Manon


»Dieses eine Wort, mein lieber Watson, hätte mir die ganze Geschichte erzählen müssen, wenn ich dieser reine Verstandesmensch wäre, als den du mich so gern schilderst.«

Memoirs of Sherlock Holmes


»Gott sei Dank«, sagte Parker. »Nun, damit wäre ja alles klar.«

»Ist es - und doch wieder nicht«, erwiderte Lord Peter. Er ließ sich nachdenklich auf das dicke Kissen in der Sofaecke zurücksinken.

»Natürlich ist es nicht schön, diese Frau bloßstellen zu müssen«, sagte Parker verständnisvoll und mitfühlend, »aber daran läßt sich nun einmal nichts ändern.«

»Ich weiß. So einfach und nett ist das alles. Und an Jerry, der die arme Frau in den ganzen Schlamassel hineingerissen hat, gilt es ja auch zuerst zu denken. Und wenn wir Grimethorpe nicht sehr erfolgreich an die Kette legen und er der Frau die Kehle durchschneidet, hat Jerry zeitlebens etwas furchtbar Lustiges, woran er denken kann ... Jerry! Sag mal, was sind wir eigentlich für Trottel, daß wir die Wahrheit nicht gleich gesehen haben? Ich meine - natürlich ist meine Schwägerin eine schrecklich gute Frau und so weiter, aber Mrs. Grimethorpe - hui! Ich hab dir ja erzählt, wie sie mich mit Jerry verwechselt hat. Das war ein Augenblick, kann ich dir sagen! Aber da hätte ich Bescheid wissen müssen. Unsere Stimmen ähneln sich natürlich, und sehen konnte sie aus der dunklen Küche nichts. Ich glaube ja nicht, daß in dieser Frau auch nur noch ein Funken Gefühl steckt, außer der nackten Angst - aber bei allen Göttern! Diese Augen, diese Haut! Na ja, vergessen wir's. Das größte Glück haben oft die, die es am wenigsten verdienen. Kennst du ein paar gute Witze? Nein? Dann erzähle ich dir mal einen - zur Erweiterung deines Horizonts und so. Kennst du den von dem jungen Mann im Kriegsministerium?«

Mr. Parker ließ mit lobenswerter Geduld fünf Anekdoten über sich ergehen, dann konnte er sich plötzlich nicht mehr halten.

»Hurra!« rief Wimsey. »Bist doch ein feiner Kerl! Wie gern ich von Zeit zu Zeit ein verhaltenes Schmunzeln auf deinen Lippen sehe! Dann will ich dich mal mit der wirklich haarsträubenden Geschichte von der jungen Hausfrau und dem Vertreter in Fahrradpumpen verschonen. Sieh mal, Charles, ich möchte ja wirklich wissen, wer nun Cathcart umgebracht hat. Juristisch genügt es zwar, zu beweisen, daß Jerry unschuldig ist, aber Mrs. Grimethorpe hin oder Mrs. Grimethorpe her, unserem Ruf als Detektive wäre das nicht gerade zuträglich. Der Vater lenkt ein, aber der Fürst bleibt hart; das heißt, als Bruder bin ich zufrieden - man könnte sogar sagen froh -, aber als Detektiv fühle ich mich am Boden zerstört, gedemütigt, in die Schranken gewiesen, ein Ochse vorm Scheunentor. Außerdem ist von allen Verteidigungsmöglichkeiten ein Alibi am schwersten glaubhaft zu machen, sofern man nicht ein ganzes Heer von unabhängigen und unbeteiligten Zeugen aufbietet, die es bestätigen. Wenn Jerry bei seinem Nein bleibt, wissen sie mit Sicherheit nur, daß entweder er oder Mrs. Grimethorpe sich ritterlich verhält.«

»Du hast doch den Brief.«

»Schon. Aber wie sollen wir beweisen, daß er an dem fraglichen Abend angekommen ist? Der Umschlag ist vernichtet. Fleming kann sich an nichts erinnern. Jerry könnte ihn schon Tage vorher bekommen haben. Oder er könnte überhaupt gefälscht sein. Und wer kann beschwören, daß ich ihn nicht selbst in den Fensterrahmen geklemmt und dann so getan habe, als hätte ich ihn gefunden? Immerhin kann man mich schwerlich als unbefangenen Zeugen bezeichnen.«

