16. Dezember

»Was macht das Küssen?«, fragte Paula und legte ihren Arm auf Max' Schulter. Es war Sonntag Vormittag. Draußen regnete es Peitschenhiebe. Die Bürger des Landes wurden wieder einmal klimatisch dafür bestraft, dass sie im Wohlstand lebten und trotzdem unzufrieden waren.

Max fehlte nur noch eine Woche zur Flucht vor dem geheuchelten Szenario Weihnachten, der monströsen Produktmesse der Würdenträger und Schlitzohren aus Wirtschaft und Religion. - Eine Woche noch bis zur Reise auf die Malediven, wo angeblich genau jene Sonne schien, die hier seit Monaten vermisst wurde. Max war aufgeregt. Aber nicht deswegen.

Bei Paula gab es ekelhaften Tee aus 26 unbekannten Kräutern, die gleichzeitig 26 vor dem Ausbruch stehende unbekannte Krankheiten niederkämpften. Paula war Apothekerin. Ihre Kunden bekamen Medizin, ihre Freunde Heilmittel. Max war einer ihrer besten Freunde. Unter drei Tassen Spezialtee ließ sie ihn nicht gehen.

Was das Küssen machte? - »Es graust mir noch immer«, gestand Max. »Kannst du nicht endlich einmal ein anderes Wort als >grausen< verwenden?«, fragte Paula. Konnte er nicht. Es gab keines, das den Zustand des Küssens für ihn besser beschrieb. »Und was macht die Liebe?«, fragte Paula. »Du hast eine, stimmt's?« - »Ich hätte eine«, erwiderte Max. »Das heißt, du hast sie noch nicht geküsst«, sagte Paula. Das war richtig. »Und sie weiß auch nichts von ihrem Glück, von dir noch nicht geküsst worden zu sein.« Das war ebenfalls richtig. »Und du wirst ihr dein Problem auch hoffentlich nicht verraten.« Das war falsch.

Max nahm einen kräftigen Schluck Tee, um genügend Bitterkeit im Mund zu haben, um zu verkünden: »Heute sage ich es ihr.« - »Bist du wahnsinnig?«, fragte Paula. »Tu's nicht. Das versteht keine Frau, die nicht bereits unsterblich in dich verliebt ist.« - »Ohne Kuss wird sich niemals eine unsterblich in mich verlieben«, erwiderte Max. »Wenn du es ihr sagst, nicht einmal sterblich«, meinte Paula. Dieses Thema hatten sie schon öfter durchdiskutiert. Es ließ sich nur leider nicht ausdiskutieren. Es war so wie mit dem Huhn und dem Ei. Was beendete eine Beziehung mit Max zuerst: das Eingeständnis oder der Kuss?


Paula durfte sich vor dem Beginn der Freundschaft mit Max selbst zu dessen Kuss-Opfern zählen. Er war ihr Kunde. Ein Jahr war er ihr nicht aufgefallen. Er konnte nichts dafür, Paula sah während ihrer Arbeit in der Apotheke keine Männer, nur deren Rezeptscheine. Eines Tages war ein spannender darunter (Rezeptschein). Da musste sie eine Tinktur gegen eine Blechdosenallergie zusammenmischen. Beim Aushändigen beugte sie sich über das Verkaufspult und flüsterte dem Kunden ins Ohr: »Vergessen Sie den Dreck, der hilft nichts. Greifen Sie einfach keine Dosen mehr an.« - »Das geht nicht, mein Hund verhungert mir. Er isst nur Wildbeuschel aus der Dose«, erklärte Max. Da sah sie ihn an. Und er gefiel ihr. Er sah auf selbstsichere Weise unbeholfen aus, das sprach ihr Helfer-Syndrom an. Und sie gefiel ihm ebenfalls - natürlich rein optisch, wie das bei Männern eben so funktioniert. Sie war groß, hatte ein schmales Gesicht und Augen, Brauen, Haare und Haut wie Winnetous Schwester. Vermutlich war sie Medizinfrau und die Arbeit in der Apotheke ein zeitgemäßer Kompromiss.

»Vielleicht haben Sie ein anderes Problem, vielleicht wollen Sie ihm keine Dosen öffnen«, meinte sie. »Stimmt, mir wäre lieber, er würde sie sich selber öffnen«, erwiderte Max. »Aber er kann aus eigener Kraft nicht einmal Augen und Mund öffnen.« Auf diese Weise wanderte das Gespräch von der menschlichen Allergie zur Hunde-Psychologie.

