Als die Sonne über den Horizont stieg, lagen die Felder verlassen da. Diejenigen, die in das Weinlager eingebrochen waren, lagen zweifellos noch im Korn und schliefen ihren Rausch aus. Gaius blickte über die Mauer und sah trägen Rauch über der geschwärzten Erde aufsteigen. Versengte Bäume standen kahl und nackt da, und das Wintergetreide schwelte immer noch in den Ruinen der Futterscheunen.
Es war eine seltsam friedliche Szenerie, in der sogar die Morgenvögel schwiegen. Die Gewalt und die Aufregung der vergangenen Nacht schienen in weite Ferne zu rücken, wenn man über die Felder blicken konnte. Gaius rieb sich kurz über das Gesicht und stieg dann die Stufen in den Hof hinab.
Alle weißen Mauern und Oberflächen waren mit braunen Flecken besudelt. In den Ecken gerannen Blutpfützen, und obszöne Flecken waren überall dort zu sehen, wo man die Leichen schon entfernt und zum Tor hinausgeschleift hatte, um sie zu Gruben zu bringen, sobald Karren zur Verfügung standen. Die Verteidiger hatte man auf sauberen Tüchern in kühlen Räumen aufgebahrt und ihre Gliedmaßen würdevoll zurechtgelegt. Die anderen wurden einfach auf einen stetig wachsenden Haufen geworfen, aus dem Arme und Beine in allen Richtungen hervorragten. Gaius sah bei der Arbeit zu, und im Hintergrund hörte er die Schreie der Verwundeten, die genäht oder für Amputationen vorbereitet wurden.
Er kochte vor Wut und hatte nichts, woran er sie auslassen konnte. Man hatte ihn zu seiner Sicherheit eingesperrt, während alle, die er liebte, ihr Leben riskierten und sein Vater seines bei der Verteidigung seiner Familie und seines Besitzes hingegeben hatte. Es stimmte, er war von der Operation noch geschwächt gewesen, der Schorf war kaum abgeheilt ... aber nicht einmal die Möglichkeit gehabt zu haben, seinem Vater zur Seite zu stehen! Dafür gab es keine Worte, und als Cabera ihn aufgesucht hatte, um sein Beileid auszudrücken, hatte er ihn einfach ignoriert. Erschöpft saß er da, ließ Staub durch die Finger rinnen und erinnerte sich an die Worte, die Tubruk vor Jahren gesprochen hatte, und die er erst jetzt richtig begriff. Sein Land.
Ein Sklave kam auf ihn zu. Gaius wusste nicht, wie er hieß, doch seine Wunden wiesen ihn als einen der Verteidiger aus.
»Die Toten liegen alle vor dem Tor, Herr. Sollen wir Karren für sie holen?«
Es war das erste Mal, dass er von jemandem anders als mit seinem Namen angesprochen wurde. Gaius verschanzte sich hinter steinernen Gesichtszügen, um sich die Überraschung nicht anmerken zu lassen. Seine Seele war voller Schmerz, und seine Stimme klang, als käme sie aus einer tiefen Grube.
»Holt Lampenöl. Ich will sie an Ort und Stelle verbrennen.«
Der Sklave neigte zur Bestätigung den Kopf und lief davon, um das Öl zu holen. Gaius trat vor das Tor und betrachtete die plumpe Anhäufung von Tod. Es war ein grässlicher Anblick, aber er spürte kein Mitgefühl in sich. Jeder von ihnen hatte mit dem Angriff auf das Gut sein Ende selbst gewählt.
Er übergoss den Haufen mit Öl, schüttete es über Fleisch und Gesichter, in offene Münder und aufgerissene Augen. Dann zündete er das Ganze an und stellte fest, dass er doch nicht dabei zusehen konnte, wie die Leichen verbrannten. Der Qualm rief ihm den Raben in Erinnerung, den er und Marcus gefangen hatten, und er rief einen Sklaven zu sich.
»Holt Fässer aus dem Lager und lasst das hier brennen, bis nur noch Asche übrig ist«, sagte er grimmig. Als die Hitze stärker wurde, ging er wieder hinein, und der Geruch folgte ihm wie ein anklagender Finger.
In der Küche fand er Tubruk, der auf der Seite lag und auf ein Stück Leder biss, während Cabera eine Dolchwunde in seinem Bauch untersuchte. Gaius sah eine Weile zu, aber es wurden keine Worte gewechselt. Er ging weiter und stieß auf den Koch, der auf einer Stufe saß und das blutige Hackbeil immer noch in den Händen hielt. Gaius wusste, dass sein Vater aufmunternde Worte für den Mann parat gehabt hätte, der so einsam und verloren aussah. Er selbst brachte nichts zusammen außer kalter Wut, und so stieg er über die Gestalt hinweg, die ins Leere starrte, als wäre Gaius gar nicht da. Dann blieb er stehen. Wenn sein Vater es getan hätte, dann würde auch er es tun.
