Am Krampusvormittag ging der morgendliche gefrierende Regen in Schneeregen, dieser in Regenschnee und Letztgenannter in Schneeschauer über. Zu Mittag ging der Schneeschauer in Schauer über, der Schauer wenig später in Regenschauer, der Regenschauer in gefrierenden Schneeschauer, dieser in Graupel, der Graupel in Nieselgraupel, welcher via Graupel zu Schneeschauer zurückkehrte. Am späten Nachmittag hörte der Niederschlag auf und es bildete sich bei um den Gefrierpunkt schwirrenden Temperaturen beständiger Nebel mit einer Obergrenze von ungefähr 11.500 Metern. Darüber schien angeblich die Sonne.
Immerhin erhielt Max eine zweite Chance, die Frau zu treffen, die Anstalten machte, Kurt über Weihnachten zu übernehmen. Auch wenn wenig Hoffnung bestand, dass daraus tatsächlich etwas werden könnte, durfte Max die Chance nicht auslassen. Denn er hatte zwar genügend Freunde zum »täglich Pferdestehlen«, aber keine zum Kurt- zweimal-täglich-ins-Freie-Schleifen. Seine Eltern flogen, wie jedes Jahr, über die Feiertage zu den Großeltern nach Helsinki. Die lebten dort, weil es vom Wetter her auch schon egal war. Sie hätten Helsinki jedenfalls nie verlassen, um Weihnachten in Wien zu feiern, nicht wegen der Eltern, nicht wegen Max und schon gar nicht wegen Kurt, den sie nur aus Erzählungen kannten. (Eigentlich nur aus einer Erzählung: Er bewegte sich nicht.)
Max hatte keine Geschwister. Max hatte niemanden, der ihm einen Gefallen schuldig gewesen wäre (außer Kurt). Tierheime schieden aus, dort würde Kurt einschlafen und nicht mehr aufwachen. (Warum schieden Tierheime eigentlich aus?) Und per Internet hatte sich ebenfalls keine weitere Möglichkeit auf getan, den Hund anzubringen. Die Leute wollten einzig wissen, warum Kurt Kurt hieß und ob das etwas mit Kurt aus dem legendären »In den Wind gesabbert« in »Horizonte« zu tun hatte.
Noch am Vorabend hatte sich Max mit einer romanverdächtig ausführlichen E-Mail für den geplatzten Termin entschuldigt. »Sie müssen wissen«, hat er der Interessentin geschrieben, »Kurt ist ein eher bequemer Hund. Es gibt Stunden, da geht er nicht gern ins Freie. Gestern Mittag war eine dieser Stunden. Und wenn er nicht gern ins Freie geht, dann geht er nicht ins Freie. Da ist er in sich konsequent. Kurt ist außerdem ein bisschen wasserscheu und gestern hat es geregnet. Deshalb sind wir nicht gekommen. Wir sind zwar von zu Hause weggegangen, aber wir sind nicht angekommen. Das tut uns leid. Das heißt: Mir tut es leid. Aber Kurt ist wirklich ein guter Hund. Und vielleicht wollen Sie sich ihn doch einmal ansehen. Vielleicht morgen. Morgen wird es bestimmt nicht regnen. Morgen geht Kurt sicher gern außer Haus, das heißt: Morgen geht er sicher außer Haus. Wir kommen auch gerne zu Ihnen, wenn Ihnen das lieber ist. Sie müssen uns nur sagen, wann wir wohin kommen sollen. Wir können uns das einteilen. Herzliche Adventgrüße senden Max und Kurt.« - Den letzten Satz korrigierte er und schrieb: »Mit freundlichen Grüßen, Max.«
Die Frau, die den Hund theoretisch übernehmen wollte, hatte am frühen Morgen geantwortet: »Okay. Schauen Sie mit Ihrem Hund beim Augenarzt Doktor Harrlich vorbei. Dort arbeite ich.« Und sie hatte die Adresse angegeben. Und die Uhrzeit: 15 bis 17 Uhr. Und sie hatte angefügt: »Bitte befestigen Sie Kurt an einer Leine und statten Sie ihn mit einem Beißkorb aus. Patienten könnten sich sonst fürchten.« Und sie hatte hinzugefügt: »Bitte überprüfen Sie den Beißkorb auf mögliche Durchlässigkeit. Es grüßt Sie: Katrin.«
Den Vormittag verbrachte Max im Einser-Büro und erstellte die »Max'sche Kreuzworträtselecke«. Um Zeit zu sparen, griff er auf eine Rätselecke vom August des Vorjahres zurück. Abkürzungen waren ja zum Glück zeitlos. Zu Mittag gab er im Zweier-Büro das aktuelle Kinoprogramm ein. Am frühen Nachmittag besorgte er einen Beißkorb. Eigentlich hätte er Kurt gern dabeigehabt, wegen der Größe. Aber es schneite leider und regnete.
