Die Straßen waren frisch geölt vom Nieselregen, aber es half nichts. Kurt musste Max ins Büro von »Leben auf vier Pfoten« begleiten. Sie mussten die wöchentliche Kolumne »Treue Augenblicke« verfassen. Max brauchte Kurt diesmal persönlich, denn er hatte noch keine Idee, was an schriftlich Verwertbarem er seinem Deutsch-Drahthaar entlocken konnte. Er war auf jede Regung des Hundes angewiesen, auf jede seiner täglichen drei.
Kurt ging nicht gern in ein Büro, schon gar nicht im Winter, schon gar nicht, wenn der Boden nass, rutschig und dreckig war - und schon gar nicht in jenes von »Leben auf vier Pfoten«. Dort waren die Menschen in unerträglicher Weise anlehnungsbedürftig. Sie liebten Tiere so sehr, dass sie vor Freude tanzen, singen, springen und manchmal sogar weinen mussten, wenn sie eines sahen. Überhaupt wenn sie Kurt sahen. Er war ihr Lieblingstier. Denn er konnte sich nicht wehren. Es war ihm zu anstrengend. Und gegen die vielen streichelnden, abgrabbelnden, knuddelnden, grapschenden Hände der »Leben-auf-vier-Pfoten«-Mitarbeiter hätte er ohnehin niemals eine Chance gehabt. Also ließ er die Zuwendungen über sich ergehen.
Außerdem gab es dort die Siamkatze Deneuve, von der es hieß, sie sei »nur ein bisschen verspielt«, aber »gutmütig«. Auch von Kurt hieß es, er sei »gutmütig«. Die Leute wussten gar nicht, wie knapp er manchmal daran war, ihnen anhand von Deneuve das Gegenteil zu beweisen. Deneuve trieb ihn mit ihrer Verspieltheit an den Rand des Wahnsinns. Sie sprang ihn an, hängte sich an seinen Hals, schleckte ihn ab, biss ihn in den Schwanz, rieb ihren Kopf in seinem Fell und wischte sich dabei ihre abgestandenen »Sheba«-Speisereste ab. In diesen Situationen war Kurt überzeugt, dass Deneuve einmal »daran glauben« werde müssen. Ein einziger Biss in die Kehle und es würde für immer Ruhe herrschen, wusste er. Aber was, wenn er nicht punktgenau traf? Dann raste sie quietschend herum, er musste ihr nachjagen, überall Katzenblut - vor dieser Vorstellung grauste ihm. Also ließ er die Torturen über sich ergehen. Meistens stellte er sich schlafend, da wurde es Deneuve dann ohnehin bald zu blöd. Meistens schlief er auch tatsächlich ein.
Auch Max kannte angenehmere Gesellschaften als jene von »Leben auf vier Pfoten«. Die Kollegen, großteils allein stehende, nach Katzenstreu riechende Pensionistinnen mit Papageienstimmen, trauten ihm nicht. Aus ihren argwöhnischen Eulenaugen blinzelte der stete Verdacht auf Tierquälerei. Sie betrachteten jede seiner Gesten und Handgriffe Kurt gegenüber, um sofort einzugreifen und allenfalls Anzeige zu erstatten. Sie hatten Max nie verziehen, dass er sich Kurt eigens angeschafft hatte, um daraus journalistisches Kapital zu schlagen und sich eine ständige Einnahmequelle zu verschaffen. Für sie war, was er mit Kurt trieb, mit Prostitution und Ausbeutung gleichzusetzen, ja schlimmer noch, denn ein Tier konnte sich weniger wehren als ein Mensch und Kurt offensichtlich noch weniger als ein anderes Tier.
Die schreiberische Herausforderung beim Verfassen der Kolumne war so groß, dass sich Max wöchentlich wunderte, sie doch immer wieder aufs Neue anzunehmen. Das Zielpublikum (sofern man von »Publikum« sprechen konnte) waren Kinder aus ärmlichen Verhältnissen, die sich die drittklassigen Tierfotos ausschnitten, und Rentner über sechzig, die mit dem Papier von »Leben auf vier Pfoten« die Kisten ihrer Schildkröten, Meerschweinchen und Hauskaninchen auslegten. Max hatte also das Problem, nicht genau zu wissen, für wen er »Treue Augenblicke« eigentlich verfasste. Kurt, er, seine Freunde und seine Kollegen schieden von vornherein aus und Leser gab es keine.
