21. Dezember

Kurt hatte zwei Seelen in seiner drahtbehaarten Brust, eine bekannte und eine ungeahnte. Die eine schlief. Die andere wachte neben Katrin auf. Was war passiert? Lange Zeit gar nichts. In der Ordination am Vortag: Seele eins. Beim Auftritt von Doktor Harrlich (»Was ist das da am Boden?« - »Ach nichts, nur ein Teppich.« - »Der ist zu dick, schönes Fräulein, da stolpern unsere Kunden darüber.« - »Ich werde ihn noch heute austauschen.«): Seele eins.

Beim abendlichen Schneespaziergang im Esterhazypark: Seele eins. (Katrin war knapp davor, die Tierseelsorge anzurufen und ihr mitzuteilen, dass unter der vierten Gebüschzeile ein fremder Hund mit zugefrorenem Schnauzbart lag, der offenbar Probleme mit sich hatte. Dann zerrte sie ihn aber doch zu sich nach Hause.) Daheim, bei Help TV, Doris Dörrie, Mailänder Mode, »Kurt erzählt eine Bettgeschichte«, Debussy, Internet und Telefon: Seele eins. Wildbeuschel? - Danke, später: Seele eins. Zeit für die Nachtruhe? - Jawohl, sofort: Seele eins.

Als sie einschlief, lag er neben ihr auf einem hundgerecht derangierten und mit Tramperidyllischem Bahnhofsgrind einbalsamierten roten Uralt-Schlafsack und ließ seine Seele eins baumeln.

Als sie aufwachte, stand er auf der anderen Seite neben ihr, rieb sich die Nase an ihrem Kinn, hechelte wie drei Schlittenhunde im Kanon nach der Arbeit und erzählte ihr die Geschichte vom Hund, um den sich in der Früh keiner gekümmert hatte und der deshalb begonnen hatte, aus den Holzmöbeln Zahnstocher herzustellen. Dazu quietschte er abwechselnd mit seiner Leberkäsesemmel und bellte wie einer, der innerhalb von ein paar Minuten eine lautlose Woche ungeschehen machen wollte. - Das war seine verschüttet geglaubte Seele zwei.

Kurt ließ Seele zwei nicht zum idealsten aller Zeitpunkte sprechen. Denn die SchulmeisterHofmeisters standen im Sinne des vorgezogenen Christkindes so gut wie vor der Türe. Es sollte ein gemeinsames familiäres Frühstück werden, in dem sich Katrin von der jahrzehntelangen Besorgniserregung ihrer Eltern verabschieden wollte. Sie hatte vor, ihnen anlässlich ihres bevorstehenden 30. Geburtstages mitzuteilen, dass es ihr gut ging, dass sie glücklich war, dass sie auf eine gelungene Kindheit und eine unverkrampfte Jugendzeit zurückblickte. Dass sie es in einer süßen Junggesellinnenwohnung zu einem schönen warmen Bett für sich alleine gebracht hatte. Dass sich ihre lesbische Veranlagung darin erschöpfte, lieber in den Armen von Kate Winslet als in jenen Leonardo di Caprios auf der Titanic untergehen zu wollen. Dass es sich mit Männern so verhalte: Sie mochte sie, aber nicht auf Dauer und nicht daheim. Sollte doch einmal einer hängen bleiben - gut. Sollte keiner hängen bleiben - mindestens genauso gut.

Und, ja, auch das wollte sie ihnen gerne verraten: Es gab da schon jemanden, einen gewissen Max, den fand sie sehr interessant, okay (Mutter wusste ja bereits mehr davon), in ihn war sie sogar ein wenig verliebt. Möglicherweise würde sich schon in den nächsten Monaten, spätestens aber wohl im Sommer herausstellen, ob er vielleicht einer wäre, bei dem sie sich eventuell vorstellen könnte, dass sich der Fall einstellen könnte, dass . Und dann würden sie ihn selbstverständlich auch bald kennen lernen, zum Beispiel nächste Weihnachten. Ja, so war es. Und darum: frohe Weihnachten auch für heuer!

Apropos und bei dieser Gelegenheit gleich definitiv: Den Heiligen Abend wollte sie diesmal mit Kurt verbringen. Wer Kurt im Detail war, das wollte sie ihnen noch rasch zeigen. Sie hätte sie dann zum Bett geführt und da wäre er darauf gelegen, ganz Seele eins. Und Katrin hätte den Zeigefinger senkrecht auf die Lippen gehalten und hätte »Pssst« gesagt. Dem Vater wäre mit einem Herzschlag (Kurts) bewusst geworden, dass auch Hunde Geschöpfe Gottes waren und er hätte begonnen, ihnen zu verzeihen und sein Wäschetrockner-Trauma aufzuarbeiten. Und Mutter hätte vermutlich um ein Taschentuch gebeten. Sie wäre vom Gefühl gepackt gewesen, soeben Großmutter geworden zu sein. Das hätte dann so eine Art Weihnachtswunder dargestellt, in dessen Banne die Eltern verklärt nach Hause geschritten wären.

