Max mochte Montage. Sie begannen gleich in der Früh. Sie kamen zur Sache. Sie forderten heraus. Sie gaben Max das Gefühl, dabei zu sein. Kein Montag ohne Max. Die Sonntage schienen auf ihn verzichten zu können. Die Montage freuten sich auf ihn. Und das beruhte auf Gegenseitigkeit.
Max war weite Strecken dieses Tages erfrischend geschäftlich unterwegs. Es war ein Tag, an dem sogar die Sonne geschienen hätte, wäre nicht eine dichte Nebelwand darunter eingeklemmt gewesen, die sich laut Prognose nur »zögernd auflösen« würde, das bedeutete etwa gegen Mitternacht. Max pendelte in seiner Arbeitszeit zwischen drei Büros, die ihm nicht gehörten, die auch nicht auf ihn warteten, die ihn aber duldeten, weil er dort beruflich tätig sein musste, um Geld zu verdienen, das sahen auch die Büros irgendwie ein. Max war Journalist, im etwas weiteren Sinne dieses Wortes. Er produzierte für die wöchentlich erscheinende »Rätselinsel« die gefürchtete »Max'sche Kreuzworträtselecke«, deren Ausfallsquote unter den Auflösern nach nur drei gemeisterten Worten bei etwa neunzig Prozent lag. Seine Spezialität waren erfundene Abkürzungen. (Zum Beispiel: Xenophonspielerin mit fünf Buchstaben. Richtige Lösung: Xphsp.)
Leider war der Job schlecht (an der Grenze zu gar nicht) bezahlt. Deshalb gestaltete Max im Büro Nummer zwei einer Wiener Bezirkszeitung zusätzlich das tägliche Kino- und Theaterprogramm. Die Kreativität war dabei insofern begrenzt, als Max die Veranstaltungen nicht selbst bestimmen, zeitlich festlegen und auf die Bühnen und Leinwände verteilen konnte. Er schrieb das Programm vielmehr von bestehenden Vorgaben ab. Aber er machte das sehr gewissenhaft. Und es gab niemanden, der daran interessiert zu sein schien, ihm diesen Job bei dieser Bezahlung streitig zu machen.
Max' drittes und entscheidendes berufliches Aufgabengebiet betraf Kurt, seinen reinrassigen Deutsch-Drahthaar. Zumindest theoretisch. Denn in der Praxis betraf Kurt nichts. Er war dagegen immun, von irgendeiner Sache der Welt betroffen zu sein oder zu werden. Max verfasste im Büro Nummer drei für das wöchentlich, wenn auch beinahe unter Ausschluss der Öffentlichkeit erscheinende Tiermagazin »Leben auf vier Pfoten« die Hundekolumne »Treue Augenblicke«, deren Star kein Geringerer, aber auch kein Lebendigerer war als Kurt. An dieser Stelle muss zurückgeblendet werden, denn »Treue Augenblicke« hatte einen ziemlich tragischen Hintergrund.
Es war gut zwei Jahre her, als die Medien des Landes dahinter kamen, was die Leser und Seher des Landes tatsächlich am Geschmacksnerv ihres Interesses packt: Hundegeschichten. Schluss mit der Tagespolitik, dem Phrasen-Friedhof der Einfallslosen, dem Foyer der ständig schleimenden, um Wählerstimmen heischenden Mandatare und ihrer schwitzenden und geschwätzigen Reporter. Die Leute wollen wissen, was wirklich in der Welt passiert. Startkollision am Nürburgring. Sexskandal im Vatikan. Achtzig Prozent der griechischen Schafhirten sind olivensüchtig. Verona Feldbusch kauft ein Wörterbuch. - Das sind Meldungen, das sind Themen, das sind Schlagzeilen.