Alibihalber ließ sich Max schließlich eine Salbe ihrer Wahl verabreichen. Da diese nicht half, musste er ein paar Tage später wiederkommen. Der Vorgang wiederholte sich, die Salben wurden immer nichtsnutziger, die Besuche immer häufiger, die Dialoge gewannen an (medizinischer) Vertraulichkeit und an Volumen. Der Ort des Treffens wurde von der Apotheke in das benachbarte Kaffeehaus und von dort in eine der beiden Wohnungen verlegt. Die Zeit der Zusammenkünfte verschob sich in Richtung Abend- und Nachtstunden.

Im Kerzenlicht mutierte Paula vollständig zu Winnetous Schwester. Ihre Augen funkelten indianisch, ihre Arme und Beine waren schlank, sehnig und muskulös, ihre naturgoldbraune Haut roch nach wildem Honig. (Es war eine Heilkräuterölmischung gegen noch unbekannte Gelenksentzündungen.) Paulas einziger Makel: Sie hatte nicht nur einen Mund, sie hatte einen großen Mund mit breiten Lippen, die Max immer näher rückten und vor denen er sich langsam zu fürchten begann. Die Worte, die diesen Mund verließen, waren streng vertraulicher heilpädagogischer Natur. Paula vermittelte Erotik medikamentös. Sie hauchte ihm Tipps zur Bekämpfung jeder nur möglichen Krankheit zu und ließ dabei keine Körperregion unerwähnt.

Max verliebte sich rezeptlos heftig und ohne Nebenwirkung in beinahe alles an ihr. Nur der übermächtige Mund war ihm im Weg. Paula bemerkte seine abschweifenden Blicke und seine ausweichenden Gesten und deutete sie als Versuch, die Begierde nicht zu plump und ungesteuert auf sie loszulassen. Diese unübliche Art von männlichem sexuellem Intellekt, von Beherrschtheit, machte Max für sie ganz besonders anziehend. Später gestand sie ihm, dass sie in dieser Situation auf Küsse verzichtet hätte, dass seine Berührungen stimulierend genug gewesen waren, dass er einfach nur hätte tun sollen und alles wäre gut gegangen. Wahrscheinlich wären sie heute verheiratet und hätten halbwüchsige Medizinmänner und -squaws daheim, die auf Blechdosen allergisch waren.

Stattdessen brach er die letzte Phase davor ab (die des gegenseitig stockenden Zuatmens) und eröffnete ihr: »Ich muss dir noch etwas gestehen. Am besten, ich sage es dir gleich, damit du dir eine unangenehme Überraschung ersparst ...« Schon damit hatte er einen beträchtlichen Teil seiner Aura eingebüßt. Dann kam: »Ich kann nicht küssen, mir graust davor, mir wird schlecht.« Das brachte Paulas Blut schocktherapeutisch unter den Gefrierpunkt. Fehlte nur noch (und folgte sogleich): »Das hat aber wirklich nichts mit dir zu tun«, eine der unverschämtesten Standard-Lügen der Liebesgeschichte. Sie warf ihn bei Paula zurück an den Start, zum ersten Auftritt in der Apotheke, als er nicht mehr Ausstrahlung besessen hatte als das von ihm vorgelegte Rezept.

»Sage nie wieder einer Frau, die du begehrst, dass du sie nicht küssen kannst«, riet ihm Paula Monate später, als sie Freunde geworden waren. Diesen Satz hörte er von da an bei jeder Begegnung und oftmals auch telefonisch dazwischen. Seine bevorzugte Antwort lautete: »Okay. Ich lege also meinen ganzen Charme in die Worte danach: >Liebling, es war wunderschön mit dir und ich kenne eine gute Putzerei.<«


Sonntag Vormittag bei Paula und der dritten Tasse 26-Kräuter-Tee - einer magenfreundlichen Grundlage für das Thema Küssen - ging man die Ausgangssituation vor dem bevorstehenden Treffen mit Katrin und die mögliche Entwicklung noch einmal Punkt für Punkt durch. Max ließ Paula reden und meldete sich nur mit dringlichen Zwischenfragen zu Wort. Er hatte das Gefühl, es tat ihr gut, über fremde Liebesangelegenheiten zu sprechen. (Ihre eigene Beziehung zu Sami hatte das Prädikat: »Wortlos intakt bis in alle Ewigkeit«, worunter sie nicht einmal zu leiden schien, denn auch dafür fehlten die Worte.) Nun fand Paula für ihr ausgeprägtes Helfer-Syndrom endlich einmal wieder ein breites Betätigungsfeld vor.