»Ich habe gesehen, wie du auf der Mauer gekämpft hast«, sagte er zu dem Koch, und seine Stimme klang endlich wieder kräftig und fest.
Der Mann nickte und schien sich zusammenzureißen. Mühsam stand er auf.
»Das habe ich, Herr. Ich habe eine Menge getötet, aber nach einer Weile habe ich sie nicht mehr gezählt.«
»Also, nachdem ich gerade hundertneunundvierzig Leichen verbrannt habe, müssen es ziemlich viele gewesen sein«, sagte Gaius und versuchte zu lächeln.
»Ja. An mir ist niemand vorbeigekommen. Ich habe noch nie so viel Glück gehabt. Ich glaube, die Götter haben die Hand über mich gehalten. Über uns alle.«
»Hast du meinen Vater sterben gesehen?«
Der Koch stand da und hob einen Arm, als wolle er ihn dem Jungen auf die Schulter legen. Im letzten Augenblick besann er sich eines Besseren und verwandelte die Bewegung in eine Geste des Bedauerns.
»Ja. Er hat viele mit sich genommen und schon vorher viele niedergestreckt. Am Ende lagen sie haufenweise um ihn herum. Er war ein tapferer Mann. Und ein guter Mann.«
Bei diesen freundlichen Worten spürte Gaius, wie seine innere Ruhe ins Wanken kam. Er biss die Zähne zusammen. Als er den aufwallenden Kummer überwunden hatte, sagte er gütig: »Er wäre stolz auf dich gewesen, das weiß ich. Du hast gesungen, als ich dich kurz sehen konnte.«
Zu seiner Überraschung wurde der Mann rot.
»Ja. Mir hat der Kampf Spaß gemacht. Ich weiß, dass alles voller Blut und Tod war, aber es war ganz einfach, verstehst du? Jeden, der mir in die Quere kam, musste ich umbringen. Es gefällt mir, wenn die Dinge so klar sind.«
»Ich verstehe«, sagte Gaius und zwang sich zu einem betrübten Lächeln. »Ruh dich jetzt aus. Die Küche ist wieder geöffnet. Bald wird Suppe verteilt.«
»Die Küche! Und ich bin hier! Ich muss gehen, Herr, sonst taugt die ganze Suppe nichts.«
Gaius nickte, und der Mann eilte davon. Das riesige, an die Stufe gelehnte Hackbeil vergaß er. Gaius seufzte. Er wünschte, sein eigenes Leben wäre so einfach, dass er ohne weiteres Rollen annehmen und ablegen konnte.
Gedankenverloren wie er war, bemerkte er die Rückkehr des Mannes erst, als dieser etwas sagte. »Ich glaube, dein Vater wäre auch stolz auf dich gewesen. Tubruk sagt, du hättest ihn gerettet, als er am Ende erschöpft war, und das, obwohl du verletzt warst. Ich wäre stolz, wenn mein Sohn genauso stark wäre.«
Tränen schossen Gaius in die Augen. Er wandte sich ab, damit der andere sie nicht sehen konnte. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für einen Zusammenbruch, nicht, wenn das Gut in Trümmern lag und sämtliche Wintervorräte verbrannt waren. Er versuchte sich mit den Einzelheiten zu beschäftigen, kam sich aber hilflos und verlassen vor, und die Tränen flossen heftiger, als er immer und immer wieder an seinen Verlust denken musste, wie ein Vogel, der seine nässenden Wunden aufpickt.
»Hallo!«, erklang eine Stimme vor dem Haupttor.
Gaius hörte den fröhlichen Klang und riss sich zusammen. Er war das Oberhaupt des Gutes, ein Sohn Roms und seines Vaters, und er würde dem Andenken des alten Mannes keine Schande bereiten. Er stieg die Stufen zur Mauerkrone hinauf und achtete kaum auf die Geisterbilder, die auf ihn einstürzten. Sie stammten alle aus der Dunkelheit. Im Sonnenlicht besaßen die Schatten keine Wirklichkeit.
