20

Marcus betrachtete den geschäftigen Hafen, der vor ihm immer größer wurde, mit gemischten Gefühlen. Die Lucidae manövrierte geschickt zwischen den uralten Steinen hindurch, die zwischen der rauen See und dem ruhigen Hafenbecken aufgeschichtet waren. Mit ihnen kamen mehrere andere Schiffe an, und sie mussten fast den ganzen Morgen warten, bis ein geplagter Lotse mit einem Boot kam, um sie an den für sie bestimmten Ankerplatz zu geleiten.

Zunächst hatte sich Marcus über die vier Wochen auf See keine großen Gedanken gemacht, hatte sie mit nicht mehr Interesse bedacht als eine Wanderung von einer Stadt zur anderen. Allein das Ziel war für ihn wichtig gewesen. Inzwischen jedoch kannte er den Namen jedes einzelnen Mitglieds der kleinen Besatzung, und nach dem nächtlichen Saufgelage am Bug hatte er auch ihre Anerkennung gewonnen. Sogar als der Erste Maat wieder in der Lage war, einfachere Aufgaben zu verrichten, hatte das die Stimmung zwischen ihm und den Männern nicht vergiftet. Allem Anschein nach hegte der Mann keinen Groll gegen ihn, ja, er schien sogar stolz auf Marcus zu sein, als sei dessen Akzeptanz bei der Mannschaft gewissermaßen sein Verdienst.

Peppis hatte sich wie zuvor zum Schlafen in allen Ecken an Deck verkrochen, hatte aber dank des Essens, das Marcus für ihn abgezweigt hatte, ein bisschen zugenommen, und die Schläge hatten, wie auf ein unsichtbares Signal unter den Männern hin, aufgehört. Der Junge war viel fröhlicher geworden und würde eines Tages vielleicht ein richtiger Seemann werden, so wie er es sich erhoffte.

In gewisser Hinsicht beneidete Marcus den Jungen. Er erlebte so etwas wie Freiheit. Diese Männer würden sämtliche Häfen der bekannten Welt zu sehen bekommen, während er unter der sengenden Sonne durch fremde Länder marschierte und Rom stets im Marschgepäck mit sich schleppte.

Er atmete tief durch, schloss die Augen und versuchte, die verschiedenen Düfte herauszufiltern, die mit dem Wind vom Land herangetragen wurden. Jasmin und Olivenöl waren vorherrschend, aber er nahm auch wieder die Ausdünstungen einer großen Menschenansammlung wahr -Schweiß und Exkremente. Er seufzte und zuckte gleich darauf zusammen, als eine Hand auf seine Schulter klatschte.

»Wird schön sein, endlich wieder Land unter die Füße zu bekommen«, sagte Renius und blickte mit ihm zur Hafenstadt hinüber. »Wir leihen uns Pferde, die uns nach Osten zur Legion bringen. Dort suchen wir deine Zenturie, damit du deinen Eid leisten kannst.«

Marcus nickte schweigend. Renius bemerkte, in welcher Stimmung er war. »Nur die Erinnerung bleibt immer gleich, mein Junge. Alles andere verändert sich. Wenn du nach Rom zurückkommst, wirst du es kaum wiedererkennen, und alle Leute, die du geliebt hast, werden sich verändert haben. Das lässt sich nicht aufhalten, es ist die natürlichste Sache der Welt.«

Da er sah, dass er Marcus damit nicht aufgeheitert hatte, fuhr er fort.

»Diese Kultur hier war schon uralt, als Rom noch jung war. Es ist ein fremdartiger Ort für einen Römer, und du musst aufpassen, dass ihre Ideale vom angenehmen Leben dich nicht verweichlichen. Aber in Illyrien gibt es noch wilde Stämme, die immer wieder Raubzüge über die Grenze unternehmen, also dürftest du auch etwas anderes zu sehen bekommen. Das interessiert dich eher, was?« Er stieß sein kurzes, bellendes Lachen aus. »Du hast wohl gedacht, hier wartet nur langweiliger Drill auf dich? Hast wohl gedacht, du musst den ganzen Tag in der Sonne herumstehen? Marius hat eine gute Wahl getroffen, mein Junge. Er hat dich zu einem der gefährlichsten Außenposten des Imperiums geschickt. Nicht einmal die Griechen wagen sich dort hin, ohne es sich zweimal zu überlegen, und Mazedonien ist das Land, in dem Alexander geboren wurde. Genau der richtige Ort, um dich ein bisschen abzuhärten.«

Gemeinsam sahen sie zu, wie die Lucidae langsam am Kai festmachte, Leinen hinüber geworfen und festgezurrt wurden. Kurz darauf war das kleine Handelsschiff sicher vertäut, und Marcus tat diese plötzliche Freiheitsberaubung fast Leid. Epides trat, mit einem Chiton, der traditionellen griechischen, knielang getragenen Tunika bekleidet, aufs Deck heraus. Er funkelte vor Geschmeide, und sein geöltes Haar glänzte in der Sonne. Als er die beiden Passagiere an der Reling stehen sah, ging er auf sie zu.