Hier nun ihre verschriebenen Anwendungen, Indikationen und Dosierungen im Fall Katrin:

1) Max durfte ihr nur ja nichts von seiner KussÜbelkeit verraten.

2) Um dies länger durchhalten zu können, durfte er sie natürlich nicht küssen. Einwand von Max: »Ein Kuss ist aber schon überfällig.« Dazu Paula:

3) Er musste ihr eben das Gefühl geben, dass ein Kuss für ihn etwas so Besonderes sei, dass er es noch hinauszögern wolle. Denn: »Dafür sammelt man bei Klassefrauen Pluspunkte, das steigert ihr Begehren«, lehrte Paula. Frage von Max: »Darf ich andere Dinge machen?« Dazu Paula:

4) Unbedingt notwendig: Ihre Hände nehmen, streicheln, einbetten, reiben, halten, drücken. Sie an den Armen streicheln. Zwickerbussis an ihrer Nase. Leicht über die Wange streichen. Ihr übers Haar fahren. Sie kurz an den Schultern nehmen.

5) Gerade noch erlaubt: Mit seinen Füßen ihre berühren. Zart ihre Knie anfassen. Seine Hand einmal flüchtig über den Oberschenkel streifen lassen. Andeutungen von Umarmungen. Einmal kurz ihren Nacken kraulen. Bei der Verabschiedung ihr Gesicht in beide Hände nehmen und/oder sie im Stehen einmal kräftig umschlingen und fest an sich drücken. Ganz zum Schluss ein kurzer inniger Kuss auf den Mund mit halb geöffnetem Mund. »Schaffst du das?«, fragte Paula. »Ich glaube schon«, erwiderte Max tapfer und spülte einen Schluck Tee nach.

6) Nicht erlaubt: Liebkosungen, die man gemeinhin erst nach dem ersten Kuss tat. Ihr über die Hüften streichen. Ihr an irgendeiner Stelle unter das Gewand greifen; auch nicht an den Pulloverärmeln oder am Halskragen. Ferner verboten: längerer Aufenthalt der Hände auf ihren Oberschenkeln. Berührungen der Brüste. »Nicht einmal flüchtig?«, fragte Max. »Nein!«, erwiderte Paula streng. Grundsatzfrage von Max: »Und was ist, wenn sie die Initiative ergreift?« Dazu Paula:

7) Liebevoll abwehren und gleichzeitig Persönliches mit ihr zu reden beginnen. Er sollte ihr am besten ein paar nette Dinge ins Ohr flüstern, so konnte er auch unverdächtig seinen Mund von ihrem fern halten. Er sollte sagen, dass es so schön mit ihr sei, dass er sich so wohl fühle, dass er sich alles Mögliche mit ihr vorstellen könne. »Verbalerotik statt küssen?«, fragte Max. »Besser als küssen und kotzen«, meinte Paula. Grundsatzfrage von Max: »Und wo soll das hinführen?« Dazu Paula:

8) Sie würde sich immer stärker in ihn verlieben. Dabei sammelte sie immer mehr Immunkräfte gegen seine Kuss-Unverträglichkeit. Die sexuelle Spannung würde immer größer werden und vielleicht ginge dann auch sogar einmal Sex ohne Kuss, so etwa in einem halben Jahr. Klassefrauen hatten diesbezüglich viel Geduld, meinte Paula.

9) Kurzum: Er musste Zeit gewinnen, ohne die Nerven zu verlieren. Wenn sie dann einmal ein paar Wochen intensiv zusammen waren, konnte er es ja einmal probieren. Vielleicht war er dann auch schon so sehr verliebt, dass ihm das Küssen keine Problem mehr bereitete.