Exakt zwei Minuten vor fünf hatte er die Tür der Ordination des Augenarztes Doktor Harrlich erreicht. Es hatte buchstäblich in letzter Sekunde sowohl zu regnen als auch zu schneien aufgehört. Max fühlte sich psychisch angeknackst und auch physisch schwer gezeichnet. Stufensteigen mit Kurt hieß, jede Stufe fünfmal zu steigen. Der Arzt residierte im zweiten Stock. Kurt fand zwar in jeden Fahrstuhl, aber er verließ kaum einen mehr; Feuerwehreinsätze dieser Art waren erfahrungsgemäß teuer. Jedenfalls lag Kurt, als sich die Tür öffnete, wie durch ein Wunder bei Fuß. Seine müde Medium-Schnauze hing in einem sportlichen XXLBeißkorb. So verwegen hatte ihn Max noch nie gesehen. Für die nächste Folge von »Treue Augenblicke« bot sich »Als Kurt seinen ersten Beißkorb trug« an.
Katrin erlebte die folgenden Minuten wie eine Szene aus einer Filmkomödie, in der ein verwirrter Außendienstmitarbeiter einer Elektrogerätefirma bei seinem ersten Auftrag einer Kundin einen Staubsauger als Nähmaschine verkaufen wollte und zu Demonstrationszwecken eine Gefriertruhe mitgebracht hatte. Sie öffnete die Türe und fing ein überfallsartiges »Guten Tag, mein Name ist Max und das ist Kurt« ein. Dabei zeigte der junge Mann auf eine dunkelbraune eingerollte Masse zu seinen Füßen, als deren Mittelpunkt das Drahtgestell eines Beißkorbes erkennbar war.
»Kurt beißt niemals«, versicherte der Mann überraschend traurig. »Er ist äußerst gutmütig. Er mag Menschen, er kann es vielleicht nicht so zeigen. Er ist ein bisschen schüchtern. Ihm macht auch das Wetter zu schaffen. Einmal Regen, dann wieder Schnee, dann wieder Schneeregen. Für so einen Hund ist das eine ständige Umstellung. Kurt ist nämlich sehr sensibel und reagiert ...«
»Und ich heiße Katrin«, unterbrach Katrin. »Angenehm«, erwiderte er, ein wenig irritiert. »Kommen Sie weiter«, sagte sie. Er zögerte, beugte sich zum Haufen Hund hinunter, als müsste er sich dort erst eine Eintrittsgenehmigung erteilen lassen. Dann legte er die Leine nieder und betrat den Warteraum. - »Der Hund kann auch hereinkommen«, sagte Katrin. »Danke, es schadet ihm nicht, vor der Türe zu liegen«, erwiderte der Mann. Katrin hatte das Gefühl, dass er es mit der Zucht ein bisschen übertreibe.
»Wenn ich ihn nehme, dann möchte ich ihn vorher einmal austesten«, sagte Katrin. - »Ehrlich«?, fragte der Besitzer. Er dürfte ein Nervenleiden in der rechten Schulter haben, bemerkte Katrin. »Wie oft muss er tagsüber gehen?«, fragte sie. »Zweimal, aber ...« Er zögerte. »Was aber?«, fragte Katrin. »Aber er kann es sich nicht merken«, erwiderte der junge Mann. - »Und schläft er in der Nacht?« - »Jaaa!«, rief der Besitzer und ballte die Fäuste wie ein Tennisstar, der sich wieder ins Spiel gebracht hatte. »Und was frisst er?« - »Jeden Abend zwei große Dosen Wildbeuschel«, erwiderte der junge Mann. »Er hat es gern, wenn man ihm die Schüssel unter die Schnauze legt.« Sein Herrl hatte gepflegte Zähne und seine Augen dürften gesund sein, sie konnten sogar lachen, bemerkte Katrin.
»Und was spielt er gern?« - »Verstecken«, erwiderte der Mann nach längerer Nachdenkpause. »Und >Blinde Kuh<, die Kuh ist immer der Mensch.« - Er hatte einen seltsamen Humor. - »Und woran muss man sonst noch denken, wenn man ihn hat?« - »Am besten an gar nichts«, entgegnete der Besitzer. »Man darf nur nicht auf ihn vergessen.« - »Klingt ziemlich einfach«, sagte Katrin. »Ja, er ist ein guter Hund«, antwortete der Mann nervös. »Ich werde mir die Sache überlegen und gebe Ihnen in den nächsten Tagen Bescheid«, sagte Katrin. »Das wäre fein«, erwiderte der Hundebesitzer. »Und ich würde ihn gern einmal auf den Beinen sehen«, sagte Katrin. - »Sicher«, sagte der Mann und lächelte bitter. Dann verabschiedete er sich. Der eingerollte Haufen vor der Tür hatte sich keinen Millimeter verschoben. »Er ist ein guter Hund«, wiederholte der Mann und zog kräftig an der Leine. Er hatte leicht abstehende Ohren - der Mann. Vom Hund hatte Katrin keinen Eindruck. Das war der beste Eindruck, den sie sich hatte vorstellen können.