35

Marcus wartete geduldig im Vorraum der Gemächer des Lagerpräfekten. Um sich die Zeit zu vertreiben, bis er zu der Sitzung hineingerufen wurde, die über seine Zukunft entschied, las er den Brief von Gaius noch einmal durch. Er war viele Monate unterwegs gewesen und von einer Legionärshand zur anderen weitergereicht worden, bis er schließlich in Illyrien angekommen war. Schließlich war er einem Bündel von Befehlen an die Vierte Makedonische hinzugefügt und am Zielort dem jungen Offizier ausgehändigt worden.

Marius’ Tod war ein schwerer Schlag gewesen. Marcus hatte dem Legaten beweisen wollen, dass sein Vertrauen in ihn gerechtfertigt war. Er hatte ihm seinen Dank als gestandener Mann ausdrücken wollen, doch das war jetzt nicht mehr möglich. Obwohl er Sulla nie persönlich begegnet war, fragte er sich, ob der Konsul jetzt eine Gefahr für ihn und für Gaius darstellte -nein, er hieß ja jetzt Julius.

Als er von der Hochzeit las, musste er grinsen, und bei den wenigen Zeilen über Alexandria zuckte er zusammen, denn er las mehr zwischen ihnen, als Julius ihm enthüllte. Cornelia schien, wenn man Julius’ Worte ernst nahm, der reinste Engel zu sein. Eigentlich war das die einzige gute Nachricht in dem ganzen Brief.

Als die schwere Tür zu den Innenräumen aufging, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Ein Legionär kam heraus und salutierte. Marcus erhob sich und erwiderte den Gruß.

»Der Präfekt ist bereit, dich zu empfangen«, sagte der Mann.

Marcus nickte, marschierte hinein und blieb, wie es vorgeschrieben war, drei Schritte vor dem Eichentisch des Präfekten in Habachtstellung stehen. Bis auf einen Krug Wein, ein Tintenfass und ein paar säuberlich arrangierte Pergamente war der Schreibtisch leer.

Renius stand mit einem Becher Wein in der Hand in der Ecke. Ebenso Leonides, der Zenturio der Bronzefaust. Carac, der Lagerpräfekt, erhob sich, als der junge Mann eintrat und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, sich zu setzen. Marcus ließ sich in einem schweren Stuhl nieder und saß kerzengerade da.

»Rühren, Legionär. Wir sind hier nicht beim Kriegsgericht«, murmelte Carac, dessen Blick über die Urkunden auf dem Schreibtisch wanderte.

Marcus versuchte, eine etwas entspanntere Haltung einzunehmen.

»In zwei Wochen sind deine zwei Jahre um, wie du sicherlich selbst weißt«, sagte Carac.

»Jawohl, Herr.«

»Du hast dich bis jetzt hervorragend geführt. Kommando eines Contubernium, erfolgreiche Aktionen gegen die wilden Stämme, Gewinner des Schwertkampfwettbewerbs der Bronzefaust im vergangenen Monat. Wie ich höre, respektieren dich die Männer trotz deiner Jugend und erkennen deine Verlässlichkeit in kritischen Situationen an. Manche würden sagen, besonders in kritischen Situationen. Ein Offizier meinte, dass du dich im Alltag recht gut aufführst, dich aber in der Schlacht oder wenn es Schwierigkeiten gibt, vor allen anderen auszeichnest. Eine wertvolle Eigenschaft bei einem jungen Offizier, die zu einem aktiven Leben in der Legion passt. Wenn es deinem Wunsch entspricht, gibt es für dich überall in der Legion einen Posten und Arbeit.« Marcus nickte vorsichtig, und Carac zeigte auf Leonides.

