4. Dezember

In der Nacht hatte es geregnet und der Wind drückte stark gegen das Fensterglas, welches knirschende Geräusche machte, als stünde es knapp davor, in die Brüche zu gehen. Katrin wurde von einem elefantengroßen Hund mit Haifischzähnen gebissen, wachte auf und konnte, obwohl die Schmerzen natürlich gleich weg waren, die restlichen drei Stunden nicht mehr einschlafen. Den Typen mit dem Hund würde sie zu Mittag im Cafe Melange treffen. Sie hoffte, dass er ihr nichts tun würde - der Hund. Vor Männern fürchtete sie sich weniger.

Ordination war dienstags von 8 bis 12 und von 15 bis 18 Uhr. Katrin kam immer schon ein bisschen früher. Sie ertrug es nicht, wenn Doktor Harrlich vor ihr in der Praxis war. Da empfing er sie stereotyp im bemüht französischen Akzent mit »Guten Morgen, mein schönes Fräulein, haben Sie gut geschlafen?« und schlich mit seinen schlaffen Händen von hinten an ihren Körper heran, um ihr aus dem Mantel zu helfen, als wollte er Marlon- Brando-mäßig zum »Letzten Tango« antreten. Es wäre übrigens garantiert sein letzter Tango gewesen. Augenarzt Doktor Harrlich war 76 und ordinierte nur noch aus Gewohnheit und Betriebsblindheit. Er sah bereits so schlecht, dass er seine Patienten nicht mehr unterscheiden konnte.

Doktor Harrlich unterschrieb aber immerhin die Krankenscheine. (Den richtigen Platz fand er blind.) Die restliche Arbeit erledigte Katrin - und umgekehrt. Sie war theoretisch medizinisch-technische Assistentin der Augenheilkunde, jedoch praktisch Augenärztin ohne Doktortitel. Ihretwegen kamen die Kunden, ihretwegen musste der Wartesaal vergrößert werden. Achtzig Prozent der Patienten waren Männer. Alle wollten von ihr behandelt werden. Alle wollten, dass sie ihnen in die Augen schaute.

Der Vormittag verging schnell. - Ein Leberleiden, ein beginnender grüner Star, altersbedingte Kurzsichtigkeit, jugendliche Weitsichtigkeit: gleich zwei Dioptrien mehr - armer Bub, war erst fünfzehn Jahre alt und hatte schon Aschenbecher vor den Augen. Sieben weitere Patienten waren gesund und brauchten keine Brillen. Wahrscheinlich hatten sie es vorher ohnehin schon gewusst.

Zehn vor eins wartete Katrin im Cafe Melange auf den Weihnachtshund, der ja hoffentlich an einer Leine hängen und mit einem ausbruchsicheren Beißkorb ausgestattet sein würde. Die zehn Minuten bis zum vereinbarten Treffzeitpunkt brauchte sie, um Fluchtwege auszukundschaften, für den Fall, dass der Hund an keiner Leine hing und mit keinem ausbruchsicheren Beißkorb ausgestattet war.

Katrin hasste es, allein in einem Kaffeehaus zu sitzen und so zu tun, als würde sie in dem Magazin, mit dem sie ihr Gesichtsfeld abschirmte, auch tatsächlich lesen. Sie hasste es, von Männern angesprochen zu werden, von denen sie nicht angesprochen werden wollte, und nur solche sprachen sie an. Noch mehr hasste sie deren ängstlich-sündige BlickKombinationen (Augen-Busen-Beine-Augen-BusenBusen), die nach ihr verrenkten Hälse, das notgeile Gezwinkere, die lustvoll gehobenen Augenbrauen, die von der Wunschvorstellung geöffneten Münder mit den vorblinzelnden Zungen. Am meisten hasste sie die Vorstellung, dass sich manche der Männer vielleicht sogar einbildeten, sie würde deshalb allein im Kaffeehaus sitzen, um dies erleben zu dürfen.

