19

Marcus klammerte sich verzweifelt an den Querbalken des Mastes. Hier, am höchsten Punkt des Schiffs, kam es ihm so vor, als schwinge er mit dem Mast von einem Horizont zum anderen. Das Meer unter ihm war grau und mit schäumenden, weißen Wellen übersät, die keine Gefahr für das robuste kleine Schiff darstellten. Sein Magen drehte sich, und jeder Teil von ihm antwortete mit Unbehagen. Bis zum Mittag waren alle seine Blutergüsse steif geworden, und jetzt fiel es ihm schwer, den Kopf nach rechts zu drehen, ohne dass der Schmerz schwarze und weiße Punkte vor seinen Augen flimmern ließ.

Über ihm stand, barfuß und ohne sich irgendwo festzuhalten, ein Matrose auf der Rah, der als Erster den Dolch gewinnen wollte. Der Mann grinste ihn an, nicht boshaft, aber die Herausforderung war eindeutig: Marcus sollte neben ihn treten und das Risiko eingehen, ins Meer oder, noch schlimmer, auf das Deck tief unter ihm zu stürzen.

»Von unten sahen die Masten gar nicht so hoch aus«, knurrte Marcus durch zusammengebissene Zähne.

Der Matrose kam lässig zu ihm herüber. Er war absolut im Gleichgewicht und passte seinen Schwerpunkt pausenlos dem Rollen und Stampfen des Schiffs an.

»Hoch genug, um dich zu töten. Aber der Erste Maat konnte auch die Rah entlanglaufen. Es ist deine Entscheidung.«

Er wartete geduldig und überprüfte zwischendurch aus alter Gewohnheit, ob die Knoten und Taue straff saßen. Marcus biss die Zähne zusammen, hob sich über die Querstange und drückte seinen rebellierenden Magen dagegen. Unten sah er die anderen Männer und erkannte einige Gesichter, die nach oben schauten und sehen wollten, ob es ihm gelang. Oder vielleicht auch nur, um rechtzeitig beiseite zu springen, falls er fiel.

Die Spitze des Mastes, die voller Taue hing, befand sich in Griffweite, und er benutzte sie, um sich weit genug hochziehen und einen Fuß auf das Rundholz stellen zu können. Das andere Bein hing herunter, und einen Augenblick lang nutzte er seine Pendelbewegung, um sein Gleichgewicht zu finden. Nach einem weiteren schmerzhaften Aufbäumen seiner gepeinigten Muskeln hockte er auf der Rahe und hielt sich mit beiden Händen am Mast fest, während seine Knie fast höher waren als sein Kinn. Er sah zu, wie sich der Horizont bewegte, und hatte plötzlich das Gefühl, als stünde das Schiff still und die ganze Welt wirbele um ihn herum. Jetzt war ihm schwindlig, und er schloss die Augen, was jedoch nur wenig half.

»Komm schon«, sprach er sich Mut zu. »Einen guten Gleichgewichtssinn hast du doch.«

Seine Hände zitterten, als er den Mast losließ und das Geschaukel mit den Beinmuskeln ausglich. Dann erhob er sich langsam wie ein alter Mann, bereit, jederzeit sofort den Mast zu ergreifen, sobald er das Gleichgewicht verlor. Aus einer gebeugten Haltung richtete er sich auf, bis er mit hängenden Schultern aufrecht stand, die Augen unverwandt auf den Mast gerichtet. Dann beugte er die Knie ein wenig und versuchte, sich der Bewegung durch die Luft anzupassen.