»Ich habe schlechte Nachrichten, meine Herren. Im Norden hat sich eine griechische Armee erhoben, deshalb konnten wir nicht wie geplant in Dyrrhachium anlegen. Das hier ist Oricum, ungefähr hundert Meilen weiter südlich.«

»Was?« Renius richtete sich zu voller Größe auf. »Wir haben dich dafür bezahlt, dass du uns im Norden absetzt, damit wir uns der Legion dieses Jungen anschließen können. Ich -«

»Es lag nicht im Bereich des Möglichen, wie gesagt«, erwiderte der Kapitän lächelnd. »Die Flaggensignale waren eindeutig, als wir uns Dyrrhachium genähert haben. Deshalb sind wir der Küste weiter nach Süden gefolgt. Ich kann es mir nicht leisten, die Lucidae aufs Spiel zu setzen, wenn dort eine Rebellenarmee haust, die sich an der Zerstörung römischer Garnisonen berauscht. Die Sicherheit des Schiffes stand auf dem Spiel.«

Renius packte Epides am Chiton und zog ihn zu sich heran, sodass der Kapitän auf den Zehenspitzen stehen musste.

»Verflucht seist du! Zwischen hier und Mazedonien liegt ein verdammt großer Berg, wie du genau weißt. Das bedeutet für uns einen weiteren Monat beschwerliche Reise und zusätzliche Auslagen, und du allein bist schuld daran!«

Epides versuchte sich zu wehren, das Gesicht hochrot vor Zorn.

»Lass mich sofort los! Wie kannst du es wagen, mich auf meinem eigenen Schiff zu beschuldigen? Ich rufe die Hafenwache und lasse dich aufhängen, du arroganter -«

Renius ließ die Hand zu einem Rubin rutschen, der an einer schweren Goldkette um Epides’ Hals hing. Mit einem kräftigen Ruck zerriss er ihre Glieder und steckte sie in seine Gürteltasche. Epides stammelte vor Zorn unzusammenhängendes Zeug, doch Renius stieß ihn von sich und drehte sich wieder zu Marcus um. Der Kapitän fiel der Länge nach aufs Deck.

»Also gut. Gehen wir an Land. Zumindest können wir uns ordentlich für die Reise ausrüsten, wenn ich die Kette verkaufe.«

Als er sah, wie Marcus’ Blick blitzschnell auf etwas hinter ihm zuckte, wirbelte Renius herum und zog in der gleichen Bewegung sein Schwert. Epides war im Begriff, sich mit einem juwelenbesetzten Dolch und verzerrtem Gesicht auf ihn zu stürzen.

Renius schwang direkt in den Stoß und bohrte seinen Gladius in die glatt rasierte Brust des Mannes. Dann zog er die Klinge wieder heraus und wischte sie mit raschen Bewegungen an dem Chiton ab, während Epides, sich windend, auf dem Deck zusammenbrach.

»An zerstörten römischen Garnisonen berauscht, was?«, murmelte er und versuchte sein Schwert zurück in die Scheide zu stecken. »Jetzt halt schon still, verflixtes Ding .«

Marcus war noch immer wie benommen von dem raschen Tod, und auch die Männer der Besatzung, die den plötzlichen Gewaltausbruch mitbekommen hatten, standen mit offenen Mündern da. Renius nickte ihnen zu, als das Schwert endlich in die Scheide glitt.

»Lasst die Rampen runter. Wir haben noch eine lange Reise vor uns.«

Ein Stück Schiffswand wurde gelöst und von der Lücke aus Planken zum Kai gelegt, damit die Ladung gelöscht werden konnte. Marcus schüttelte in stummer Ungläubigkeit den Kopf. Ein letztes Mal überprüfte er seine Habe, klopfte sich an die Seite und spürte wieder den Verlust seines Dolches, den er am vorangegangenen Abend dem Ersten Maat geschenkt hatte. Er hatte irgendwie gespürt, dass er das Richtige tat, und das Lächeln der Mannschaft, als der Mann ihn herumzeigte, verriet ihm, dass er eine gute Entscheidung getroffen hatte. Jetzt lächelte keiner mehr, und Marcus wünschte, er hätte den Dolch behalten.

Er lud sich sein Bündel auf die Schultern und half Renius mit dem seinen.

»Mal sehen, was Griechenland so zu bieten hat«, meinte er.

Renius grinste angesichts des urplötzlichen Stimmungswechsels und stapfte an Epides’ verkrümmtem Leichnam vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Dann verließen sie die Lucidae und drehten sich nicht mehr um.