Er blickte von oben auf den Bronzehelm eines schlanken Offiziers auf einem schönen Wallach, der beim Warten ungeduldig im Boden scharrte. Der Offizier wurde von einem Contubernium von zehn Legionären begleitet. Alle Männer machten einen forschen Eindruck und steckten in sauberen Uniformen. Der Offizier hob den Blick und nickte Gaius zu. Er war ungefähr vierzig, braun gebrannt und durchtrainiert.
»Wir haben den Rauch bei euch gesehen. Wir sind hergekommen, um nachzusehen, ob die Sklaven hier auch gewütet haben. Wie ich sehe, hattet ihr genug Ärger. Mein Name ist Titus Priscus. Ich bin Zenturio in Sullas Legion, die die Stadt gerade mit ihrer Anwesenheit beglückt hat. Meine Männer durchstreifen die ganze Gegend, als Säuberungs- und Hinrichtungskommando. Könnte ich mit dem Herrn des Guts sprechen?«
»Das bin ich«, sagte Gaius. »Öffnet das Tor«, rief er nach unten. Diese Worte erreichten, was alle Plünderer in der vergangenen Nacht nicht geschafft hatten. Die schweren Torflügel wurden aufgezogen und die Männer eingelassen.
»Sieht aus, als wäre es hier draußen ziemlich übel zugegangen«, meinte Titus und jede Spur von Heiterkeit war aus seiner Stimme und seinem Auftreten verschwunden. »Nach dem Leichenhaufen hätte ich es mir denken können, aber . Habt ihr viele von euren eigenen Leuten verloren?«
»Einige. Wir haben die Mauern gehalten. Wie sieht es in der Stadt aus?« Gaius wusste nicht, was er dem Mann sagen sollte. Sollte er höflich Konversation machen?
Titus stieg ab und reichte einem seiner Männer die Zügel.
»Sie steht noch, Herr, auch wenn Hunderte von Holzhäusern in Flammen aufgegangen sind und mehrere tausend Tote auf den Straßen liegen. Die Ordnung ist fürs Erste wiederhergestellt, obwohl ich nicht empfehlen würde, nach Einbruch der Dunkelheit durch die Stadt zu laufen. Im Moment sind wir dabei, sämtliche Sklaven auf allen Gütern in der Nähe Roms zusammenzutreiben und - auf Sullas Befehl - jeden Zehnten zu kreuzigen, um ein Exempel zu statuieren.«
»Auf meinem Land soll es jeder Dritte sein. Ich werde sie ersetzen, sobald sich die Lage beruhigt hat. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass irgendjemand, der gestern Nacht gegen mich gekämpft hat, ungestraft davonkommen könnte.«
Der Zenturio sah ihn einen Augenblick lang unsicher an.
»Entschuldige, Herr, aber darfst du diesen Befehl geben? Du wirst entschuldigen, wenn ich nachfrage, aber gibt es unter den gegebenen Umständen jemanden, der das bestätigen kann?« Einen Moment lang kochte die Wut in Gaius hoch, doch dann dachte er daran, wie er auf den Mann wirken musste. Er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich zu waschen, nachdem Lucius und Cabera seine Wunden erneut genäht und verbunden hatten. Er war schmutzig, blutverschmiert und unnatürlich blass. Er wusste nicht, dass auch seine blauen Augen von dem öligen Rauch und dem Weinen rot gerändert waren und dass nur etwas in seinem Auftreten einen erfahrenen Soldaten wie Titus davon abhielt, diesem Jungen für seine Unverschämtheit eine Ohrfeige zu geben. Aber dieses Etwas war da, ohne dass Titus es hätte näher benennen können. Nur so ein Gefühl, dieser junge Mann sei jemand, den man sich nicht leichtfertig zum Feind machen sollte.
»Ich würde an deiner Stelle das Gleiche tun. Ich hole meinen Verwalter, falls der Arzt schon mit ihm fertig ist.« Ohne ein weiteres Wort wandte sich Gaius ab.
Es wäre höflich gewesen, den Männern Erfrischungen anzubieten, aber Gaius war verärgert, weil er Tubruk holen musste, um seine Glaubwürdigkeit zu bestätigen. Er ließ sie warten.
Tubruk war wenigstens sauber und hatte gute, dunkle Kleidungsstücke angezogen. Alle seine Wunden und Verbände waren unter der wollenen Tunika und den Bracae, den ledernen Hosen, verborgen. Als er die Legionäre sah, musste er lächeln. Die Welt kam wieder in Ordnung.
»Seid ihr die Einzigen in diesem Gebiet?«, fragte er.
»Äh, nein, aber ...«:, setzte Titus an.