»Bunter hat gesehen, wie du ihn gefunden hast.«

»Hat er nicht, Charles. In dem fraglichen Augenblick war er nicht im Zimmer, weil er Rasierwasser holen ging.«

»Ach, so war das?«

»Und außerdem kann nur Mrs. Grimethorpe allein das beschwören, was eigentlich der springende Punkt ist - wann Jerry bei ihr angekommen und wann er wieder gegangen ist. Wenn er nicht spätestens um halb eins in Grider's Hole war, ist es vollkommen unerheblich, ob er da war oder nicht.«

»Aber«, sagte Parker, »könnten wir uns Mrs. Grimethorpe nicht wenigstens warmhalten, wie man so sagt -?«

»Klingt ein bißchen frivol«, meinte Lord Peter, »aber halten wir sie uns mit dem größten Vergnügen warm, wenn du willst.«

»- und inzwischen«, fuhr Mr. Parker unbeirrt fort, »alles daransetzen, den richtigen Täter zu finden?«

»O ja«, sagte Lord Peter. »Und da fällt mir etwas ein. Ich habe im Jagdhaus eine Entdeckung gemacht - ich glaub's wenigstens. Ist dir aufgefallen, daß eines der Arbeitszimmerfenster mit Gewalt geöffnet worden war?«

»Nein, wirklich?«

»Ja. Ich habe eindeutige Spuren gefunden. Natürlich war das lange nach dem Mord, aber es waren unübersehbare Kratzer am Riegel - wie sie zum Beispiel ein Taschenmesser hinterlassen würde.«

»Wie dumm von uns, damals nicht darauf geachtet zu haben!«

»Warum hätten wir das eigentlich tun sollen? Jedenfalls habe ich Fleming danach gefragt, und er sagt, jetzt wo er darüber nachdenkt, kann er sich erinnern, daß er am Donnerstagmorgen das Fenster offen vorgefunden hat und nicht wußte, wieso. Und noch etwas. Ich habe einen Brief von meinem Freund Tim Watchett erhalten. Hier ist er:


>Mylord - ich komme auf unser Gespräch zurück. Ich habe einen Mann gefunden, der am Abend des 13. letzten Monats mit dem Betreffenden im Pfeifenden Eber war, und er sagt, daß der Betreffende sich von ihm ein Fahrrad ausgeliehen hat, welchselbiges später mit verbogener Lenkstange und verbeulten Rädern an der Stelle, wo der Betreffende aufgelesen wurde, im Graben gefunden worden war. Ihrem geschätzten Wohlwollen empfiehlt sich weiterhin

Ihr

Timothy Watchett«


Was hältst du davon?«

»Dem lohnt sich nachzugehen«, meinte Parker. »Wenigstens hemmen uns jetzt keine häßlichen Zweifel mehr.«

»Nein. Und wenn Mary auch meine Schwester ist, muß ich doch sagen, daß sie von allen dummen Puten die dümmste ist. Erst läßt sie sich mit diesem entsetzlichen Flegel ein -«

»Da hat sie sich wunderbar verhalten«, sagte Mr. Parker und wurde ziemlich rot. »Nur weil sie deine Schwester ist, kannst du gar nicht ermessen, wie wunderbar sie war. Wie sollte denn so eine reine und edle Seele wie ihre diesen Menschen durchschauen? Wo sie selbst so ernsthaft und durch und durch ehrlich ist, beurteilt sie doch jeden nach demselben Maßstab. Daß ein Mensch so windig und wankelmütig sein könnte wie dieser Goyles, hat sie erst geglaubt, als es ihr bewiesen wurde. Und selbst dann hat sie sich nicht dazu durchringen können, schlecht von ihm zu denken, bis er sich durch seine eigenen Worte bloßgestellt hat. Es war großartig, wie sie für ihn gekämpft hat. Stell dir doch nur einmal vor, was es eine so großartige, grundehrliche Frau gekostet haben muß, zu -«

»Schon gut, schon gut!« rief Peter, der seinen Freund starr vor Staunen angeglotzt hatte. »Steigere dich nicht so hinein. Ich glaub's dir ja. Verschone mich. Ich bin ja nur ein Bruder. Alle Brüder sind Narren. Alle Verliebten sind Irre - meint Shakespeare. Hast du ein Auge auf Mary geworfen, altes Haus? Du siehst mich erstaunt - aber ich glaube, darüber staunen Brüder immer. Gott sei mit euch, liebe Kinder!«