Der Hafenboden bewegte sich beängstigend unter ihren Füßen, und Marcus schwankte einige Augenblicke unsicher, bevor sich die alten Gewohnheiten wieder einstellten.

»Wartet«, rief eine Stimme hinter ihnen. Als sie sich umdrehten, sahen sie Peppis mit wirbelnden Armen und Beinen die Rampe herunterstürmen. Dann stand er atemlos vor ihnen, und sie warteten, bis er sich so weit beruhigt hatte, dass er sprechen konnte.

»Nimm mich mit, Herr«, bat er und sah Marcus, der erstaunt blinzelte, flehend an.

»Ich dachte, du wolltest Seemann werden, wenn du groß bist«, sagte Marcus.

»Jetzt nicht mehr. Ich will ein Kämpfer werden, ein Legionär wie du und Renius«, sagte Peppis, und die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. »Ich will das Imperium gegen feindliche Horden verteidigen.«

Marcus sah Renius an. »Hast du mit dem Jungen gesprochen?«

»Ja, ich hab ihm ein paar Geschichten erzählt. Viele Jungen träumen davon, in die Legion einzutreten. Es ist ein gutes Leben für einen Mann«, erwiderte Renius ohne Scham.

Peppis sah Marcus’ Unschlüssigkeit und drängte weiter. »Du brauchst einen Diener, jemanden, der dein Schwert trägt und sich um dein Pferd kümmert. Bitte schick mich nicht zurück.«

Marcus ließ das Bündel von seiner Schulter gleiten und reichte es dem Jungen, der ihn freudig anstrahlte.

»Na schön. Trag das. Kannst du mit Pferden umgehen?«

Peppis schüttelte, noch immer freudestrahlend, den Kopf.

»Dann musst du es lernen.«

»Das werde ich. Ich werde der beste Diener sein, den du je gehabt hast«, erwiderte der Junge und schlang die Arme um das Bündel.

»Zumindest kann der Kapitän nichts mehr dagegen einwenden«, meinte Marcus.

»Nein. Den Kerl konnte ich von Anfang an nicht leiden«, erwiderte Renius schroff. »Frag jemanden, wo die nächsten Stallungen sind. Wir brechen auf, bevor es dunkel wird.«

Die Ställe, das Rasthaus für die Reisenden und die Menschen selbst kamen Marcus sehr eigenartig vor. Er erkannte Rom in tausend kleinen Einzelheiten, nicht zuletzt in den Legionären mit den ernsten Gesichtern, die paarweise durch die Straßen patrouillierten. Trotzdem fiel ihm bei jedem Schritt etwas Neues, Andersartiges auf. Ein hübsches Mädchen, das mit seinen Leibwächtern vorbeikam, unterhielt sich mit ihnen in einem weich perlenden Plappern, das die Männer zu verstehen schienen. Ein Tempel unweit der Stallungen war wie zu Hause aus reinem weißem Marmor errichtet, doch die Statuen sahen merkwürdig aus. Sie waren denen, die er kannte, nicht unähnlich, aber hier waren andere Gesichter aus dem Stein gehauen. Überall sah man Bärte, gelockt und mit süßen Ölen parfümiert, aber das Eigenartigste überhaupt hatte er an den Wänden eines Tempels gesehen, der der Heilung der Kranken geweiht war.

Aus Gips geformte, perfekte Gliedmaßen, kleine sowie ausgewachsene, hingen an Haken an den Außenmauern. Das Bein eines Kindes, am Knie abgeknickt, baumelte gleich neben dem Modell einer Frauenhand, und ein Stück weiter hing ein Miniatursoldat, wunderhübsch und bis ins kleinste Detail aus rötlichem Marmor gefertigt.

»Was soll das denn?«, hatte er Renius im Vorbeigehen gefragt.

»Nur so eine Sitte«, hatte Renius achselzuckend geantwortet. »Wenn dich die Göttin heilt, lässt du einen Abdruck von dem Körperteil machen und bringst es ihr dar. Ich glaube, es dient dazu, mehr Leute in den Tempel zu locken. Hier wird niemand geheilt, der nicht zuerst ein wenig Gold dafür bezahlt hat, also sind die Modelle so etwas wie ein Aushängeschild. Wir sind hier nicht in Rom, mein Junge. Wenn man ein bisschen genauer hinsieht, sind die Leute hier überhaupt nicht wie wir.«