»Gut.« Tubruk wandte sich an Gaius. »Herr, ich schlage vor, du lässt diese Männer einen Boten mit der Nachricht wegschicken, dass sie hier etwas länger aufgehalten werden. Wir brauchen Männer, um das Gut wieder in Ordnung zu bringen.«
Gaius machte ein ebenso ernstes Gesicht wie Tubruk und ignorierte Titus’ Miene.
»Da hast du Recht, Tubruk. Sulla hat sie schließlich ausgesandt, damit sie den entfernt liegenden Gütern helfen. Und hier gibt es jede Menge zu tun.«
Titus versuchte es erneut. »Also, hört mal .«
Tubruk nahm wieder Notiz von ihm. »Ich schlage vor, du überbringst die Nachricht persönlich. Die anderen sehen aus, als würde ihnen ein bisschen harte Arbeit nichts ausmachen. Sulla würde doch ganz sicher nicht wollen, dass du uns hier alleine in den Trümmern zurücklässt.«
Die beiden Männer blickten sich an. Titus seufzte und griff an seinen Helm, um ihn abzunehmen. »Keiner soll sagen können, ich würde mich vor der Arbeit drücken«, murmelte er. Er drehte sich zu einem seiner Legionäre um und deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf die Felder hinaus. »Reite zurück und schließ dich den anderen Einheiten an. Sag Bescheid, dass ich hier ein paar Stunden lang aufgehalten werde. Wenn ihr Sklaven findet ... sag ihnen, jeder Dritte, in Ordnung?«
Der Mann nickte freudig und verschwand.
Titus machte sich daran, seinen Brustpanzer abzulegen. »In Ordnung. Wo sollen meine Leute anfangen?«
»Kümmere du dich darum, Tubruk. Ich sehe nach den anderen.« Gaius drehte sich um und drückte dem Verwalter mit einem kurzen Griff an die Schulter seine Anerkennung aus. Am liebsten hätte er jetzt einen langen, einsamen Spaziergang durch die Wälder gemacht oder sich an das Becken am Fluss gesetzt, um seine Gedanken zu ordnen. Doch das musste warten, bis er jeden Mann und jede Frau, die in der vergangenen Nacht für seine Familie gekämpft hatten, aufgesucht und mit ihnen gesprochen hatte. Sein Vater hätte das Gleiche getan.
Als er an den Stallungen vorbeikam, hörte er aus der Dunkelheit heftiges Schluchzen. Er hielt inne; er wusste nicht, ob er hineingehen sollte. Es lag so viel Trauer in der Luft, genau wie in seinem Innern. Diejenigen, die gefallen waren, hatten Freunde und Verwandte gehabt, die nicht damit gerechnet hatten, diesen Tag alleine beginnen zu müssen. Einen Augenblick blieb er noch stehen, und der ölige Gestank der Leichen, die er angezündet hatte, stieg ihm in die Nase. Dann betrat er den dunklen Schatten zwischen den Boxen. Wer immer es auch war, sein Kummer lag jetzt in seiner Verantwortung, er musste diese Bürde mit ihm teilen. Sein Vater hatte das verstanden, und deshalb war das Gut auch so lange gut gediehen.
Seine Augen gewöhnten sich nach dem grellen Morgenlicht nur langsam an die Dunkelheit. Er schaute in alle Boxen, um den Ursprung der Geräusche zu finden. Nur in zweien standen Pferde, die leise wieherten, als er ihnen über die weichen Mäuler streichelte. Sein Fuß schabte gegen einen Stein und das Schluchzen verstummte augenblicklich, als hielte jemand den Atem an.
Gaius verharrte so regungslos, wie es ihm Renius beigebracht hatte, bis er hörte, wie die Luft mit einem Seufzer entwich und er wusste, wo sich die andere Person befand.
Im schmutzigen Stroh saß Alexandria, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, mit dem Rücken an die gegenüberliegende Wand gelehnt. Sie blickte auf, als sie ihn bemerkte, und er sah, dass Tränen durch den Schmutz in ihrem Gesicht gelaufen waren. Sie war ungefähr so alt wie er, vielleicht ein Jahr älter, erinnerte er sich. Die Erinnerung daran, wie Renius sie ausgepeitscht hatte, stieg wieder in ihm auf, verbunden mit einem stechenden Gefühl der Schuld.