Aber Kurt ließ unbarmherzig Seele zwei baumeln und kläffte gerade grausam seine unter dem Küchenkasten verschanzte Leberkässemmel nieder, als die Eltern mit einem Klingelzeichen ankamen. Sie waren übrigens zu dritt. Sie hatten Aurelius mitgebracht.


Max kam wie vereinbart zu Mittag, um Kurt abzuholen. Er hatte ein Lippenfoto von Lisbeth Willinger bei sich - für alle Fälle. Es steckte in der rechten Gesäßtasche seiner Jeans. Er hätte es während der Umarmung mit der linken Hand herausgezogen und hinter Katrin so positioniert, dass er über ihren Kopf hinweg auf die Lippen hätte sehen und dort mit den Augen Kreise hätte ziehen können. Wäre er während des Küssens beim kreisenden Blick nach oben erwischt worden, hätte dies für Katrin nach »Gott ist das schön, dem Himmel sei Dank« ausgesehen und sie hätte keinen Verdacht geschöpft. War der Kuss dann beendet, hätte er ihr Gesicht in seiner Brust vergraben, um das Foto unbemerkt wieder zu verstauen. Schwieriger war dann schon der Kuss in liegender Stellung. Aber so weit musste Max jetzt wirklich noch nicht denken.

Im Gegenteil: Schon im Stiegenhaus hörte er bestialisches Hundegebell, das er Kurt zuordnen musste. Akustisch knapp darunter lag menschliches Stimmengewirr. Es klang nach Hausbesitzerversammlung im Anschluss an nrainerbeschwerden wegen eines außer Rand und Band geratenen Deutsch-Drahthaar-Rüden. Max spürte instinktiv, zum falschen Zeitpunkt an der richtigen Tür geläutet zu haben, als sie sich öffnete. Einige Minuten später schloss sie sich wieder hinter ihm. Da hing Kurt, mit einem Schal mumifiziert und dadurch ein wenig schallgedämpft, bereits an seiner Leine und suchte mit ihm das Weite und möglichst weit Entfernte.

Es war müßig, die Eindrücke in einen Handlungsablauf zu zwängen. Max genügte es, Momentaufnahmen von teils bekannten, teils unbekannten Gesichtern mitzunehmen. Da war dieser schon gesehene Hugo Boss junior, der offensichtlich zum Haushalt gehörte. Sein Limonen-Blick meldete gerade die Konkursmasse an. Über seinen Armen senkte sich, wie ein schlaffer Leichnam, ein hellgraues Sakko. Dieses sah nach Erdarbeiten im Esterhazypark aus und roch spezifisch nach Kurt.

Daneben stand, in tröstender Position, Mutter Boss, eine zur Kummerfalte erstarrte Dame im zweitbesten Alter, und warf Max einen »Ich-werde-Sie-vor-den- Richter-bringen«-Augenaufschlag entgegen. Abseits des Geschehens war eine tragische Männergestalt mit armselig dünnem grauem Oberlippenbart erkennbar. Bei diesem Mann dürfte es sich um das eigentliche psychische Opfer der Vorfälle gehandelt haben.

Und dann: Katrin. Sie lächelte, wie über einen Witz, über den man nicht lachen durfte. Sie war schön. Sie war zu schön, um wahr sein lassen zu müssen, dass es mit Kurt Probleme gegeben hatte, unter denen die handelnden oder bereits aus der Handlung geworfenen Personen litten. Sie gab Max keine Schuld. »Er ist plötzlich aufgewacht«, flüsterte sie ihm zu, hob ihre Schultern und machte aus den Händen hängen gelassene Tulpenblätter.

»Und er hat seinen Hals abgeschleckt.« Sie knickte ihren Kopf in Richtung Hugo Boss. »Dabei fiel das Sakko auf den Boden.« Jetzt lächelte sie. »Und damit hat er dann gespielt.« Jetzt musste sie aufpassen, nicht zu laut zu lachen. »Sackhüpfen hat er gespielt.« Jetzt hatte sie zu laut gelacht. Hugo Boss' Blick mutierte von Limone zu Grapefruit.

»Und das sind meine Eltern. Darf ich bekannt machen?« - Sie durfte nicht bekannt machen. Denn da war dann noch Kurt und brüllte sich Seele zwei aus dem Leib. Dazu drehte er Schwindel erregende Kreise um sich selbst und um seine neuen Lieblinge, sprang ihnen auf die Schultern, liebkoste ihre Dauerwellen und Seitenscheitel, stieß sich wieder von ihnen ab, quietschte mit der wiehernden Semmel, schüttelte sich den Schaum vom Mund und . »Es ist besser, wenn wir jetzt gehen«, sagte Max. Er wollte wirklich nicht unhöflich sein. Katrin lächelte und hauchte ihm einen Kuss durch den Türschlitz.

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