Einwand eins: »Ich bin schon jetzt verliebt«, sagte Max. Einwand zwei: »Ich will Sex mit ihr.« Einwand drei: »Außerdem bin ihr eine Erklärung schuldig.« Er erzählte Paula von der Trainingsaffäre mit Natalie und dass er dies Katrin als »unkomplizierte sexuelle Beziehung« verkauft hatte. Dazu Paula: »Das war sehr, sehr dumm! Sex mit einer anderen ist am Anfang unverzeihlich. Sag ihr, dass du Natalie erfunden hast, um dich interessant zu machen.« - »Das schaffe ich nicht, das wäre mir zu peinlich«, gestand Max. »Dann kann ich dir nicht helfen, mein Lieber«, schloss Paula, klopfte Max dreimal auf die Schulter und signalisierte ihm damit, dass sie mit ihrer therapeutischen Gebrauchsanleitung am Ende war.


Als Max heimkam, lag Kurt unter seinem Sessel und schlief. Das änderte sich zwangsläufig, als sie sich gemeinsam auf den Weg machten, Katrin zu besuchen. Kurt wollte zwar nicht, aber er wurde ja nie gefragt, immer gleich gezogen und geschliffen. Bereits im Stiegenhaus verließen ihn die Widerstandskräfte. Draußen juckte stacheliger Regen auf seinem Deutsch-Drahthaar-Fell und ein hässlicher Nordwind blies gemein gegen seine wetterdurchlässige Schnauze. Außerdem war es unerträglich kalt im Esterhazypark. Andere, artgerecht gehaltene Hunde trugen im Winter einen Bauchschutz. Kurt natürlich nicht, seinem Herrl war das zu peinlich. Deshalb musste Kurt frieren. Er war leider zu müde, um einen entsprechenden Gerichtshof zu bemühen.

Die Wohnung befand sich im zweiten Stock. Kurt stieg freiwillig die Treppen hinauf. Er brauchte dringend einen Gegenstand aus möglichst rauem Stoff, an dem er sich seinen feuchten Rücken abreiben konnte. Die Tür öffnete sich. Die Frau roch nach wiehernder Leberkäsesemmel und kam ihm persönlich bekannt vor. Der Boden ihrer Behausung war in einem desaströsen Zustand, der Tierschutzorganisationen wachgerufen hätte. Er bestand aus nicht geheizten Fliesen, auf denen nichts lag, das nach einer sinnvollen Abreibung aussah. Um zum ersten (und einzigen) Teppich zu gelangen, musste Kurt zwei Räume abtasten und zwei weitere durchstöbern. Vorteilhaft war, dass über das im hintersten Winkel aufgespürte bescheidene Stoffviereck ein Bett ragte, unter dem er sich verkriechen konnte. Als Max mit erstaunlicher Verspätung fragte, ob er ein Tuch haben könnte, um dem Hund den Dreck von den Pfoten und vom Fell zu wischen, war der Juckreiz am Rücken bereits gestillt und der Halbschlaf eingekehrt. Da sich nichts mehr rührte, war Kurt hier offenbar ohnehin kein Thema. Folglich schlief er bis auf Widerruf.


Max vergaß innerhalb eines Blickkontaktes, was ihm Paula eine Stunde lang einzutrichtern versucht hatte. Es gab Blicke, die entschieden sofort, was folgen musste. Katrin lehnte mit leicht hinausgedrehter Hüfte und überkreuzten Beinen am Türstock. Max war klar, dass sie die Frau war, auf die er sein Leben lang gewartet hätte, hätte er das Zeug dazu gehabt, ein Leben lang auf eine Frau zu warten, die er nicht kannte. Sie steckte in einem eng anliegenden dünnen schwarzen Pullover, der erst unter den Knien, wenn überhaupt, endete. Wahrscheinlich war der Pullover übrigens ein Strickkleid.

Die Stimme sagte: »Hallo Max, schön, dass du gekommen bist.« So ein Gesicht suchten sie für flippige Pariser Modekataloge. Die professionell zerzausten kurzen Haare hatten soeben eine schräge Frisurmesse gewonnen. Die Augen wurden als unerschwingliche Markenprodukte vor einem Elitepublikum zur Schau gestellt. Aber der Blick daraus war über das perfekteste Werbedesign erhaben. Er war offen, scharf, lebendig, echt, fordernd - und auf Max gerichtet. Es war kein »Zöger-den-Kuss-noch-wochenlang-hinaus-dann- gewinnst-du-an-Charisma«-Blick. Es war auch kein »Zöger-den-Kuss-noch-ein-paar-Sekunden-hinaus- dann-steigt-meine-Achtung«-Blick. Es war ein »Küss-mich-sofort«-Blick, ein »Küss-mich-auf-der- Stelle-und-höre-nie-wieder-auf«-Blick.