Als Max vor dem Bildschirm saß und Kurt dabei beobachtete, wie er keine Anstalten machte, eine Regung zu zeigen, die sich beschreiben ließ (er schlief, Deneuve pfauchte im Nebenzimmer, die Türe war verschlossen), da dachte er an Katrin. Das passierte ihm seit dem gemeinsamen Birnenkuchen öfter. Sie gefiel ihm irgendwie. Das »irgendwie« dachte er sich vorsichtshalber dazu. Er wusste genau, wie sie ihm gefiel. Aber dieser Gedanke war unerlaubt. Katrin war eine Geschäftspartnerin in Sachen Kurt und Weihnachten (über die Bezahlung hatten sie eigentlich noch gar nicht geredet).
Dazu war Katrin eine Frau, in die sich Max nie verlieben konnte, weil ... Warum eigentlich nicht? - Egal, er konnte es jedenfalls nicht, er war richtig empört, dass das überhaupt eine Möglichkeit zu sein schien. Solche Möglichkeiten setzten ihn unter Druck. Außerdem hatte sie einen seltsam im Hintergrund befindlichen Freund (der keinen Birnenkuchen mochte; was freilich auf einen schlechten Charakter und mangelnde Genussbereitschaft schließen ließ). Außerdem war sie eine Frau, die man garantiert küssen musste, eine Frau, die es ohne Kuss niemals tun würde, eine Frau, an deren Mund es kein Vorbei gab, eine Frau, die sicher nie an die Liebe glaubte, ohne dabei ans Küssen zu denken. Max schüttelte sich vor dem Bildschirm. Kurt, der Platz genommen hatte, hob eine Augenbraue etwa einen halben Millimeter, um sicher zu gehen, dass er nichts versäumte. Das war noch nicht die Regung, auf die sich der neue Teil von »Treue Augenblicke« aufbauen ließ.
Aber Max musste vor sich selbst zugeben, dass es ein schöner Gedanke war, Katrin weihnachts- und kurtgeschäftspartnerschaftlich die Hand auf die Wange zu legen und ihr dann sachte übers Ohr zu fahren, ihre schwarzen Haarspitzen entlang auf den Hinterkopf, vielleicht noch ein Stück tiefer auf den Nacken. Und unter dem Pulloverkragen, wo sich ihre Haut besonders warm anfühlte, da sich dort jede Haut besonders warm anfühlte, würde er innehalten und die Augen schließen. Und - kein Kuss! Ja, das war ein schöner Gedanke.
Kein schöner Gedanke war die Hundekolumne. Kurt war fest entschlossen, auch weiterhin keinen Beitrag dafür zu leisten. Also begann Max zu schreiben. Er stellte sich seine Leserin vor und schon ging es. Er schrieb diesmal exklusiv für eine imaginäre 75-jährige Hundebesitzerin, die gerade ihre neue Lesebrille ausprobierte und rein zufällig bei »Treue Augenblicke« hängen geblieben war. Sie sollte bei der Lektüre nicht bereuen, dass sie für ihren Sehtest »Leben auf vier Pfoten« und nicht etwa das Telefonbuch gewählt hatte - das war sein Ziel.
treue Augenblicke, Teil 83
Titel: Kurt wünscht sich ein Frauerl fürs Herrl.
Text: Hallo liebe Tierfreunde, liebe Hundeliebhaber, liebe Deutsch-Drahthaar-Verbündete! Ich kann euch beruhigen. Kurt ist gesund. Er hat diese Woche besonders brav gegessen. Einmal hat er sogar Schweinshaxen bekommen, da hat er nur die Borsten übrig gelassen. Wir essen ja bei den Rindsrouladen auch nicht die Zahnstocher mit, nicht wahr. Und er war auch immer brav Gassi, er hat jedes Mal schön das Bein gehoben und weggestreckt, damit sich sein Herrl daheim das Abduschen sparen konnte. Unsere Hunde sind ja doch viel reinlicher als ihr Ruf.