»Dein Zenturio weiß nur Gutes über dich zu berichten, und die Art und Weise, wie du mit den diebischen Anwandlungen dieses Jungen ... Peppis ... umgegangen bist ... Zuerst hat es einiges Gerede gegeben, ob du dich mit deinem Eigensinn in die Legion einfügen kannst, aber du hast dich der Vierten Makedonischen gegenüber als loyal und ehrenhaft erwiesen. Kurz gesagt, mein Junge, ich sähe es sehr gerne, wenn du bei uns verlängern würdest, verbunden mit einer Beförderung zum Kommandeur einer halben Legion. Mehr Sold und mehr Status, und Zeit genug, um, falls nötig, für Schwertwettkämpfe zu trainieren. Was sagst du dazu?«

»Darf ich offen sprechen, Herr?«, fragte Marcus, dem das Herz in der Brust hämmerte.

Carac runzelte die Stirn. »Selbstverständlich«, erwiderte er. »Dein Angebot ist großzügig. Die beiden Jahre bei der Makedonischen sind für mich eine gute Zeit gewesen. Ich habe hier Freunde gewonnen. Trotzdem ... Herr, ich bin auf dem Landgut eines Römers aufgewachsen, der nicht mein Vater war. Sein Sohn und ich waren wie Brüder, und ich habe geschworen, ihn zu unterstützen, sein Schwert zu sein, wenn wir Männer sind.« Er spürte Renius’ Blick auf sich ruhen und fuhr fort. »Er ist zurzeit bei der Dritten Parthischen, einer Flotten-Legion, und hat noch etwas mehr als ein Jahr zu dienen. Wenn er nach Rom zurückkehrt, würde ich mich ihm dort gern wieder anschließen, Herr.«

»Renius hat mir bereits ein wenig von der Geschichte zwischen diesem ... Gaius Julius und dir erzählt. Ich habe viel Verständnis für solche Treue. Sie hebt uns womöglich im Feld über den Status bloßer Tiere hinaus.« Carac lächelte gut gelaunt, und Marcus sah kurz zu den beiden anderen hinüber, überrascht, nichts von dem befürchteten Tadel zu bemerken.

Leonides erhob seine tiefe, ruhige Stimme. »Hast du wirklich geglaubt, wir würden das nicht verstehen? Mein Sohn, du bist noch sehr jung. Du wirst noch in vielen Legionen dienen, bevor du dich auf einem kleinen Stück Land zur Ruhe setzen kannst. Am wichtigsten aber ist, dass du Rom dienst, beständig und ohne Murren. Wir drei haben unser Leben diesem Ziel gewidmet. Wir wollen Rom sicher und stark machen, von aller Welt beneidet.«

Marcus sah die drei Männer der Reihe nach an und ertappte Renius dabei, wie er hinter dem eilig an die Lippen gesetzten Weinbecher ein Grinsen verbarg. Gemeinsam waren sie die Verkörperung dessen, was er als kleiner Junge immer hatte werden wollen, waren durch ihre Überzeugungen, ihre Loyalität und ihr Blut zu etwas Unbeugsamem zusammengeschweißt.

Carac nahm ein auf dickem Pergament verfasstes Dokument vom Schreibtisch.

»Renius war der Meinung, das hier sei die einzige Möglichkeit, dich bis zur Teilnahme am Graeca-Schwertwettkampf im Winter in der Legion zu halten. Damit verpflichtest du dich für ein Jahr und einen Tag.« Er reichte das Dokument an Marcus weiter, dessen Kehle sich vor Ergriffenheit zusammenzog.

Er hatte damit gerechnet, seine Offiziersausrüstung zurückzugeben, seinen ausstehenden Sold einzustreichen und sich dann allein auf die Rückreise nach Italien zu machen. Dieses Angebot, ausgerechnet in dem Augenblick, als ihm die Zukunft so düster erschienen war, kam ihm wie ein Geschenk der Götter vor. Er fragte sich, inwieweit Renius dabei seine Finger im Spiel hatte und kam zu dem Schluss, dass es letztendlich völlig egal war. Er wollte bei der Makedonischen bleiben und hatte sich insgeheim ohnehin zwischen der Treue zu seinem Kindheitsfreund und der Befriedigung, die er bei seiner eigenen Familie, der Legion, gefunden hatte, hin und hergerissen gefühlt.