Und was noch viel wichtiger ist: Leser wollen unterhalten werden. Und zwar gut. Am besten köstlich. Und bitte ohne Kindergeschrei, das hat man ohnehin daheim (oder braucht es selbst dort nicht). So begann die goldene Ära der Hundegeschichten. Ein Journalist hatte damit angefangen, in einer wöchentlichen Kolumne seinen rosaweißen Zwergpudel Rüdiger zu porträtieren. Tausende Leser wurden süchtig, die Gehsteige und Promenadenwege waren bald voll von rosaweißen Zwergpudeln namens Rüdiger. Eine Rasse, die wegen chronischer Hässlichkeit bereits auszusterben drohte, schüttete unter entzückten Passantenblicken plötzlich die städtischen Laternenmaste zu und düngte Hunderte Hektar Grünland.
Chefredakteure, die nicht schliefen, reagierten sofort. Bald gab es in jeder namhaften Gazette eine prominent platzierte Hundekolumne, zumeist gleich neben dem politischen Leitartikel, um diesen ein wenig aufzulockern. Jede war ein bisschen anders angelegt. Großer Hund, kleiner Hund. Altes Herrl, junges Fraul. Herrl beschreibt Hund. Hund beschreibt Herrl (wobei Herrl für Hund Schreibarbeit verrichtet, da Hund Computer höchstens abschleckt). Fraul spricht wie Hund. Hund studiert Sexualverhalten von Fraul. Beide ziehen über Männer her. Und so weiter.
Das war der Zeitpunkt, als Max, 32, gewerbsmäßiger Studienabbrecher und frisch angelernter Polizeireporter bei der auflagenstarken liberalkonservativen Tageszeitung »Horizonte«, seine große Chance erkannte und nützte. Er mochte zwar keine Hunde. Aber er kaufte Kurt. Denn er sah die Marktlücke: Im Autoren-Rudel der Rüden und Weiberl fehlte ein Tier mit artistischer Begabung, ein begnadeter Hundekörper, der Kunststücke zu Wege bringen konnte, die zu beschreiben Millionen Lesern organisierte Tränenströme in die Augen triebe. Es war Kurt.
Max entdeckte ihn bei einem Pressetermin der Suchtgiftfahnder. Sie präsentierten ihre neuen Waffen im Kampf gegen die südostkolumbianische Drogenmafia. Kurt wurde mitgenommen, um den Medienvertretern zu zeigen, wie ein Hund aussieht, der auf Kokain anspricht. Kurt legte gleichzeitig seine Vorder- und Hinterbeine über Kreuz und bog den Körper wie eine zu leicht gespannte Hängematte zu Boden. Dazu drehte er den Kopf in kleinen konzentrischen Kreisen, als würde er die Nackenmuskulatur trainieren. Sein Maul war weit aufgerissen, die Zunge hing S-förmig heraus, die Augen waren geschlossen. »Er schläft gerade«, meinte der verantwortliche Beamte ernst wie ein Chirurg, um der verheerenden Wirkung von Kokain ein neues erschütterndes Zeugnis auszustellen.
Als Kurt gleich darauf drehpirouettenartig erwachte, als sich die Hälfte seines verknautschten Gesichtes als geöffnete Augen entpuppte, in denen dicke, kaffeebraune Glaswürfel tanzten, und als seine Abertausenden Deutsch-Drahthaare wie unter Strom in alle Richtungen drifteten, wusste Max, dass er ihn haben musste, um über ihn zu schreiben.
Da Kurt ohnehin nur ein Vorzeigemodell und aufgrund des hohen Alters (zwölf Jahre) bereits ein Auslaufmodell war und mit Drogen in Wirklichkeit überhaupt nichts am Hut hatte, erklärte sich die Polizeidirektion nach Wochen des Bettelns und aus Angst vor einer negativen Presse bereit, Kurt an den lästigen Journalisten abzutreten.
In den folgenden Wochen schlief Max zwar nachts nicht, sondern öffnete lieber Wildbeuschel-Dosen und suchte das Balli, um den röhrenden Fremdkörper aus dem Bett zu bekommen, wo dieser für den Olympischen Hundezehnkampf zu trainieren schien. Aber seine Kolumne »In den Wind gesabbert« machte ihn nach nur drei Folgen zum »Horizonte«- Star - und Kurt zum berühmtesten Hund des Landes, noch vor Hofburg-Bullterrier »Ferstl«, jenem des neuen Bundespräsidenten.