Kurt war ein braver Hund. Er hat in dieser Woche kein einziges Mal gebellt. - Da könnte sich der Opa ein Beispiel nehmen, nicht wahr. Er hat viel geschlafen. Das ist gut für sein Fell, es kriegt dann einen besonders schönen Glanz. Und wir vergönnen es Kurt. Es sind ja jetzt die kurzen Tage und die langen Nächte ins Land gezogen, an denen sich Kurt gar nicht früh genug niederlegen kann, um gar nicht spät genug wieder aufstehen zu können.
Sind unsere Hunde nicht zu beneiden? Keine Weihnachtseinkäufe, keine Hektik, kein Gedränge, keine nervenaufreibenden Stunden im Verkehrsstau. Ja, an so einem grauen Dezembertag, würden wir da nicht alle gern mit unseren Vierbeinern tauschen? Ja, das würden wir. Nur, wie singt doch Reinhard May so schön: Den Kühlschrank müsste man uns schon aufmachen, wenn wir Hunde wären. Aber Spaß beiseite.« (Max biss sich in die Unterlippe, bis es weh tat.)
»Manchmal fühlt sich Kurt schon sehr einsam mit seinem Herrl. So wie Kinder Vater und Mutter brauchen ...« Max hielt inne. Konnte er das wirklich schreiben? Er blickte zu Kurt. Der lag unter einem Bürosessel und schlief. Deneuve kratzte an der Tür des Nebenzimmers. Kollegin Eleonore Königsberger, die Hamster-Päpstin von »Leben auf vier Pfoten«, beschwerte sich zwei Räume weiter (aber laut genug) über die hamsterunwürdige Hamsterhaltung in den Hamsterhandlungen und über Hamsterkäufe an sich. Ihre Stimme schien eine heisere kaukasische Saatkrähe zu imitieren. - Max hatte keine Wahl. Er musste schreiben, ohne zu denken. Er musste rasch fort von hier.
»So wie Kinder Vater und Mutter brauchen, so wünscht sich ein Hund zum Herrl ein Frauerl. Während Herrl mit ihm Gassi geht, richtet Frauerl schon das Essen her. Im Bett weiß unser vierbeiniger Liebling endlich, wo er hingehört - genau in die Mitte. Und beim Spazierengehen muss er nicht diese vielen sinnlosen Läufe beim Aportieren von leblosen Stockis unternehmen. Er läuft dann einfach zwischen Frauerl und Herrl hin und her und beide klatschen vor Freude in die Hände. Und so gibt es Dutzende Beispiele des täglichen Lebens, die uns zeigen, wie viel schöner ein Hundeleben mit Herrl und Frauerl gemeinsam ist .«
Acht Zeilen fehlten ihm noch. Er hatte das zwingende Gefühl, sich für diese Geschichte noch am selben Tag mit angenehmer Abendgesellschaft belohnen zu müssen. Da er ohnehin gerade vor dem Computer saß, wählte er den unaufdringlichen schriftlichen Weg der Kommunikation. Er schickte vier E-Mails und hoffte auf zumindest eine positive Antwort. An Rodriguez, einen gebürtigen Argentinier, den er während seines (dreimonatigen) Soziologiestudiums kennen gelernt hatte - nicht nur während, auch statt des Studiums -, schrieb er: »Hallo Rod, ein spontaner Überfall. Hast du heute Abend Zeit und Lust auf eine kleine Weinverkostung in unserer alten Stammkneipe? Ich würde mich freuen, dich wieder einmal zu sehen. Lieber Gruß. Max.«
Die zweite E-Mail ging an Paula und Samuel, an sein liebstes befreundetes Pärchen. Sie: Apothekerin und standhaft platonische Freundin bei lediglich drei so genannten Ausrutschern. Er: Architekt, zwei Köpfe kleiner als sie und ein bisschen verdrückt im Gesicht, aber er küsste angeblich gut. Ihnen schlug er einen gemeinsamen Kinobesuch oder ein Essen beim Italiener vor.