Als sie 26 war und den Vollzug ihrer vierten gescheiterten Beziehung, jene mit Herwig, hinter sich gebracht hatte, saß sie alleine in einem Kaffeehaus und ließ sich widerstandslos ansprechen. Ihr fehlten die natürlichen Abwehrkräfte. Außerdem wollte sie Herwig dafür bestrafen, dass er so war, wie er war. Außerdem hatte sie schon sechs Monate mit keinem Mann mehr geschlafen. Außerdem hatte sie Lust - zwar nicht unbedingt danach, mit einem Mann zu schlafen, aber nach ganz normalem Sex.

Der Typ hinter den Sonnenbrillen, Georg sollte er heißen (eines der wenigen Worte, die er fehlerfrei und ohne geistigen Kraftaufwand reproduzieren konnte), war einer, den Frauen einen »Adonis« nannten, ein ewiger Tarzan-Statist, potent bis in die Zehenspitzen. Ein Typ, den es eigentlich nur auf Fototapeten geben dürfte. Wegen solcher Männer flogen Garnisonen frustrierter Ehefrauen und Mütter nicht mehr allzu kleiner Kinder jährlich nach Tunesien und ritten auf Kamelen. Manche kamen nie wieder zurück.

Damals war Katrin alles egal. Deshalb beantwortete sie selbst Fragen wie: »Warum bist du allein?«, »Wie lang brauchst du zum Fönen deiner Haare?« oder: »Was machst du sonst noch?« mit wenigen Worten, aber großer Geduld. Schließlich fragte Georg: »Was ist dein Lieblingssport?« - »Bumsen«, erwiderte Katrin (war aber nicht sicher, ob sie das Wort richtig ausgesprochen hatte, ob es nicht »Pumsen«, »Bumbsen« oder noch härter »Pumpsen« hätte heißen müssen). Jedenfalls dachte sie dabei ganz fest und genüsslich an Herwig und hätte viel dafür gegeben, wenn er in dieser Situation hätte dabei sein können. Georg schien mit dieser Antwort zwar nicht gerechnet zu haben, aber sie gefiel ihm offensichtlich. Denn er sagte verschwörerisch grinsend: »Mein Lieblingssport eigentlich auch!« und verlangte die Rechnung.

Katrin bereute es nicht. Immerhin wusste sie bald wieder, wie das am Anfang mit Herwig gewesen war und warum sie es hatte einschlafen lassen. Im Stundenhotel gab es Sekt, Erdnüsse und für jede Stellung eine Couch. Georgs Erregtheit schmeichelte ihr. Und es machte ihr Spaß, einen Mann mit exakt jener Sache glücklich zu machen, die für ihn das größte Glück bedeutete. Sie freute sich mit ihm, dass er bald kam. Sie freute sich für sich, dass er bald ging. Er schaute auf die Uhr und dürfte ebenfalls zufrieden gewesen sein. »Morgen um die gleiche Zeit?«, fragte er beim abschließenden Händeschüt- teln. »Vielleicht eine Viertelstunde später«, erwiderte Katrin. Sie fand den Gag extrem gut, beherrschte sich aber und unterdrückte ein herausplatzendes Lachen. Das Kaffeehaus war für sie jedenfalls gestorben. Georg sowieso.

Und die Sache mit dem Weihnachtshund wohl ebenfalls. Der Typ hatte bereits zwanzig Minuten Überzeit, das sollte genügen. Katrin hatte den Termin somit zwar erfolglos, aber heil überstanden. Draußen regnete es gefrierend. In der Ordination blühten ihr an diesem Tag noch sieben Patienten. Am Abend konnte sie eventuell mit Freunden ins Kino gehen.

In der verbleibenden Mittagszeit verspürte sie den dringenden Wunsch sich zu belohnen. Zum Glück war es nicht weit zum nächsten italienischen Schuhgeschäft. Die Menschen auf der Straße bildeten gefrierende Regensäulen. Vor der überdachten Punschhütte wand ein Weihnachtsmann seine nasse Mütze aus. Daneben lag ein eingerollter großer Hund an einer Leine. Die Leine war gespannt. Am anderen Ende stemmte sich jemand wie ein Surfer im Tornado dagegen. Es gibt schon verrückte Bilder, dachte Katrin.

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