»Du hast Glück. Heute ist es nicht sehr windig«, sagte der Matrose gleichmütig. »Ich war mal bei einem Sturm hier oben und habe versucht, ein zerrissenes Segel festzubinden. Das hier ist gar nichts.«

Marcus hielt sich mit einer Antwort zurück. Einen Mann, der sechzig Fuß über dem Deck so entspannt mit verschränkten Armen dastehen konnte, wollte er nicht verärgern. Er starrte ihn an, und zum ersten Mal, seit er diese Höhe erreicht hatte, hatten sich seine Augen vom Mast gelöst. Der Matrose nickte. »Du musst einmal quer rüberlaufen. Von deinem Ende bis zu meinem. Dann darfst du wieder runter. Wenn du die Nerven verlierst, gib mir den Dolch, ehe du hinunterkletterst. Man kommt sonst nicht so gut ran, wenn du auf die Planken knallst.«

Das wiederum konnte Marcus gut verstehen. Der Mann versuchte ihn nervös zu machen und erreichte damit das genaue Gegenteil. Er wusste, dass er sich auf seine Reflexe verlassen konnte. Wenn er fiel, würde ihm genügend Zeit bleiben, sich an irgendetwas festzuhalten. Also würde er die Höhe und die Bewegungen einfach nicht weiter beachten und es riskieren. Er richtete sich ganz auf, machte kleine Schritte zurück zum Rand und beugte sich vor, als der Mast fest entschlossen schien, ihn bis zur Meeresoberfläche hinunterzutauchen, ehe er sich nach einem Augenblick wieder aufrichtete und erneut nach vorne kippte. Dann kam es ihm vor, als blicke er einen Berghang hinunter, den nur der lässig dastehende Matrose verdeckte.

»Na gut«, sagte er und streckte die Arme aus, um die Balance zu halten. »In Ordnung.«

Mit kleinen Schritten bewegte er sich voran, wobei er die Sohlen seiner nackten Füße nie vom Holz löste. Er wusste, dass der Matrose hier mit Leichtigkeit entlanggehen konnte, doch er hatte nicht vor, jahrelange Erfahrung mit ein paar atemberaubenden Schritten wettzumachen. Stattdessen schob er sich ganz langsam vorwärts, und sein Selbstvertrauen wuchs gewaltig an, bis er das Schaukeln fast genoss, sich im Gleichklang mit der Bewegung hin- und herbeugte und über sie lachte.

Der Matrose sah ihn ungerührt an, als er ihn erreichte.

»Reicht das?«, fragte Marcus.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Bis zum Ende, habe ich gesagt. Du hast noch gut drei Fuß vor dir.«

Marcus sah ihn verärgert an. »Du stehst mir im Weg, Mann!« Er sollte doch wohl kaum auf einem Stück Holz, das kaum breiter war als sein Oberschenkel, um den anderen herumgehen? »Dann sehen wir uns unten«, sagte der Mann und trat von dem Querbalken herunter.

Marcus stockte der Atem, als die Gestalt an ihm vorbeischoss. In dem Augenblick, als er die Hand, die sich an dem Balken festhielt, und das Gesicht, das zu ihm emporgrinste, erblickte, verlor er das Gleichgewicht und fing an, in Panik hin- und herzuschwanken. Er wusste, dass er gleich auf das Deck aufschlagen würde. Noch mehr Gesichter trieben in sein Gesichtsfeld. Sie schienen alle nach oben zu blicken, blasse Schemen mit ausgestreckten Fingern.

Marcus ruderte wie wild mit den Armen und beugte sich in heftigen Zuckungen vor und zurück, um nicht in die Tiefe zu stürzen. Er fand sein Gleichgewicht wieder, konzentrierte sich auf die Rah, ignorierte die Tiefe unter sich und versuchte, den Rhythmus seiner Muskeln wieder zu finden, der ihm noch vor wenigen Augenblicken solchen Spaß bereitet hatte.

»Fast wärst du gefallen«, sagte der Matrose, der immer noch lässig an einem Arm von der Rah hing und die Höhe gar nicht wahrzunehmen schien. Es war ein raffinierter Trick gewesen, und beinahe hätte er funktioniert. Lachend und kopfschüttelnd wollte der Mann gerade nach einem Tau greifen, als Marcus auf die Finger trat, die sich an dem Querbalken festhielten.