Ein deutlich flaueres Gefühl hatte Max bei E-Mail Nummer drei. Das ging an Natalie, bei der er sich seit dem letzten Treffen im Oktober nicht mehr gemeldet hatte. Der damalige Abend war haarscharf an einem Kuss vorbeigegangen. Natalie war erst 22, also zwölf Jahre jünger als er. Sie studierte Anglistik und liebte auf vergleichsweise wenig naive Art einen ihrer Professoren, einen Professor, der auf vergleichsweise naive Art jede zweite Anglistikstudentin liebte. Das war die Basis der bisherigen Gespräche mit Max, der ihr die Augen öffnen wollte, ehe sie plötzlich sehr weit offen waren und seinen Mund anvisierten. Diesen Blick kannte er. Da gab es nur entweder Flucht oder Übelkeit. Er wählte die Flucht.
Jetzt schrieb er ihr: »Hallo Natalie. Natürlich bist du beleidigt, dass ich damals so abrupt aufgebrochen bin und mich einfach nicht mehr gemeldet habe. Wenn du willst, erkläre ich es dir. Wenn du willst, heute Abend. Hast du Zeit auf ein paar Gläser Wein?« - Hoffentlich meldet sie sich nicht, dachte Max, als er den Mittelfinger von der Taste »Löschen« wegstreckte und ihn auf »Senden« fallen ließ.
Die vierte E-Mail ging an Katrin. Und Max musste zugeben, dass ihm diese am meisten am Herzen lag. Nein, er gab es nicht zu. Er schrieb: »Hallo Katrin. Vielleicht hast du zufällig Lust und Zeit, mit mir und Kurt einen kleinen Nebelspaziergang im Esterhazy- park zu machen. Kurt liebt Nebel. Da kann er stehen bleiben und warten, was geschieht. Anschließend könnten wir beide Glühwein trinken gehen. Dein Freund kann ja mitkommen. Lieber Gruß. Max.« - Wehe, der Freund kommt mit, dachte er.
Kurt schlief noch immer. Deneuve pfauchte hinter der Tür und kratzte daran. Max fehlten noch acht Zeilen seiner Kolumne. »Und so gibt es Dutzende Beispiele des täglichen Lebens, die uns zeigen, wie viel schöner ein Hundeleben mit Herrl und Frauerl gemeinsam ist«, hatte er zuletzt geschrieben. Das war an sich ein perfekter Schlusssatz. Deshalb beschloss er, weiter oben einfach noch ein paar Beispiele einzufügen: »Wenn das Herrl einmal schlecht aufgelegt ist, kriegt das unser vierbeiniger Liebling mit voller Wucht zu spüren. Gibt es aber auch ein Frauerl im Haus, so wird die üble Laune des Herrls dem Hund gar nicht auffallen, die konzentriert sich dann ganz auf das Frauerl. Das Gleiche funktioniert natürlich auch umgekehrt.« (Ein genialer Füllsatz, dachte Max.) »Und wenn die beiden einmal streiten, dann freut sich der Dritte. Und der Dritte ist ja fast immer unser lieber Hund.« Daran fügte sich nahtlos: »Und so gibt es Dutzende Beispiele des täglichen Lebens, die uns zeigen, wie viel schöner ein Hundeleben mit Herrl und Frauerl gemeinsam ist.
Schnauzbussi von Kurt, Adventgrüße von Herrl Max.« - Geschafft! Kurt weckte Max auf und schleifte ihn, an Deneuve und Königsberger vorbei, aus dem Büro.