Erste Kolumne: »Wie Kurt durch drei Zähne pfeift, um sein Wildbeuschel einzufordern.« Zweite Kolumne (zur Eröffnung der Ballsaison): »Wie Kurt auf drei Beinen Linkswalzer tanzt.« Dritte Kolumne: »Wie sich Kurt in Irish Setter Alma verliebt und ihr mit Rückwärtssalti zu imponieren trachtet.«
Dann passierte etwas Schreckliches. Kurt blieb nach einer Rückwärtssalti-Dreierkombination im Park liegen und rührte sich nicht mehr. Max dachte zunächst an ein neues Kunststück. Doch nach einer Stunde war klar, dass mit dem Hund etwas nicht stimmte. - Nichts stimmte mehr. Er war tot. Es hatte ihm beim Salto den Magen umgedreht. »Er hat nicht gelitten«, schwor der Tierarzt. Max weinte dennoch. Kurt hatte immerhin sein Leben auf den Kopf gestellt.
»Kurt ist tot«, gestand Max tags darauf seinem Chefredakteur. »Nein«, erwiderte der Chef. »Doch«, wusste Max, »es hat ihm den Magen umgedreht, die Kolumne ist gestorben.«
»Nein«, erwiderte der Chef. »Es mag ihm den Magen umgedreht haben, aber die Kolumne geht weiter. Die Leser wollen sie. Besorgen Sie sich einen neuen Hund, genau den Gleichen, wir zahlen das.« - »Kurt gab es nur einmal, er ist unersetzlich«, widersprach Max kleinlaut und ärgerte sich, gerührt zu sein und gegen Tränen ankämpfen zu müssen. »Hören Sie zu, junger Mann«, sagte der Chef sehr ruhig und legte Max seine Hand auf die Schulter. »Niemand ist unersetzlich, kein Hund und auch kein Kolumnist. Also besorgen Sie sich bitte einen neuen Kurt.« Er hob die Hand von Max' Schulter, um das Gespräch für beendet zu erklären. »Auch ich bin übrigens einer der zahlreichen Liebhaber Ihrer Kolumne«, rief er ihm noch nach.
Drei Tage lang wollte Max kündigen. Am vierten wusste er, dass er auf täglich zehn Briefe, zwanzig Anrufe und dreißig E-Mails Fanpost nicht mehr verzichten wollte. Außerdem war sein Bett zu leer, um nicht schlafen zu können, wie er es bereits gewohnt war; so schlief er schlecht und träumte depressiv. Am fünften Tag suchte er Kurt II. Am sechsten Tag fand er ihn. (Am Abend des sechsten Tages schrieb er für »Horizonte« zum vierten Mal »In den Wind gesabbert«.)
Der Kynologenverband hatte ihm Zugang zum »Verein der Freunde des Deutsch-Drahthaar« verschafft. Schon die Menschen dort ähnelten Kurt I optisch sehr. Bei den Hunden war die Übereinstimmung noch größer: Jeder von ihnen konnte Kurt sein. Fünf Exemplare waren gerade auf »Herrl- Suche«. Zwei schliefen fest, einer döste, einer gähnte. Und einer - auch er schien zunächst zu schlafen und Max glaubte bereits, den »Verein der Freunde des Deutsch-Drahthaar« als Valium-Sekte entlarvt zu haben -, dieser fünfte startete aus flacher Bodenlage senkrecht in die Höhe, biss sich im Flug in den Schwanz und landete offenbar zu seiner eigenen größten Überraschung hellwach auf vier Pfoten, ein Phänomen, von dem er sich minutenlang nicht erholte. »Das ist Mythos, er kommt aus Kreta«, meinte der Züchter. »Nein, das ist Kurt und er kommt zu mir«, entgegnete Max triumphierend.