»He!«, schrie er, aber Marcus beachtete ihn nicht und legte sein gesamtes Gewicht auf die Ferse, während er die Bewegungen der Lucidae ausglich. Plötzlich machte ihm das Ganze wieder Spaß, und er tat einen tiefen, reinigenden Atemzug. Die Finger wanden sich unter ihm und in der Stimme des Matrosen hörte man einen Anflug von Panik, als er merkte, dass er das nächste Tau nicht ganz erreichen konnte, selbst wenn er es mit den Beinen versuchte. Wäre seine Hand frei gewesen, hätte er mit Leichtigkeit schwingen und loslassen können, derart festgehalten jedoch konnte er nur baumeln und fluchen.

Ohne Warnung nahm Marcus den Fuß weg, um den letzten Schritt zum Ende der Rah zu machen und vernahm mit Freude die kratzenden Geräusche unter sich, als der Matrose vollkommen überrascht abrutschte und sich verzweifelt festzuhalten versuchte. Marcus schaute nach unten und sah den wütenden Blick des Mannes, der sich anschickte, wieder auf den Querbalken zurückzuklettern. Die Mordlust stand ihm ins Gesicht geschrieben. Marcus eilte schnell zur Mitte der Rah zurück, wo er sich hinsetzte und den Mast fest mit den Oberschenkeln umklammerte. Da er sich immer noch unsicher fühlte, legte er sein linkes Bein weiter unten um den Mast, um sich abzustützen. Er zog Marius’ Dolch hervor und begann seine Initialen ganz oben in das Holz zu schnitzen.

Der Matrose sprang fast auf den Querbalken, blieb an dessen Ende stehen und funkelte ihn böse an. Marcus ignorierte ihn, aber er konnte die Gedanken des Mannes fast hören, als ihm klar wurde, dass er unbewaffnet war und sein überlegener Gleichgewichtssinn durch Marcus’ festen Halt am Mast ausgeglichen wurde. Wenn er nahe genug an Marcus heran wollte, um ihn hinunterzustoßen, riskierte er einen Dolch im Hals. Die Sekunden verstrichen.

»Na gut. Du kannst das Messer behalten. Klettern wir wieder nach unten.«

»Du zuerst«, sagte Marcus ohne aufzusehen.

Er hörte, wie die Geräusche, die der Matrose beim Abstieg machte, leiser wurden und schloss seine Schnitzarbeit ab. Alles in allem war er enttäuscht. Wenn er sich weiter in diesem Tempo Feinde machte, würde eines Nachts tatsächlich ein Messer auf ihn warten.

Diplomatie, stellte er fest, war doch schwieriger, als er angenommen hatte.

Renius war nicht da, um ihm zu seiner sicheren Rückkehr auf Deck zu gratulieren, deshalb setzte Marcus seinen Rundgang auf dem Schiff alleine fort. Nach der ersten Begeisterung über die Aussicht, den Dolch gewinnen zu können, waren die Blicke, die ihn empfingen, jetzt desinteressiert oder offen feindselig. Marcus verschränkte die Hände hinter dem Rücken, um das unkontrollierbare Zittern zu unterdrücken, das sie befallen hatte, als seine Füße wieder das sichere Holz des Decks berührt hatten. Er erwiderte jeden Blick mit einem Nicken, als wären es Grußworte, und zu seiner Überraschung nickte der eine oder andere zurück. Vielleicht geschah es nur aus Gewohnheit, aber es beruhigte ihn ein wenig.

Ein Matrose, der sein langes Haar mit einem blauen Stoffstreifen zurückgebunden hatte, suchte offensichtlich Marcus’ Blick. Er machte einen freundlichen Eindruck, deshalb blieb Marcus stehen.

»Und was machst du hier?«, fragte er, nun etwas vorsichtiger.

»Komm mit zum Heck ... Erster Maat«, sagte der Mann, ging voraus und winkte ihn mit sich. Marcus folgte ihm nach achtern zu den Rudern.