Von Katrin gab es keine Antwort. Auch Rodriguez hatte sich nicht gemeldet. Paula schrieb: »Schön, dass es dich auch noch gibt. Heute Abend ist uns leider zu kurzfristig. Sami muss arbeiten, ich bin mit Freundinnen verabredet. Aber am Wochenende ist Sami auf einem Seminar. Da hätte ich Zeit. Lass von dir hören. Paula.«
Und Natalie hatte geantwortet: »Hallo Max. Ich bin nicht beleidigt. Ich bin nur verwundert. Ich hatte dich eigentlich nicht so eingeschätzt, dass du dich von heute auf morgen schleichst (und übermorgen plötzlich wieder auftauchst). Ich habe dir sehr vertrauliche Dinge von mir gesagt - und hatte jetzt mehrere Wochen Gelegenheit, meine Offenheit dir gegenüber zu bereuen. Edgar hat heute ein Blockseminar. Ich habe also am Abend Zeit. Mein Interesse gilt jetzt weniger dir als deiner Erklärung. Ruf mich also an. Wenn ich dich hiermit verschreckt habe, lass es bleiben. Gruß, Natalie.«
Sie hatte ihn zwar nicht verschreckt, aber ihm war nun doch eher danach, es bleiben zu lassen. Bis sechs Uhr nachmittags wartete er auf eine Antwort von Katrin. Dann rief er bei ihr an, sprach ihr auf den Anrufbeantworter: »Kurt muss jetzt schon dringend. Lange können wir nicht mehr auf dich warten.« Kurt wollte natürlich nicht müssen. Er lag unter seinem Sessel und schlief. Max richtete sich bis acht Uhr auf einen Heimabend mit Toast, Ketschup, Doris Lessing, Teletext, Cabernet Sauvignon und Herby Hankock ein. Dann fand er sich mit seiner Ruhelosigkeit ab und rief Natalie an. Er überließ ihr sogar noch den Heimvorteil. Ihr »Willst du mich nicht besuchen?« klang unverbindlich. Sonst hätte er nicht eingewilligt, zu ihr zu gehen. Kurt blieb daheim. Und bewachte das Haus. (Kleiner Scherz.)
Natalie hätte man niemals auf 22 geschätzt, obwohl sie klein, zart und mit einem kindlich anmutenden blonden Pagenkopf ausgestattet war. Sie hatte eine tiefe raue Stimme, altersweise braune Augen, die sie in der Minute fünfmal zusammenkniff, um die Altersweisheit unter Beweis zu stellen, und schmale Hände, die grazil vor ihrem Gesicht tanzten, um jede ihrer Aussagen zu bekräftigen, was gar nicht notwendig gewesen wäre. Ihre Aussagen waren kräftig genug. Dir fehlte jede Spur von Naivität und jeder Ansatz einer Bereitschaft, Naivität vorzutäuschen, um schutzbedürftig zu wirken. Dieser Mangel machte sie jugendlich abgeklärt. Das gefiel Max an ihr.
Als kleines Vorprogramm zu seinen mit Spannung erwarteten »Erklärungen«, warum in aller Welt er sich ihr hatte verweigern können, erzählte sie von ihrer abgekühlten Liebe zu Edgar, dem Anglistikprofessor, der nicht fähig war, sich für sie zu entscheiden. Da »abgekühlt« und »Liebe« im Tonfall Natalies ein Widerspruch in sich war, ahnte Max, dass ihr der Professor noch immer sehr viel bedeutete, dass sie ihn keineswegs aufgegeben hatte, dass sie sich vielmehr für seine polygamische Lebensweise bei ihm rächen wollte. Als sie ihren Pullover auszog und wie sie ihn auszog und ihr Body darunter keiner war, den man zufällig anhatte, wusste Max, wann und mit wem sie sich bei ihrem Professor rächen wollte: jetzt und mit ihm.
Seine Entscheidung, ihr nicht die Wahrheit zu sagen, fiel, als sie »Also jetzt erkläre mir, was damals mit dir los war« sagte - und wie sie es sagte. Sie schmunzelte dabei. Sie rückte ganz nah zu Max und berührte sein Knie mit ihrem Handrücken. Sie verzichtete auf das misstrauische Zusammenkneifen ihrer Augen. Sie erwartete eine schmeichelhafte Antwort, spürte Max. Sie wollte hören, dass sie ihm zu selbstbewusst und anspruchsvoll gewesen war, dass er eine »unkomplizierte Geschichte« mit ihr angestrebt hatte und dass er plötzlich das Gefühl gehabt hatte, mit ihr sei nur eine »ernstere Sache« möglich; etwas in der Art.
Erstens verabscheute Max seinen zerstörerischen Stehsatz »Tut mir leid, mir graust vor Küssen«.
Zweitens hatte er plötzlich das Gefühl, er könnte es diesmal schaffen. Der Wein war ihm zu Kopf gestiegen und hatte die Konturen seiner traumatisch im Hirn verankerten fetten Sissi aufgelöst. Und drittens: Ja, er war erregt. Sehr sogar. Er hatte das Bedürfnis, Natalie zu spüren, ihre Haut zu berühren, seine Hände um ihren Rücken zu schlingen, sie an den Hüften zu nehmen, fest an sich zu drücken, sich auf sie zu legen, seinen Körper an ihrem zu reiben, in sie einzudringen, ihr in die vor Begierde glänzenden Augen zu sehen, wie diese seine Erregtheit beobachteten und gleichzeitig stimulierten, anfeuerten und auf die Spitze trieben.