Nun blieb ihm ein weiteres Jahr, um zu wachsen und zu gedeihen. Seine Augen weiteten sich ein wenig, als er das in kompliziertem Latein abgefasste Dokument durchlas. Carac bemerkte es sofort.

»Wie du siehst, haben wir die Beförderung bereits darin aufgenommen. Du kommandierst fünfzig Mann unter Leonides und bist direkt seinem Optio Daritus verantwortlich. Ich schlage vor, dass du den neuen Rang ganz unvoreingenommen antrittst. Fünfzig Mann sind etwas anderes als acht. Du bekommst es mit völlig neuen Problemen zu tun, die Kampfausbildung erfordert eine Vielzahl von Fähigkeiten. Es wird ein schweres Jahr werden, voller Herausforderungen, aber ich denke, es könnte dir gefallen.«

»Bestimmt, Herr. Ich danke dir. Es ist mir eine Ehre.«

»Eine Ehre, die du dir verdient hast, junger Mann. Ich habe erfahren, was im Lager der Blauhäute geschehen ist. Die Information, die du von dort mitgebracht hast, hat dazu beigetragen, unsere Politik ihnen gegenüber zu überdenken. Wer weiß, vielleicht treiben wir in ein paar Jahren schon Handel mit ihnen.« Carac hatte sichtlich Freude daran, dem Jungen gegenüber als Überbringer guter Nachrichten aufzutreten, und Renius betrachtete das Ganze zustimmend.

Das wird mein Jahr werden, gelobte sich Marcus insgeheim, während er das Dokument bis zu Ende las und zur Kenntnis nahm, wie viele Unzen Öl und Salz er sich aus dem Proviantlager holen durfte, wie hoch seine Zuwendungen für Reparaturen und Verlust waren, und so weiter.

Der neue Posten beinhaltete tausenderlei neue Anforderungen, die er sich rasch aneignen musste. Auch der Sold bedeutete eine gewaltige Verbesserung. Er wusste, dass Julius’ Familie ihn unterstützen würde, wenn er sie darum bat, doch der Gedanke, bei seiner Rückkehr nach Rom auf Almosen angewiesen zu sein, hatte trotzdem an ihm genagt. Jetzt konnte er selbst ein bisschen sparen und mit ein paar Goldmünzen in der Tasche nach Hause zurückkehren.

Da kam ihm ein anderer Gedanke.

»Bleibst du auch bei der Makedonischen?«, fragte er Renius.

Der alte Soldat zuckte die Achseln und trank einen Schluck Wein.

»Gut möglich. Mir gefällt die gute Gesellschaft hier. Aber denk daran, ich bin schon lange über das Ruhestandsalter hinaus. Carac muss jedes Mal an den Besoldungszahlen herumfeilen, bevor er sie einschickt. Außerdem würde ich gern sehen, was Sulla aus der Stadt gemacht hat. Ich habe gehört, er bringt Rom ganz schön ins Gerede. Ich würde gern mal nachsehen, ob er sich ordentlich um das alte Mädchen kümmert, und im Gegensatz zu dir stehe ich als Schwertmeister nicht unter Vertrag.«

Carac seufzte. »Auch ich würde Rom gern wiedersehen. Ich bin schon seit vierzehn Jahren hier stationiert. Aber ich darf mich nicht beschweren, ich wusste ja, was auf mich zukommt, als ich in die Legion eingetreten bin.« Er schenkte allen Anwesenden Wein ein und füllte Renius den ausgestreckten Becher erneut.

»Trinken wir auf Rom, meine Herren, und auf das nächste Jahr.«

Alle erhoben sich und stießen mit fröhlichem Lächeln an.

Marcus stellte seinen Becher ab, nahm die Feder aus dem Tintenfass und unterschrieb das Dokument mit seinem vollen Namen.

»Marcus Brutus«, schrieb er.

Carac langte über den Schreibtisch und packte seinen rechten Arm mit festem Griff.

»Eine gute Entscheidung, Brutus.«

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