»Mein Name ist Crixus. Ich mache hier alles Mögliche, was immer gerade so anfällt, aber meine Spezialität ist es, die Ruder zu befreien, wenn sich irgendetwas in ihnen verfangen hat. Das können Algen sein, aber meistens sind es Fischernetze.«

»Und wie befreist du sie?«

Marcus konnte sich die Antwort schon denken, aber er fragte trotzdem und versuchte, unbeschwert und freundlich interessiert zu klingen. Er war noch nie ein guter Schwimmer gewesen, wohingegen sich der Brustkasten des Manns geradezu lächerlich weit ausdehnte, wenn er einatmete.

»Nach deinem kleinen Spaziergang auf dem Mast wird dir das hier leicht fallen. Ich springe nur über Bord, tauche hinab zu den Rudern und schneide mit meinem Messer alles los, was sich darum gewickelt hat.«

»Das klingt nach einer gefährlichen Aufgabe«, erwiderte Marcus und freute sich über das entspannte Grinsen, das er als Antwort erhielt.

»Das ist es auch, wenn dort unten Haie sind. Sie folgen der Lucidae, weißt du, falls wir Abfall über Bord werfen.«

Marcus kratzte sich am Kinn und versuchte sich zu erinnern, was ein Hai war.

»Sind sie groß, diese Haie?«

Crixus nickte mit Nachdruck. »Bei den Göttern, ja. Einige von ihnen könnten einen Menschen auf einen Bissen verschlucken! In der Nähe meines Dorfes wurde mal einer angespült, der hatte einen halben Mann in seinem Bauch. Er muss ihn in der Mitte durchgebissen haben.«

Marcus sah den anderen an und vermutete, dass hier wieder jemand versuchte, ihm Angst zu machen.

»Und was tust du, wenn du dort unten diesen Haien begegnest?«, fragte er.

Crixus lachte. »Man muss ihnen auf die Nase schlagen. Dann vergeht ihnen der Appetit.«

»In Ordnung«, sagte Marcus zweifelnd und blickte hinunter in das tiefe, kalte Meer. Er fragte sich, ob er diese Aufgabe auf den nächsten Tag verschieben sollte. Der Abstieg von der Mastspitze hatte den größten Teil seiner Muskulatur gelockert, doch noch immer ließ ihn jede Bewegung zusammenzucken. Außerdem war es nicht warm genug, um ein Bad im Meer besonders reizvoll erscheinen zu lassen.

Er schaute Crixus an und merkte, wie dieser nur darauf wartete, dass er sich weigerte. Innerlich seufzte er. Nichts lief so, wie er es sich vorgestellt hatte.

»Aber heute hat sich nichts in den Steuerrudern verfangen, oder?«, fragte er, und Crixus’ Lächeln wurde breiter, weil er glaubte, Marcus suchte nach einer Ausrede, um es gar nicht erst versuchen zu müssen.

»Nicht auf dem offenen Meer, nein. Es reicht, wenn du eine Entenmuschel von der Unterseite eines Ruders abkratzt. Das ist ein kleines Tier, das sich an Schiffböden hängt. Wenn du eine hochbringst, gebe ich dir einen aus. Wenn du mit leeren Händen zurückkehrst, gehört das hübsche kleine Messer mir, in Ordnung?«

Marcus stimmte zögernd zu und begann, Tunika und Sandalen abzulegen, bis er nur noch im Lendentuch dastand. Unter Crixus’ amüsierten Blicken dehnte er seine Beinmuskeln, wobei er die Holzreling als Stütze benutzte. Er ließ sich Zeit, weil er an Crixus’ Begeisterung sehen konnte, dass dieser vollkommen von seinem Scheitern überzeugt war.

Schließlich war er locker und bereit. Er nahm das Messer, trat auf die glatte hölzerne Fläche am Heck und bereitete sich auf den Sprung vor. Selbst bei einem so tief liegenden Schiff wie der Lucidae, die förmlich durch das Wasser walzte, waren es gute zwanzig Fuß. Er dachte an die wenigen Sprünge ins Wasser, die er bei einem Ausflug mit Gaius’ Eltern an einen See gemacht hatte, als er acht oder neun gewesen war. Die Hände zusammen.