Sie war dazu bereit, sie lud ihn ein. Sie begann sich mit ihrem Oberkörper katzenartig auf sein Gesicht zuzubewegen. Sie senkte die linke Schulter und ließ den Träger des Bodys auf ihren Oberarm rutschen. Sie umfasste seine Handgelenke und drückte fest zu, um ihm das Gefühl des Gefesseltseins zu geben und ihn gleichzeitig dazu zu animieren, sich von den Fesseln zu befreien.
Und doch hielt sie ihn mit Worten noch einmal auf Distanz: »Also, was war damals los mit dir? Warum wolltest du mich nicht küssen?«, fragte sie beinahe stimmlos und mit gespieltem schwerem Atem. - Worte hätten jetzt alles zerstört. Für Max gab es nur eine einzige Erwiderung, die Natalie in dieser Situation akzeptiert hätte, auf die sie wahrscheinlich auch wartete. Da blieb nur die eine Möglichkeit, seine Begierde stillen zu dürfen, nur dieser eine Schlüssel zu ihrem Körper. Grausames Schicksal: Max musste Natalie küssen.
Er schloss die Augen und näherte sich ihrem Mund. Er spürte es warm und weich an seinen Lippen, wie immer mehr Fläche davon bedeckt wurde. Ein erster Schub eines flauen Gefühls stieg ihm vom Magen hoch. Max hielt sich zunächst krampfhaft an ihren Schultern fest und tastete sich dann zur Ablenkung an ihre Brüste heran. Doch Natalie schnappte seine Hände und legte sie zu den Schultern zurück. Diese Geste war eindeutig: Der Kuss hatte für sich zu stehen, Vorgriffe waren nicht erlaubt. Natalies Leidenschaft verlangte ein Mindestmaß an Beherrschtheit. Ihre Hingabe war intuitiv organisiert. Selbst am Weg zur Ekstase gab es eine Reihenfolge von Stationen, die eingehalten werden musste. Erste und wichtigste Station: der ekstatische Kuss.
Max spürte ihre Zunge an seinen Zähnen, wie sie versuchte, seine zu finden. Ein erster eindeutiger Schub von Übelkeit stieg in ihm hoch. Er riss die Augen auf und sah dieses schöne entspannte Gesicht, das nichts von seiner aufkommenden Verzweiflung ahnte. Natalie war in sich versunken, bei ihr ging bereits alles ohne Denken, ohne Absicht, ohne Hindernis. Sie gab sich dem Erlebnis hin. Für sie war küssen purer Sex.
Ihre Zunge hatte seine berührt und erste Kreise darum gezogen. Max spürte den alten erbarmungslosen Kampf in sich, Erregung gegen Übelkeit. Ein zweiter Schub aus der Magengegend verriet ihm, wer gleich wieder der unumstrittene Sieger sein würde. Er riss sich von Natalies Mund los und ließ sich im Sofa zurückfallen. Er wusste, was er sich und ihr jetzt nur ja nicht antun durfte - und wartete in depressiver Ohnmacht darauf, dass es eintrat.
Natalie war unfähig, das Problem zu erkennen und ahnte nicht, in welcher Gefahr sie sich befand. Sie bewegte sich auf den willenlos Liegenden zu, beugte sich über ihn, streifte ihren Body bis zu den Hüften hinunter, nahm seine Hände, führte sie zu ihren Brüsten und presste sie dort fest an. Max konnte zweimal tief durchatmen, genoss für einen Augenblick das Gefühl in den Händen und seine es verursachende starke Erregung, ehe er ihre Zunge wieder in seinem Mund spürte.
