Draußen schneite es nicht. Es war nur angekündigt worden, damit die Menschen wussten, dass es hätte sein können, damit sie Daunenkapuzenmäntel und Schneeräumgeräte kauften. Drinnen saß Katrin vor dem Computer und surfte. Das schaffte sie stundenlang. Es war ihre Nahtstelle zwischen Tätigkeit und Untätigkeit. Eingabe ohne Eingebung. Träumen ohne Gefühlsduselei. Suchen ohne auf der Suche zu sein. In die Luft starren mit Buchstaben. Gähnen per Tastendruck. Nasenbohren ohne Nase. Und ohne Finger. Genügt es?
Katrin kam aus einfachen Verhältnissen. Ihre Eltern waren verhältnismäßig einfach zu allem gekommen, was sie hatten, inklusive Katrin, ihrem Herzstück. Die Mama, Ernestine »Erni« Schulmeister, hatte den Papa, Rudolf »Rudi« Hofmeister, beim explosionsartigen Ausdruck der Unverträglichkeit einer zu großen Menge Alkohols in Form von Bier erwischt. Das war beim Fest einer freiwilligen Feuerwehr, die sich einmal im Jahr einen Brand selbst legen musste, um wenigstens einmal im Jahr einen anderen Brand als den täglichen persönlichen zu löschen. Es gab dort eben zu wenig Häuser in den Dörfern und die waren zu feucht, um zu brennen. »Ist Ihnen schlecht?«, fragte Erni. »Ja«, erwiderte Rudi zwischen zwei Beweisen. Er war ein sehr aufrichtiger Mensch. Danach heirateten sie. Nicht unmittelbar danach, zwei Jahre später. Hätten sie etwas mehr Mut zur Lücke gehabt, würde Katrin Schulmeister-Hofmeister heute Katrin Schulhofmeister heißen. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Wahrscheinlich nicht.
Vor 30 Jahren minus 22 Tagen kam Katrin gesund zur Welt. (Exakt am Heiligen Abend würde sie also dreißig.) Damals war die Stadt gerade im Chaos versunken und von der Umwelt abgeschnitten, es hatte ungefähr drei Zentimeter geschneit. Die Schneeräumung versagte, das heißt: es gab keine. Der zuständige Stadtrat musste zurücktreten, aber er weigerte sich.
Beim Christbaumschmücken hatten Ernis Wehen bezüglich Katrin eingesetzt. Rudi, wie das oft so ist bei werdenden Familienvätern, war im Verkehr stecken geblieben. Selbst ohne Verkehr wäre er stecken geblieben, sein Ford Fiesta hatte Sommerreifen. Kein Problem für Erni. Hausdoktor Sokop von der Dreier-Stiege und Hebamme Alice aus dem Erdgeschoss sorgten für eine WeihnachtsHeimgeburt, wie sie selbst von hartgesottenen Boulevard-Journalisten wegen übertriebener Kli- scheelastigkeit abgelehnt, also nicht veröffentlicht worden wäre. Als Rudi heimkam, lag Tochter Katrin sozusagen unter dem Christbaum, angeblich lametta- behangen, aber das hatten die ehrgeizigen Urgroßeltern dazuerfunden. Rudis vergoldeter Armreifen für Erni - 1300 Schilling nach zähem Verhandeln - ging an diesem Abend jedenfalls ein wenig unter. Und den Karpfen aß keiner. Wenigstens verschluckte auch keiner eine Gräte.
Logisch, ein Kind, das so zur Welt kam, blieb erstens geschwisterlos (selbst ein gezieltes Osterbaby hätte da nicht mithalten können) und zweitens ein ewiges Wunschkind. Die liebenden SchulmeisterHofmeisters wünschten sich von Katrin (zum Teil erst im Nachhinein, als es schon eingetroffen war) lange schwarze Haare, große grüne Augen, schöne weiße Zähne, kein Geschrei im Kindergarten, lauter Einser in der Volksschule, keine Pubertät (keine Wimmerln, keinen Poster von Tom Cruise, kein Backstage bei AC/DC und keinen privaten Bongo-Kurs bei »Jim« aus Jamaika, der wusste, worauf es im Leben ankam, auf die Freiheit). Mehr noch: keinen Zungenkuss vor 14, keine Präservativdiskussionen vor 16, keine Schwangerschaft vor 18, ja im Gegenteil: die Matura, möglichst mit Auszeichnung, möglichst mit links. Dann ein Studium, möglichst Medizin. Hier trotzte Katrin erstmals und studierte Maschinenbau, das war aber nur ein Scherz, deshalb brach sie das Studium nach einem halben Semester des Staunens und Bestauntwerdens ab und wurde medizinischtechnische Assistentin der Augenheilkunde. Die Eltern waren glücklich und rehabilitiert. Augen gehörten ja auch irgendwie zur Medizin.
Und nun fehlte praktisch nur noch der Eine, der Schwiegersohn, der Mann für immer, ein fescher, kluger, aus gutem Hause mit gutem Geld, gutem Geschmack und guten Umgangsformen, ein richtiger (»Frau Schulmeister-Hofmeister, ich darf doch Mama sagen, Sie machen den besten Kaffee der«) WeltMann. Und das war die Tragödie aus der Sicht der Schulmeister-Hofmeisters: Diesen Mann gab es nicht. Er war weder eingezogen noch eingetroffen noch eingetreten. Katrin stand unmittelbar davor, dreißig Jahre alt zu werden und ... nein, man durfte es gar nicht laut denken. Man durfte es niemals aussprechen. Man durfte es dem Goldschatz auch ja nie anmerken lassen. Man durfte es nur ausnahmsweise einmal lautlos hier in dieses Buch hineinschreiben: Katrin - näherte - sich - dem - 30er - und - hatte - keinen - Mann! Demnach auch kein Kind, keine Familie, kein Reihenhaus mit Garten, kein Gemüsebeet, keinen Schnittlauch, kein Garnichts.
Draußen schneite es wie gesagt nicht. Drinnen surfte Katrin im Internet und klickte »Weihnachten« an, weil sie gerade daran gedacht hatte, indem sie nur ja nicht daran denken wollte. Da dumpten sich Reisebüros mit Last-Minute-Fluchtmöglichkeiten an die von Weihnachten entferntesten Strände der Welt nieder. Da rieselte der Reisig aus den offerten der Basare. Da duellierten sich die Krippen-Aussteller: Holz gegen Naturholz gegen Strohdach gegen Perlmutthirten. Da ließ die Gastronomie ihre fetten Gänse aufmarschieren und flehte um rechtzeitige Reservierung. Und da - hoppla. Was wollte der Typ? Seinen Hund anbringen? - Katrin hatte eine Idee.