»Leg dir lieber das hier um.« Crixus’ Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Der Mann hielt ihm das mit Teer versiegelte Ende eines dünnen Taus hin. »Man bindet es sich um die Hüfte, damit die Lucidae einen nicht abhängt. Sie sieht nicht sehr schnell aus, aber schwimmend könntest du sie nicht einholen.«

»Danke«, sagte Marcus misstrauisch und fragte sich, ob ihn Crixus ursprünglich ohne Seil hatte springen lassen wollen, und es sich erst im letzten Augenblick anders überlegt hatte. Er band sich das Tau fest um und blickte hinunter in das kalte Wasser, das von den Rudern zerfurcht wurde. Ein Gedanke kam ihm.

»Wo ist das andere Ende?«

Crixus besaß den Anstand, ein verlegenes Gesicht zu machen, womit er Marcus’ früheren Verdacht bestätigte. Stumm zeigte er auf die Stelle, wo das Seil festgemacht war. Marcus nickte und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Wellen zu.

Dann sprang er, drehte sich dabei ein wenig in der Luft und prallte mit einem lauten Klatschen auf das graue Wasser.

Marcus hielt die Luft an, tauchte unter die Wasseroberfläche, und wurde herumgerissen, als das Seil seinen Tauchgang bremste. Dann spürte er, wie ihn das Schiff hinter sich herzog. Er kämpfte sich an die Oberfläche und schnappte erleichtert nach Luft, als er in der Nähe der Ruder wieder durch die Wellen brach.

Er sah die dunklen Ruderblätter durch die Wellen schneiden und versuchte sich an der schlüpfrigen Oberfläche oberhalb der Wasserlinie festzuhalten. Es war unmöglich, und er merkte, dass er kräftig schwimmen musste, um nur in ihrer Nähe bleiben zu können. Sobald er Hände und Füße langsamer bewegte, trieb er ab, bis das Seil wieder straff war.

Die Kälte ließ seine Muskeln verkrampfen, und Marcus wurde klar, dass ihm nur wenig Zeit blieb, bevor er im Wasser nichts mehr ausrichten konnte. Er packte den Dolch fest mit der rechten Hand, holte tief Luft und tauchte unter, wobei er sich mit den Händen den Weg zur glitschigen grünen Unterseite des nächsten Ruders ertastete.

Unten angekommen drohte sein Lunge zu platzen. Es gelang ihm, sich ein paar Sekunden lang zu halten, während seine Hände in dem Schleim herumsuchten, aber er spürte nichts, was sich wie eine der von Crixus beschriebenen Muscheln anfühlte. Fluchend tauchte er mit strampelnden Beinen wieder an die Oberfläche. Da er sich nicht an den Rudern festhalten und ausruhen konnte, spürte er, wie ihn seine Kräfte rasch verließen.

Wieder holte er Luft und tauchte hinab in die Finsternis.

Crixus spürte die Gegenwart des alten Gladiators, noch ehe dieser neben ihn trat und auf das zitternde Tau hinabstarrte, das zwischen den Rudern ins Wasser führte. Als er seinem Blick begegnete, konnte Crixus die verhaltene Wut sehen und wich automatisch einen Schritt zurück. »Was machst du da?«, fragte Renius ruhig.

»Er überprüft die Ruder und schneidet Entenmuscheln ab«, erwiderte Crixus.

Renius’ Lippen verzogen sich vor Missmut. Selbst einarmig strahlte er Gewalttätigkeit aus, obwohl er vollkommen still dastand. Crixus sah den Gladius, der an seinem Gürtel hing, und wischte sich die Hände an seinen zerlumpten Beinkleidern ab. Gemeinsam beobachteten sie, wie Marcus dreimal an die Oberfläche kam und wieder hinabtauchte. Seine Arme schlugen ziellos im Wasser unter ihnen umher, und beide Männer konnten sein erschöpftes Husten hören.

»Zieh ihn jetzt hoch. Ehe er sich ertränkt«, sagte Renius.

Crixus nickte schnell und begann, Hand über Hand das Seil einzuholen. Renius bot ihm seine Hilfe nicht an, doch die Art und Weise, wie er dastand, die Hand auf den Griff seines Schwertes gelegt, war Ansporn genug.