Er seufzte. Er hatte keine Worte für sie. Langsam legte er die wenigen Schritte zurück und setzte sich neben sie an die Wand, wobei er darauf achtete, genug Abstand zwischen ihnen zu lassen, als er sich anlehnte, damit sie sich nicht bedroht fühlte. Es war still. Die Gerüche und die ganz eigene Stimmung hatten die Stallungen immer schon zu einem beruhigenden Ort für Gaius gemacht. Als er noch klein gewesen war, hatte er sich oft hierher geflüchtet, um sich vor Ärger oder einer drohenden Strafe zu verstecken. Eine Weile saß er in Gedanken versunken da, und obwohl sie kein einziges Wort wechselten, war den beiden die Situation nicht unangenehm. Die einzigen Geräusche waren die Bewegungen der Pferde und hin und wieder ein Schluchzen, das Alexandria immer noch entwich.
»Dein Vater war ein guter Mensch«, flüsterte sie endlich.
Er fragte sich, wie oft er diesen Satz noch hören würde, ehe der Tag um war, und ob er es aushalten würde. Er nickte stumm.
»Es tut mir so schrecklich Leid«, sagte er zu ihr und spürte eher, als dass er es sah, wie sie den Kopf hob und ihn ansah. Er wusste, dass sie getötet hatte, hatte sie blutverschmiert im Hof stehen gesehen, als er gestern Nacht herausgekommen war. Er glaubte zu verstehen, warum sie weinte, und er hatte sie eigentlich trösten wollen, doch die Worte lösten eine Welle des Schmerzes in ihm, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ er den Kopf auf die Brust sinken.
Alexandria sah ihn mit großen Augen überrascht an. Ehe sie darüber nachdenken konnte, hatte sie die Arme um ihn gelegt, und sie hielten einander in der Dunkelheit fest, ein kleiner Ort innigen Kummers, während die Welt draußen im Licht der Sonne ihren Gang ging. Sie strich ihm mit einer Hand über das Haar und flüsterte ihm tröstende Worte zu, während er sich immer wieder entschuldigte, bei ihr, bei seinem Vater, bei den Toten, bei denen, die er verbrannt hatte. Als er sich ausgeweint hatte, ließ sie ihn langsam los, im allerletzten Augenblick jedoch, ehe er zu weit entfernt war, presste sie ihre Lippen auf seine und spürte, wie er leicht zusammenzuckte. Sie zog sich zurück, umschlang ihre Knie mit den Armen, und ihr Gesicht brannte, unsichtbar im Dunkeln. Sie spürte seinen Blick, aber sie konnte ihn nicht erwidern.
»Warum hast du ...?«, murmelte er mit vom Weinen heiserer und verquollener Stimme.
»Ich weiß es nicht. Ich habe mich nur gefragt, wie es sein würde.«
»Und wie war es?«, erwiderte er, und seine Stimme wurde vor Belustigung wieder kräftiger. »Schrecklich. Jemand muss dir mal beibringen, wie man küsst.«
Er sah sie nachdenklich an. Vor wenigen Augenblicken war er noch in seinem Kummer ertrunken, der in ihm nicht weniger oder schwächer werden wollte. Jetzt bemerkte er, dass unter dem Schmutz und den Strohhalmen und dem Geruch von Blut - unter ihrer eigenen Trauer - ein einzigartiges Mädchen steckte.
»Ich habe den ganzen restlichen Tag Zeit, um es zu lernen«, sagte er leise. Die Worte stolperten umständlich an den nervösen Hindernissen in seiner Kehle vorbei.
Sie schüttelte den Kopf. »Auf mich wartet Arbeit. Ich sollte schon wieder in der Küche sein.«
Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob sie sich aus der Hocke und verließ die Box, als wolle sie einfach so ohne ein weiteres Wort gehen. Dann blieb sie stehen und sah ihn an.
»Danke, dass du gekommen bist, um mich zu suchen«, sagte sie und trat hinaus ins Sonnenlicht. Gaius sah ihr nach. Er fragte sich, ob ihr wohl klar war, dass er noch nie ein Mädchen geküsst hatte. Noch immer konnte er den leichten Druck auf seinen Lippen spüren, als hätte sie ihn gebrandmarkt. Sie hatte es doch wohl nicht wirklich schrecklich gefunden? Ihm fiel auf, wie steif sie sich jetzt wieder hielt, als sie den Stall verließ. Sie war wie ein Vogel mit einem gebrochenen Flügel, aber mit der Zeit, in anderer Umgebung und in der Gesellschaft von Freunden, würde sie wieder gesund werden. Genau wie er, wurde ihm klar.
Marcus und Tubruk lachten gerade über eine Bemerkung Caberas, als Gaius in das Zimmer trat. Bei seinem Anblick verstummten sie alle.
»Ich bin gekommen ... um euch zu danken. Für das, was ihr auf der Mauer getan habt«, fing Gaius an.