Nun stand ihm das Vermächtnis der fetten Sissi bereits bis zum Hals. Er versuchte panikartig einen Schaltknopf in seinem Gedächtnis zu finden, der ihm ein Notprogramm einspielte. Fußball, Papstbesuch, Erdbeben, Wetteraussichten, Deneuve, Kurt, Zähneputzen, Kreuzworträtsel ... Die Bilder tauchten wie bei einem Diavortrag im Zeitraffer auf und verschwanden. Natalie hatte seine Wangen zangenartig umfasst und duldete keine Bewegung seines Gesichtes mehr. Ihre Zunge Schleuderte wild und feucht herum und spielte in seinem Mund Verstecken und Fangen.
Max war halb bewusstlos vor Übelkeit und der Angst vor ihren unausweichlichen Folgen. Wenn ihn Katrin so sehen würde. Würde sie schreien? Würde sie lachen? Hätte sie Mitleid? Würde sie ihn trösten? Seine Gedanken fanden plötzlich Halt. Max sah sie mit ihren schwarzen kurzen Haaren, wie sie ihm die Hand schüttelte und dabei anmutig mit dem Kopf nickte. »Hast du's schon einmal mit Stachelbeeren probiert?«, fragte sie ihn und hob dabei kokett die Augenbrauen. - Da hatte sie Recht. »Stachelbeerkuchen« klingt fast noch besser als »Birnenkuchen«, dachte Max. »Und Stachelbeeren schmecken eigentlich noch mehr nach gar nichts als Birnen«, meinte Katrin. - Natalie unterbrach ihren Kuss, leckte sein Gesicht, öffnete seine Hemdknöpfe, fuhr ihm mit kühlen gierigen Fingern in die Hose. Das Doppelklicken mussten die Druckknöpfe ihres Bodys gewesen sein. Die kalten Finger arbeiteten flink und professionell und verabschiedeten sich, als kein Platz mehr für sie da war. Ihr »Jaaa« war lang, heiser und erwartungsvoll gehaucht. Sie saß auf ihm, er war in ihr.
Er schloss die Augen und ließ seine Hände wie ferngesteuert alles tun, was ihr Seufzen und Stöhnen verstärken konnte. Ihm juckte der Angstschweiß im Gesicht, ein paar heftige Übelkeitsattacken hatte er bereits erfolgreich hinuntergewürgt. So lange hatte er sich noch nie gehalten. Ihre Bewegungen auf ihm wurden heftiger. Wieder konnte er kurze Zuckungen der Lust genießen. Da kam ihre Zunge auch schon seinen Hals hinaufgekrochen. Er presste sein Kinn hoch, um ihr den Weg abzuschneiden. Die Hürde nahm sie mühelos. Das Kussmartyrium ging weiter.
Max standen die Tränen in den Augen. Er versuchte es ein zweites Mal mit der Flucht zu Katrin. Wie war der Traum? Wo war er stehen geblieben? Katrin wollte Kurt und war dafür bereit, Max jeden Wunsch zu erfüllen. »Also sag schon, was soll ich tun?«, fragte sie ihn. Aus den Sehschlitzen ihres gelben Raumanzugs leuchteten ihre mandelförmigen Augen. (Hatte sie mandelförmige Augen?) »Du legst dein Hände auf meinen Nacken und fährst mit allen zehn Fingernägeln ganz langsam meinen Rücken herunter«, dachte er sich sagen. Wie sie ihn ansah! »Würdest du das für mich tun?«, dachte er sich fragen. - Da warf sie ihm einen durchdringenden Blick zu, holte Luft und schrie und hörte nicht mehr auf zu schreien: »Jaaa. Jaaa. Jaaa ...« - Natalie bäumte sich auf, riss den Kopf zurück, presste ihre Beine um seine Hüften, spreizte ihre Finger und stützte sich mit den Handballen an seinen Schultern ab. Noch dreimal, langsamer, nicht mehr so laut, schon etwas mehr bei Sinnen: »Jaaa. Jaaa. Jaaa.« Dann ließ sie sich erschöpft auf ihn fallen und legte ihr überhitztes Gesicht an seine Brust.
Max spürte, wie die Übelkeit ihren Spiegel senkte und an Stärke verlor. »Das war heftig«, hauchte Natalie. Sie hatte nichts bemerkt. Max weinte vor triumphaler Freude und ausgestandener Angst. Sicherheitshalber ließ er die Augen noch eine Zeit lang zu. Sicherheitshalber blieb er mit seinen Gedanken noch ein bisschen bei Katrin. Hätte sie es getan?