Crixus war schweißgebadet, als Marcus die Höhe des Decks erreichte. Er hing beinahe leblos an dem Seil, und seine Glieder waren so müde, dass sie ihm nicht mehr gehorchen wollten.

Crixus zerrte ihn wie einen Stoffballen an Deck und drehte ihn mit dem Gesicht nach oben. Marcus hatte die Augen geschlossen und atmete schwer. Crixus lächelte, als er den Dolch sah, den der junge Mann immer noch umklammert hielt. Kaum streckte er die Hand danach aus, da vernahm er ein leises, singendes Geräusch hinter sich und erstarrte, als Renius ihm das Schwert vor das Gesicht hielt.

»Was hast du denn jetzt vor?«

»Ich nehme mir den Dolch! Er ... er sollte eine Muschel mitbringen ...«:, stotterte Crixus.

»Sieh in seiner anderen Hand nach«, brummte Renius.

Marcus konnte ihn durch das Geräusch von Wasser in seinen Ohren und den Schmerzen in seiner Brust und seinen Gliedern kaum hören, aber er öffnete die linke Faust. Dort lag, umgeben von Kratzern und Schnitten, eine runde Muschel, in deren Innern ihr Bewohner nass glänzte.

Crixus’ Kiefer klappte nach unten, und Renius winkte ihn mit seinem Schwert fort.

»Der zweite Maat soll die Männer zusammenrufen . Parus hieß er. Das hier ist weit genug gegangen.«

Nach einem kurzen Blick auf das Schwert und das Gesicht des Mannes verzichtete Crixus auf Widerworte. Renius kniete sich neben Marcus und schob das Schwert zurück in die Scheide. Er schlug dem Jungen ein paarmal mit der flachen Hand in das bleiche Gesicht und brachte etwas Farbe zurück. Marcus hustete jämmerlich.

»Ich dachte, du hörst endlich auf, nachdem du fast von der Rah gefallen bist. Ich weiß nicht, was du damit beweisen willst, aber bleib jetzt hier und ruh dich aus, während ich mich um die Männer kümmere.«

Marcus wollte etwas sagen, aber Renius schüttelte den Kopf.

»Sei still. Mit solchen Männern habe ich mein ganzes Leben lang zu tun gehabt.«

Ohne ein weiteres Wort stand er auf, ging hinüber zu der versammelten Mannschaft und baute sich so vor ihnen auf, dass alle ihn sehen konnten. Obwohl er durch fest zusammengebissene Zähne sprach, konnten alle seine Stimme vernehmen.

»Sein Fehler war es, von Abschaum wie euch ehrenhaftes Verhalten zu erwarten. Ich für mein Teil habe nicht vor, euer Vertrauen oder euren Respekt zu gewinnen. Ich stelle euch jetzt einfach vor die Wahl. Erledigt eure Aufgaben ordentlich. Arbeitet hart, geht eure Wachen und sorgt dafür, dass alles glatt geht, bis wir den Hafen erreichen. Ich habe mehr Männer getötet, als ich zu zählen vermag, und ich werde jedem Mann, der mir in dieser Angelegenheit nicht gehorcht, die Eingeweide aufschlitzen. Und jetzt seid Männer! Falls einer von euch jetzt noch mit mir darüber streiten will, dann möge er sich ein Schwert nehmen, seine Freunde holen und mich angreifen.« Seine Stimme wuchs zu einem Brüllen an. »Verzieht euch nicht einfach wie alte Weiber in der Sonne, um in irgendwelchen Ecken finstere Pläne zu schmieden! Sprecht jetzt, kämpft jetzt, denn wenn ihr es nicht tut, spalte ich jedem, den ich später beim Flüstern erwische, den Schädel, das schwöre ich!«

Er funkelte sie wütend an, und die Männer starrten auf ihre Füße. Keiner sagte etwas, und auch Renius schwieg. Sein Schweigen hielt an, bis es schmerzte. Niemand rührte sich; wie Statuen standen sie an Deck. Endlich atmete der alte Gladiator tief ein und knurrte sie an.