Marcus unterbrach ihn, ging auf ihn zu und ergriff seine Hand. »Du brauchst mir nie für etwas zu danken. Ich schulde deinem Vater mehr, als ich jemals zurückzahlen könnte. Ich habe mit Bedauern gehört, dass er am Ende gefallen ist.«
»Wir haben es überstanden. Meine Mutter lebt, ich lebe. Er würde es wieder tun, wenn er die Wahl hätte, das weiß ich. Du bist verwundet worden?«
»Kurz bevor es vorbei war. Aber nichts Ernstes. Ich war unverwundbar. Cabera sagt, aus mir wird mal ein großer Kämpfer.« Marcus grinste.
»Natürlich nur, falls er sich nicht vorher umbringen lässt. Das würde seine Karriere ein wenig behindern«, murmelte Cabera vor sich hin, während er sich damit beschäftigte, Wachs auf das Holz seines Bogens aufzutragen.
»Wie geht es Renius?«, erkundigte sich Gaius.
Beide schienen bei der Frage einen Augenblick zu zögern. Marcus wich seinem Blick aus. Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte Gaius.
»Er wird überleben, aber es wird lange dauern, bis er wieder in Form ist«, sagte Marcus. »In seinem Alter würde eine Infektion sein Ende bedeuten, aber Cabera meint, er schafft es.«
»Er schafft es«, bestätigte Cabera.
Gaius seufzte und setzte sich. »Und was passiert jetzt? Ich bin zu jung, um den Platz meines Vaters einzunehmen, seine Interessen in Rom zu vertreten. Um ehrlich zu sein, wäre ich nicht damit zufrieden, nur das Gut zu leiten, aber ich hatte nie Zeit, seine restlichen Angelegenheiten kennen zu lernen. Ich weiß nicht, wer sich um sein Vermögen gekümmert hat, oder wo die Besitzurkunden für das Land sind.« Er wendete sich an Tubruk. »Ich weiß, dass du über einiges informiert bist und würde dir das Kapital anvertrauen, bis ich älter bin, aber was soll ich jetzt machen? Weiterhin Lehrer für mich und Marcus anstellen? Das Leben kommt mir plötzlich unbestimmt vor, zum ersten Mal ohne Richtung.«
Cabera hörte bei diesem Ausbruch mit dem Polieren auf.
»Jeder hat einmal dieses Gefühl. Glaubst du etwa, ich habe mir, als ich ein kleiner Junge war, vorgenommen, eines Tages hier zu landen? Das Leben hat nun mal die Angewohnheit, plötzlich unerwartete Wendungen zu nehmen. Ich würde es gar nicht anders haben wollen, so schmerzhaft es auch sein mag. Zu viel von der Zukunft ist schon festgelegt, da ist es gut, wenn wir nicht jede Einzelheit kennen, sonst wäre das Leben nichts anderes als eine graue, langweilige Spielart des Todes.«
»Du musst eben schnell lernen, das ist alles«, fuhr Marcus fort. Sein Gesicht strahlte vor Begeisterung.
»Bei dem augenblicklichen Zustand Roms? Wer soll mir da etwas beibringen? Wir leben nicht in Frieden und Wohlstand, wo man über meinen Mangel an politischen Fähigkeiten hinwegsehen könnte. Mein Vater hat das immer sehr deutlich gemacht. Er hat gesagt, Rom sei voller Wölfe.« Tubruk nickte finster. »Ich werde tun, was ich kann, aber schon jetzt werden einige ein Auge auf die Güter geworfen haben, weil sie geschwächt wurden und vielleicht billig aufgekauft werden können. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, ohne Schutz zu sein.«
»Aber ich weiß nicht genug, um uns zu beschützen!«, fuhr Gaius fort. »Der Senat könnte mir alles wegnehmen, was ich besitze, wenn ich zum Beispiel keine Steuern bezahle, aber wie bezahle ich sie? Wo ist das Geld, wo nehme ich es her, und wie viel soll ich zahlen? Wo sind die Namen der Kunden meines Vaters? Versteht ihr?«
»Beruhige dich«, sagte Cabera und strich wieder langsam über das Holz seines Bogens. »Denk lieber nach. Lass uns mit dem anfangen, was du hast, und nicht mit dem, was du nicht weißt.« Gaius atmete tief durch und wünschte sich wieder, sein Vater wäre da, um der unerschütterliche Fels der Gewissheit in seinem Leben zu sein.