Max küsste Katrin auf der Stelle und hörte sofort wieder auf. Er kannte die Mischung aus ungestümem Verlangen und traumatischem Ekel. Aber er kannte sie nicht in dieser Intensität. Der Kuss war anders als jeder bisher überstandene. Er war gewollt, von ihm selbst erzwungen und gesteuert. Seine Zunge war es, die ihre berührte und umhüllte, nicht umgekehrt wie sonst. Es gab keinen Druck dagegen, nur Verschmelzung. In ihrem Mund war es warm, weich und wohlig.

Max empfand Lust. Er wollte Katrin gerade seine Arme um den Hals legen. Er wollte sich an sie schmiegen, wollte beide Körper auf möglichst viele Berührungspunkte bringen und in dieser Stellung fixieren, wollte weiter küssen, bis ihnen die Luft ausging, bis sie Wasser brauchten oder zu verhungern drohten.

Doch dann, nach dieser Zehntelsekunde harmonischer Kussewigkeit, sprang ihm ein Befehl ins Gehirn, der dazu da war, einen Gedanken zu verhindern. Er lautete: Nur jetzt nicht an das Gegenteil denken, nicht an die fette Sissi. Und schon startete sie in ihm hoch und presste ihm imaginäre drei Finger in den Rachen. Er musste den Kuss sofort abbrechen und sich von Katrin losreißen, um das Ärgste zu verhindern.

Nun kam das Zweitärgste. Während er seinen bis zum Hals stehenden Übelkeitsspiegel abzusenken versuchte, schaute ihn Katrin an. Eine Serie folternder Blicke stach auf ihn ein: ein in ausgelieferter Ahnungslosigkeit harrender; ein in der Spannung zwischen unabdingbarer Hingezogenheit und rüder Abgewiesenheit verstorbener; ein rasche und lückenlose Aufklärung einfordernder; ein zur sofortigen Wiedergutmachung aufrufender; und ein letzter Blick, ein den unbegreiflichen Abbruch nicht wahrhaben wollender.

Danach schloss sie die Augen, rückte ihm wieder näher und strich mit ihren Fingern über seine Wangen. Sie verlangte nach einem zweiten Kuss, der die beklemmende Sequenz des weggeworfenen ersten Kusses wegen übertriebener Unlogik vergessen lassen sollte.

Bevor sich ihre Lippen berühren konnten, drehte Max seinen Kopf zur Seite. Er wusste nicht, wann er sich für eine Geste jemals mehr geniert und gehasst hatte als jetzt für diese. »Kann ich ein Tuch haben?«, fragte er beinahe stimmlos. »Ich muss dem Hund die Pfoten und das Fell abwischen, sonst macht er alles dreckig.« - Danach war es still. Dazu hatte Katrin nichts zu sagen.

»Willst du gehen?«, fragte sie ihn eine Ewigkeit später. Dazwischen war nichts. Kein Wort, kein Blick, keine Regung. Oder? Oh doch, natürlich, sie hatte ihm die Wohnung gezeigt. Er hatte sie vermutlich darum gebeten. Die Wohnung war groß, hell und möbliert, glaubte er sich nachher erinnern zu können. Ob und worüber sie sich unterhalten hatten, wusste er nicht mehr.

»Nein, ich will noch nicht gehen. Ich will dir etwas erklären«, erwiderte er angespannt ruhig, wie ein zynischer Lehrer, der seinen Beruf verabscheut, weil er den Stoff nicht vermitteln kann. Er nahm sie bei den Schultern, um im Falle der Unwirksamkeit seiner Worte mittels Schütteln einen Umschwung herbeiführen zu können: »Katrin, mir g...« - Er schluckte und würgte den Satz hinunter. (»Kannst du nicht endlich einmal ein anderes Wort als >grausen< verwenden?«, hörte er Paula fragen.) »Mir tut es nicht gut, wenn ich küsse.« - Für den Missklang dieses Satzes haftete Paula mit dem Wert der Apotheke, dachte er.

