie anflehen. »Danke für Kuchen und Kaffee!«, sagte sie und warf ihm einen grausam höflichen Blick zu. Er nahm sie und gab ihr Küsse auf beide Wangen. Sie riss sich los und weinte bitter und heulte wie ein Wolf und jammerte wie ein Kind. Nein, das war kein Jammern. Das war ein Geräusch wie von einem wild gewordenen Pferd. Das war ein schreckliches Wiehern.
Natalie bäumte sich auf und schrie vor Entsetzen: »Was ist daaaaas?« Max atmete mehrmals kräftig durch, ehe er sich zumutete, die Augen zu öffnen. Über ihm stand Kurt und blickte ins Jenseits. Er dürfte in der Bewegung erstarrt sein. Aus dem Maul ragte seine neue Plastik-Pferde-Leberkäse-Semmel. Sie drückte von unten auf Natalies Busen und quietschte und wieherte dort in Sekundenintervallen.
»Das ist Kurt«, sagte Max und umarmte den Kopf des Retters. »Das ist ja ekelig«, erwiderte Natalie mit Zornestränen in den Augen. »Ich war gerade im Kommen!« - »Tut mir leid. Ich glaube, er muss gehen«, erwiderte Max, richtete sich auf und strich seine Haare glatt. Während Natalie sich fluchend anzog, streichelte er seinen regungslos im Raum stehenden und ins Leere starrenden Hund. Als sie die Tür hinter sich zuwarf, zog er ihm Katrins Leberkäsesemmel aus dem Maul und drückte sie an seine Brust.