»Ich habe dich, Tubruk. Du kennst das Gut, aber nicht die anderen Geschäfte. Keiner von uns versteht etwas von Politik und von den Vorgängen im Senat.«
Wieder sah er Cabera und Marcus an. »Ich habe euch beide und ich habe Renius, aber keiner von uns war auch nur ein einziges Mal in den Kammern des Senats, und die Verbündeten meines Vaters sind alle Fremde für uns.«
»Konzentriere dich auf das, was wir haben, sonst verzweifelst du. Bisher hast du schon ein paar sehr fähige Leute aufgezählt. Es wurden schon Armeen mit weniger aufgestellt. Was noch?« »Meine Mutter und ihr Bruder Marius, aber mein Vater hat immer gesagt, er wäre der größte Wolf von allen.«
»Wir brauchen jetzt aber einen großen Wolf. Jemanden, der sich in der Politik auskennt. Er ist von deinem Blut, du musst ihn aufsuchen«, sagte Marcus leise.
»Ich weiß nicht, ob ich ihm trauen kann«, wandte Gaius mit düsterem Blick ein.
»Er wird deine Mutter nicht im Stich lassen. Er muss dir helfen, die Kontrolle über das Gut zu behalten, selbst wenn er es nur für sie tut«, erklärte Tubruk.
Gaius stimmte langsam zu.
»Das stimmt. Er hat ein Haus in Rom, dort könnte ich ihn besuchen. Es gibt niemand anderen, der helfen könnte, also muss er es sein. Aber ich kenne ihn kaum. Seit meine Mutter krank geworden ist, war er kaum noch hier.«
»Das dürfte keine Rolle spielen. Er wird dich nicht abweisen«, sagte Cabera friedlich und musterte den Glanz, den er dem Bogen gegeben hatte.
Marcus sah den alten Mann scharf an. »Du scheinst dir ja sehr sicher zu sein«, sagte er.
Cabera zuckte die Achseln. »Nichts ist sicher auf dieser Welt.«
»Dann ist es also beschlossen. Ich schicke einen Boten voraus und werde meinen Onkel aufsuchen«, sagte Gaius, schon etwas weniger schwermütig.
»Ich begleite dich«, sagte Marcus schnell. »Du bist immer noch nicht von deinen Wunden genesen, und in Rom ist es im Augenblick nicht sehr sicher, wie du gehört hast.«
Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte Gaius wirklich.
Cabera murmelte etwas vor sich hin. »Wisst ihr, ich bin eigentlich in dieses Land gekommen, um Rom zu sehen. Ich habe in abgeschiedenen Bergdörfern gelebt und bin bei meinen Reisen auf Stämme gestoßen, die man schon für ausgestorben hielt. Ich habe geglaubt, ich hätte alles gesehen, aber ständig haben mir die Leute erzählt, ich müsse Rom sehen, ehe ich sterbe. Ich habe zu ihnen gesagt: >Dieser See ist wirklich wunderschöne, und sie erwiderten: >Du solltest dir Rom ansehen.< Sie haben gesagt, es sei eine wunderbare Stadt, der Mittelpunkt der Welt, und trotzdem habe ich seine Mauern noch nie durchschritten.«
Die Jungen lächelten beide über die durchsichtige Taktik des alten Mannes.
»Natürlich darfst du mitkommen. Ich betrachte dich als Freund des Hauses. Du wirst überall willkommen sein, wo ich bin, bei meiner Ehre«, erwiderte Gaius in feierlichem Tonfall, als wiederholte er einen Schwur.
Cabera legte den Bogen beiseite und erhob sich mit ausgestreckter Hand. Gaius empfing sie mit festem Griff.
»Auch du wirst immer an meinem Feuer willkommen sein«, sagte Cabera. »Mir gefällt das hiesige Klima und die Menschen. Ich glaube, meine Reisen werden noch eine Weile warten müssen.«
Gaius ließ seine Hand wieder los und schaute nachdenklich in die Runde.
»Ich werde gute Freunde um mich herum brauchen, wenn ich mein erstes Jahr in der Politik überleben will. Mein Vater hat immer gesagt, es sei, als laufe man barfuß durch ein Vipernnest.« »Er scheint eine recht blumige Ausdrucksweise gehabt zu haben, und keine sehr hohe Meinung von seinen Kollegen«, sagte Cabera mit trockenem Lachen. »Wir werden vorsichtig auftreten und hin und wieder einen Kopf zertrampeln, wenn es nötig wird.«
Alle vier lächelten und spürten die Kraft, die trotz der Unterschiede in Alter und Herkunft aus einer solchen Freundschaft entstehen kann.
»Ich würde gern Alexandria mitnehmen«, fügte Gaius plötzlich hinzu.