»Dir tut es nicht gut?«, fragte Katrin, vielleicht um die Aussage mit eigener Stimme ein kleines Stück aus der Irrealität zu ziehen. Ihr Blick war mit einem Schleier überzogen, als hätte sie sich Vorhänge umgehängt, um die Augen zu schützen. »Dann tu's nicht«, sagt sie. »Niemand zwingt dich dazu.« Das klang kosmetischer als ein Vorwurf. Jetzt war sie weit entfernt von ihm, stand gesichtslos wie ein kühles Modell vor einem anonymen Betrachter. Sie hat »küssen« mit »lieben« verwechselt, spürte Max. Alle Frauen verwechselten küssen mit lieben, das war sein Problem.

An der Tür klingelte es, beide erschraken, für beide war der Schreck erlösend, endlich konnten sie ihre Erschrockenheit ausleben. So was passierte normalerweise nur in Filmen, die noch rasch gut ausgingen oder in einer endgültigen Katastrophe enden wollten. Im konkreten Fall musste der Regisseur übergeschnappt sein: Denn Hugo Boss junior (oder ein als solcher verkleideter Tennislehrer) stellte einen Baum von Orchidee vor der Tür ab, trat ein und fragte: »Störe ich?« Dagegen klang »Mir tut es nicht gut, wenn ich küsse« wie ein Hamlet-Zitat, dachte Max.

Der Mann schob ihm unter dem Decknamen »Au- relius« eine makellos flache hornige Hand entgegen. Sein kantiges Gesicht drehte sich über die Schulter zu Katrin, um einer weinerlichen Miene zu gestatten, sich bei ihr zu entschuldigen, davon ausgegangen zu sein, dass sie für diese Stunde (er blickte mit den Zähnen voran auf eine goldene Armbanduhr) hier ein Treffen vereinbart hatten, um anschließend ins Kino zu gehen. »Ich habe dir eine E-Mail geschickt«, begründete er. »Du hast nicht geantwortet«, begründete er. »Das Tor war offen«, begründete er. »Da dachte ich mir ...«, begründete er.

»Schön, dass du gekommen bist«, sagte Katrin wie ein Tonband. »Ich war ohnehin gerade dabei zu gehen«, vervollständigte Max im Gleichklang. Mit dieser spektakulären Lüge hatte er seine Niederlage freiwillig besiegelt. Als guter Versager reichte er Katrin so warm wie möglich die Hand und quetschte ein beinahe geschmunzelt taktvolles »Dankeschön« heraus. Im Esterhazypark wünschte er sich, wie eine Herde frustrierter Wölfe losheulen zu können. Doch er musste an Paulas Gesicht denken und dabei lachen.


Aurelius durfte nicht lange bleiben. Katrin erlitt Sekunden, nachdem Max die Wohnung verlassen hatte, einen heftigen Migräneanfall, der sich noch verstärkte und in Schreikrämpfe überging, als ihr Aurelius vorschlug, neben ihrem Bett sitzen zu bleiben, bis sie sich besser fühlte. Nach einer Viertelstunde hatte sie ihn endlich so weit, dass er einsah, ihr nicht helfen zu können, und ging. Mit dieser Hinauswurf-Leistung konnte sie sich einige Zeit über die erlittene Enttäuschung hinwegtrösten.

Dann spürte sie, wie ihr die Bitterkeit des KussErlebnisses hochstieg. Sie beschloss, nicht davor zu flüchten. Sie gab vor sich zu, in Max hoffnungslos verliebt zu sein. Aber sie schwor sich, das Wort »hoffnungslos« wörtlich zu nehmen und ihm keine Chance mehr zu geben, ihr näher zu kommen. Zur Bestätigung steckte sie Telefon-, Fernsprech- und Computer-Kabel aus.

Um sich in ihrem Unglück noch professioneller zu fühlen und gewissenhafter zu suhlen, legte sie sich ins Bett, drehte das Fernsehgerät auf und surfte durch die Kanäle. Bei einer Dokumentation zum Thema »Früherkennung und wirksame Methoden gegen Hepatitis E« blieb sie hängen. Das war ein würdiger Ausklang dieses Abends, dachte sie. Beim fünften Hepatitis-E-Patienten, der über seine Erfahrungen berichtete, gönnte sie sich den Luxus einzuschlafen.

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