»Magst du sie nicht?«

»Ich respektiere das, was sie erreicht haben, aber sie sonnen sich zu sehr im Glanz ihrer Vergangenheit. Sie sind ein stolzes Volk, Marcus, aber nicht stolz genug, um sich von unserem Stiefel in ihrem Nacken zu befreien. Sie halten uns für Barbaren, und die Vornehmeren tun gerne so, als existierten wir überhaupt nicht, aber was nützen einem Tausende Jahre Kunst, wenn man sich nicht verteidigen kann? Das Erste, was die Menschen lernen müssen, ist, stark zu sein. Ohne Stärke kann einem alles, was man besitzt oder geschaffen hat, wieder weggenommen werden. Vergiss das nie, mein Junge.«

Wenigstens waren die Ställe so wie überall. Der Geruch bescherte Marcus mit einem Mal ein heftiges Heimweh, und er fragte sich, wie es wohl Tubruk auf dem Landgut ergehen mochte, und wie Gaius mit den Gefahren der Hauptstadt zurecht kam.

Renius klopfte einem kräftigen Hengst auf die Flanke, fuhr mit den Handflächen die Beine hinab und untersuchte aufmerksam das Gebiss. Peppis sah ihm zu und tat es ihm gleich, klopfte mit ernstem Gesichtsausdruck auf Pferdebeine und betastete Sehnen.

»Wie viel kostet der hier?«, erkundigte sich Renius bei dem Besitzer, der mit zwei Leibwachen neben ihm stand. Der Mann hatte Pferdegeruch an sich. Er sah sauber und irgendwie poliert aus; sein dunkles Haupt- und Barthaar glänzte.

»Er ist stark, ja?«, antwortete er mit nur leichtem Akzent auf Lateinisch. »Sein Vater hat in Pontus Rennen gewonnen, aber er ist ein bisschen zu schwer für Schnelligkeit. Eher für die Schlacht.«

Renius zuckte die Achseln. »Er muss mich nur nach Norden über die Berge bringen. Wie viel willst du dafür?«

»Er heißt Apollo. Ich habe ihn gekauft, als das Glück einen reichen Mann verlassen hat und er gezwungen war, ihn zu verkaufen. Ich habe ein kleines Vermögen bezahlt, aber ich kenne mich aus mit Pferden. Ich weiß, was er wert ist.«

»Mir gefällt er«, sagte Peppis.

Beide Männer ignorierten den Jungen.

»Ich zahle fünf Aurei für ihn und verkaufe ihn, wenn ich das Ziel meiner Reise erreicht habe«, sagte Renius mit fester Stimme.

»Er ist zwanzig wert, und ich bin den ganzen Winter für sein Futter aufgekommen«, antwortete der Händler.

»Für zwanzig kann ich ein kleines Haus kaufen!«

Der Händler hob die Schultern und machte ein betroffenes Gesicht. »Nicht mehr. Die Preise sind gestiegen. Das liegt am Krieg im Norden. Die besten Tiere gehen an Mithridates, einen Emporkömmling, der sich selbst König nennt. Apollo ist eins der Letzten aus der guten Zucht.« »Zehn ist mein letztes Angebot. Wir kaufen heute zwei von deinen Pferden, deshalb will ich einen Preis für beide.«

»Lass uns nicht streiten. Ich zeige dir ein anderes, das weniger wert ist und dich auch nach Norden bringt. Ich habe zwei andere, die ich zusammen verkaufen kann. Es sind Brüder, und sie sind schnell genug.«

Der Mann ging an den Reihen der Pferde vorbei, und Marcus musterte Apollo, der ihn interessiert betrachtete, das Maul voll Heu. Während die Verhandlungen in der Ferne leiser wurden, tätschelte er dem Tier die weiche Nase. Apollo ignorierte ihn und reckte den Hals nach dem nächsten Maul voll Heu, das er aus einem an die Stallwand genagelten Netz zog.

Nach einer Weile kehrte Renius zurück. Er sah ein bisschen blass aus.

»Wir haben zwei, für morgen. Apollo und ein zweites namens Lanzer. Ich bin sicher, er denkt sich die Namen einfach so aus. Peppis reitet mit dir. Er ist so leicht, dass es nichts ausmacht. Bei den Göttern! Was die Leute hier für Preise verlangen! Wenn uns dein Onkel nicht so großzügig ausgestattet hätte, müssten wir morgen zu Fuß gehen.«

»Er ist nicht mein Onkel«, rief ihm Marcus in Erinnerung. »Wie viel haben die Pferde gekostet?« »Frag nicht. Und rechne nicht damit, dass es unterwegs viel zu essen gibt. Los jetzt, wir holen die Pferde morgen bei Sonnenaufgang ab. Hoffentlich sind die Zimmerpreise nicht im gleichen Maße gestiegen, sonst müssen wir uns hierher zurückschleichen, sobald es dunkel geworden ist.«

Weiter vor sich hinknurrend, verließ Renius den Stall, gefolgt von Marcus und Peppis, die sich alle Mühe gaben, nicht zu grinsen.

Загрузка...