»Ach ja? Die Hübsche?«, erwiderte Marcus und sein Gesicht begann zu strahlen.
Gaius spürte, dass seine Wangen rot wurden, und hoffte, dass es nicht allzu offensichtlich war. Den Gesichtern der anderen nach zu urteilen, hoffte er vergebens.
»Du wirst mir dieses Mädchen vorstellen müssen«, sagte Cabera.
»Renius hat sie mal ausgepeitscht, weil sie uns von unseren Übungen abgelenkt hat«, fuhr Marcus fort.
Cabera stieß ein Geräusch der Missbilligung aus. »Er kann sehr uncharmant sein. Schöne Frauen sind eine der Freuden des Lebens .«
»Hört mal, ich ...«, hob Gaius an.
»Ja, ich weiß schon, sie soll nur die Pferde halten oder so etwas. Ihr Römer habt eine Art mit den Frauen, es ist ein Wunder, dass euer Volk noch nicht ausgestorben ist.«
Kurz darauf verließ Gaius das Zimmer, während die anderen noch lachten.
Gaius klopfte an die Tür des Zimmers, in dem Renius lag. Im Augenblick war er allein, obwohl Lucius in der Nähe war und gerade erst nach den Wunden und Nähten gesehen hatte. Im Zimmer war es dunkel, und Gaius dachte zunächst, der alte Mann schliefe.
Schon wandte er sich wieder um, weil er die Ruhe des Genesenden nicht stören wollte, doch eine flüsternde Stimme hielt ihn zurück.
»Gaius? Ich dachte mir, dass du es bist.«
»Renius. Ich wollte dir danken.« Gaius trat ans Bett und zog einen Stuhl neben die darin liegende Gestalt. Die Augen waren geöffnet und klar, und Gaius blinzelte, als er das Gesicht betrachtete.
Es musste an dem schwachen Licht liegen, aber Renius sah jünger aus. Es konnte nicht sein, doch es war nicht zu leugnen, dass einige der tief eingegrabenen Runzeln schwächer geworden waren, und an den Schläfen waren ein paar schwarze Haare zu sehen, die in dem Licht fast unsichtbar waren, sich aber deutlich von den weißen Stoppeln abhoben.
»Du siehst ... gut aus«, brachte Gaius hervor.
Renius stieß ein kurzes, hartes Lachen aus. »Cabera hat mich geheilt, und das hat Wunder gewirkt. Er war überraschter als alle anderen und hat gesagt, ich müsse eine Bestimmung oder so etwas haben, um so von ihm beeinflusst werden zu können. Um die Wahrheit zu sagen, ich fühle mich stark, obwohl mein linker Arm immer noch nutzlos ist. Lucius wollte ihn abnehmen, damit er nicht so rumbaumelt. Ich . vielleicht gebe ich meine Zustimmung, wenn der Rest von mir wieder gesund ist.«
Gaius hörte schweigend zu und kämpfte gegen schmerzhafte Erinnerungen an.
»So viel ist in so kurzer Zeit passiert«, sagte er. »Ich bin froh, dass du noch hier bist.«
»Ich konnte deinen Vater nicht retten. Ich war zu weit weg und selbst am Ende. Cabera sagt, er sei auf der Stelle gestorben, durch ein Messer in seinem Herzen. Er hat höchstwahrscheinlich selbst gar nichts davon gemerkt.«
»Es ist schon gut. Du brauchst mir das nicht zu erzählen. Ich weiß, dass er auf der Mauer sein wollte. Ich wäre auch gerne dort gewesen, aber man hat mich in meinem Zimmer gelassen, und .«
»Du bist aber trotzdem rausgekommen, oder? Ich bin froh darüber, so wie es gelaufen ist. Tubruk sagt, du hättest ihn ganz am Schluss gerettet, wie eine ... Reservestreitmacht.« Der alte Mann lächelte und hustete eine Weile. Gaius wartete geduldig, bis der Anfall vorüber war.
»Du wurdest auf meinen Befehl hin aus dieser Sache rausgehalten. Du warst zu schwach für einen stundenlangen Kampf, und dein Vater war auch meiner Meinung. Er wollte dich in Sicherheit wissen. Trotzdem bin ich froh, dass du am Ende rausgekommen bist.«
»Ich auch. Ich habe mit Renius gekämpft!«, sagte Gaius, und Tränen standen ihm in den Augen, obwohl er lächelte.
»Ich kämpfe immer mit Renius«, brummte der alte Mann. »So toll ist das nun auch wieder nicht.«