Die Geschichte nähert sich ihrer zweiten Tragödie. Kurt II alias Mythos und von nun an für immer Kurt war am Tag des Erwerbs von einer Biene gestochen worden. Der steile Sprung war sein erster und letzter, ein einmaliges Kunststück, sein einziges kräftiges Lebenszeichen. Ab diesem Zeitpunkt bewegte er sich wie Kretas Ureinwohner um zwei Uhr mittags im Juli: nicht.
Die vierte Kolumne »In den Wind gesabbert« schien noch einmal den alten Kurt wachzurufen: »Wie Kurt zum Himmel steigt und wie ein Komet zur Erde zurückkehrt.« Für Max war das ein wehmütiger Nachruf, für die Leser der vierte Teil einer glanzvollen hundeathletisch-humoristischen Serie. Den fünften Teil - »Wie selbst Kurt einmal zur Ruhe kommt« - verzieh man ihm gerade noch; jeder Kolumnist hat einmal einen Hänger. Nach dem sechsten Teil - »Wie Kurt mit geschlossenen Augen von Bungeejumping träumt« - rief ihn der Chef zum ersten Mal zu sich. Nach dem siebenten Teil - »Und Kurt bewegt sich doch« - rief ihn der Chef zum letzten Mal zu sich. Er erklärte ihm, dass Journalismus etwas mit Leben zu tun habe und dass »In den Wind gesabbert, Teil sieben« der letzte in »Horizonte« erschienene Teil gewesen sei. Im selben Atemzug lobte er Max als tüchtigen Polizeireporter.
Max kündigte am gleichen Tag und blieb die nächste Zeit zu Hause. Dort hatte Kurt bereits kampflos den Platz unter seinem Sessel erobert. Sie sprachen nicht viel miteinander. Wenn Max unbedingt Gassi gehen wollte, trottete Kurt eben mit.
Täglich langten drei Fan-E-Mails weniger ein. Nach zwei Wochen schrieb keiner mehr. Nach drei Wochen erhielt Max ein zu diesem Zeitpunkt bereits überraschendes Angebot von »Leben auf vier Pfoten«, dem vermutlich unbekanntesten Tiermagazin der Welt. Dort suchten sie einen Kolumnisten für »Treue Augenblicke«. Sie hatten an Max und Kurt gedacht. Das Herrl sollte wieder seinen lustigen Hund beschreiben. Dafür gebe es auch ein kleines Honorar. Max war gerührt und willigte sofort ein.
Das war vor eineinhalb Jahren. Von diesem Zeitpunkt an beschrieb er jede Woche die Bewegungsabläufe eines regungslosen Deutsch-Drahthaar. Er hatte sich sicherheitshalber noch nie gefragt, warum und für wen er das eigentlich tat. Vermutlich für Franz von Assisi.
Bis Montag Nachmittag hatte sich der Nebel nicht aufgelöst. Max war mit »Treue Augenblicke« fertig. Die Folge beschrieb einen Spaziergang mit Kurt im Nieselregen, die mit Abstand größte Aufregung der vergangenen Woche, denn Kurt war einer Pfütze ausgewichen.
Vor dem Verlassen des Büros überflog Max die eingelangten Mitteilungen in seiner Mailbox. Fünf Leser hatten auf sein Weihnachtsangebot, Kurt zu nehmen, reagiert. Vier fragten an, warum Kurt Kurt hieß, ob er den Namen der Hundekolumne »In den Wind gesabbert« verdanke und ob Kurt denn ähnlich ausgeflippt unterwegs sei wie der legendäre Kurt aus »Horizonte«. Die fünfte Meldung lautete: »Ich mag keine Hunde, aber ich glaube, ich würde ihn nehmen. Er muss mich nur halbwegs in Ruhe lassen. Und ich will ihn vorher sehen. Gruß. Katrin.« Diese E-Mail beantwortete Max sofort, denn er hatte das Gefühl, die beiden würden gut miteinander harmonieren. Er schrieb: »Sie können den Hund jederzeit sehen. Sagen Sie mir wann und wo. Wir kommen überall hin. Kurt freut sich schon. Gruß. Max.« Das mit »Kurt freut sich schon« war eine Notlüge.