»Nicht ein Einziger von euch besitzt den Mut, gegen einen alten, einarmigen Mann zu kämpfen? Dann macht euch wieder an eure Arbeit. Und macht sie gut, denn ich behalte jeden Einzelnen von euch im Auge, und ab jetzt wird keiner mehr gewarnt.«

Er schritt durch sie hindurch, und sie machten ihm schweigend Platz. Crixus blickte Parus an und zuckte kurz die Achseln, während er mit den anderen zurückwich. Die Lucidae segelte ruhig weiter über das kalte Meer.

Renius ließ sich gegen die Kabinentür fallen, nachdem er sie hinter sich zugemacht hatte. Er spürte die Nässe unter seinen Achseln und fluchte leise vor sich hin. Er war es nicht gewohnt, Männer durch leere Worte zum Gehorsam zu bringen, doch seine Balance war schrecklich, und er wusste, wie schwach er noch war. Er wollte schlafen, musste aber zuerst seine Übungen zu Ende bringen. Seufzend zog er seinen Gladius und ging die Streiche durch, die er vor einem halben Jahrhundert gelernt hatte, schneller und schneller, bis die Klinge in dem kleinen Raum die Decke traf und stecken blieb. Renius fluchte wütend, und die Männer, die sich in der Nähe seiner Tür befanden, hörten ihn und sahen sich mit weit aufgerissenen Augen an.

In dieser Nacht stand Marcus allein am Bug, blickte auf die vom Mond angestrahlten Wellen hinaus und fühlte sich elend. Alle Bemühungen des Tages hatten ihm nichts eingebracht, und das Bewusstsein, dass Renius alles für ihn hatte in Ordnung bringen müssen, lastete wie ein Eisengewicht auf seiner Brust.

Er hörte leise Stimmen hinter sich, wirbelte herum und sah schwarze Gestalten um die Kabinenaufbauten herumkommen. Er erkannte Crixus und Parus und den Mann aus der Takelage, dessen Namen er nicht kannte. Er wappnete sich gegen die Schläge, denn er wusste, dass er es nicht mit allen auf einmal aufnehmen konnte, doch Crixus hielt ihm einen Lederbecher mit einer dunklen Flüssigkeit hin. Er lächelte unsicher, weil er nicht wusste, ob Marcus ihm den Becher aus der Hand schlagen würde.

»Hier. Ich habe versprochen, dir einen auszugeben, wenn du eine Muschel mitbringst. Ich halte meine Versprechen.«

Marcus nahm den Becher, und die drei Männer entspannten sich sichtlich. Sie kamen näher, lehnten sich über die Reling und blickten hinaus auf das schwarze Wasser, das unter ihnen hinwegrauschte. Alle drei hatten ähnliche Becher in den Händen, und Crixus füllte sie aus einem weichen Lederbeutel, der gurgelte, als er sein Gewicht unter seinem Arm verlagerte.

Marcus roch die bittere Flüssigkeit, als er den Becher zu seinem Mund führte. Er hatte noch nie etwas Stärkeres als Wein getrunken und nahm einen großen Schluck, ehe er merkte, dass das Zeug, was immer es auch sein mochte, auf den Wunden an Lippen und Zahnfleisch brannte. Unwillkürlich schluckte er es hinunter, nur um den Mund zu leeren, und begann sofort zu husten, als das Feuer in seinem Magen explodierte. Er schnappte nach Luft und Parus klopfte ihm mit gleichmütigem Gesicht auf den Rücken.

»Tut gut, das Zeug, was?«, sagte Crixus lachend.

»Tut gut, Erster Maat«, erwiderte Marcus hustend.

Crixus lächelte. »Ich mag dich, Junge. Ehrlich«, sagte er und schenkte sich selbst nach. »Aber dieser Freund von dir, dieser Renius, das ist wirklich ein übler Sauhund.«

Alle nickten feierlich, betrachteten versonnen das Meer und den Himmel.

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