»Zum Teufel aber auch, Wimsey«, sagte Parker sehr zornig, »du hast kein Recht, so mit mir zu reden! Ich habe nur gesagt, wie sehr ich deine Schwester bewundere - und jeder muß solchen Mut und solche Festigkeit bewundern. Da brauchst du gar nicht gleich beleidigend zu werden. Ich weiß, daß sie Lady Mary Wimsey ist und verflixt reich, und ich bin nur ein kleiner Polizist mit null Komma nichts per annum und Aussicht auf eine Pension, aber darüber brauchst du nicht auch noch Witze zu reißen.«

»Ich reiße keine Witze«, versetzte Wimsey entrüstet. »Ich kann mir nur nicht vorstellen, warum einer meine Schwester heiraten möchte; aber du bist mein Freund, und ein sehr guter dazu, und meinen Segen hast du, falls der was nützt. Außerdem - hol's der Kuckuck, Mann - um es mal platt auszudrücken, sieh dir doch an, was sonst hätte kommen können! Ein sozialistischer Neinsager ohne Mumm und Manieren oder ein undurchsichtiger Falschspieler mit mysteriöser Vergangenheit! Mutter und Jerry müßten an dem Punkt angelangt sein, wo sie einen anständigen, gottesfürchtigen Klempner willkommen heißen würden, nicht zu reden von einem Polizisten. Ich fürchte einzig und allein, daß Mary mit ihrem schauderhaften Geschmack in puncto Männer einen richtig anständigen Kerl wie dich gar nicht zu würdigen wüßte, altes Haus.«

Mr. Parker entschuldigte sich bei seinem Freund für seine unwürdigen Verdächtigungen, und dann saßen sie ein Weilchen schweigend da. Parker schlürfte langsam seinen Portwein und sah in dessen rosigen Tiefen unvorstellbare Bilder warm aufleuchten. Wimsey zückte seine Brieftasche und blätterte gedankenabwesend in ihrem Inhalt, warf alte Briefe ins Feuer, faltete Notizen auseinander und wieder zusammen und sortierte eine gemischte Sammlung von Visitenkarten anderer Leute. Endlich kam er auch an das Löschblatt aus dem Arbeitszimmer in Riddlesdale, an dessen fragmentarische Tintenspuren er seitdem kaum einen Gedanken verschwendet hatte.

Parker, der seinen Portwein ausgetrunken und sich einen Ruck gegeben hatte, fiel soeben ein, daß er Peter etwas hatte sagen wollen, bevor der Name Lady Mary alle andern Gedanken aus seinem Kopf verjagt hatte. Er drehte sich zu seinem Gastgeber um und hatte schon den Mund geöffnet, um zu reden, aber was er sagen wollte, gedieh nicht über ein einleitendes Zungenschnalzen hinaus, das sich anhörte wie das Klicken eines Uhrwerks, bevor es die Stunde schlägt, denn im selben Moment, als er sich umdrehte, knallte Lord Peters Faust auf das Tischchen, daß die Karaffen klirrten, und er rief mit der lauten Stimme völliger und plötzlicher Erleuchtung:

»Manon Lescaut!«

»Wie?« machte Mr. Parker.

»Man sollte mein Gehirn in Salz kochen!« sagte Lord Peter. »Kochen und zerstampfen und mit Butter als Rübeneintopf servieren, das ist das einzige, wozu es taugt! Sieh mich an!« (Mr. Parker bedurfte kaum dieser Aufforderung.) »Da zerbrechen wir uns den Kopf über Jerry, machen uns Sorgen um Mary, jagen einem Goyles und einem Grimethorpe und weiß der Himmel wem noch nach - und die ganze Zeit habe ich dieses Stückchen Papier wohlverwahrt in meiner Tasche. Die Kleckse auf des Löschblatts Rand, als Kleckse hat er nur erkannt, und waren sie nicht mehr. Aber Manon, Manon! Charles, wenn ich nur die grauen Zellen einer Holzlaus hätte, dieses Buch würde mir die ganze Geschichte erzählt haben. Und stell dir vor, was uns alles erspart geblieben wäre!«

»Nun erreg dich doch nicht so«, sagte Parker. »Es muß ja ein herrliches Gefühl für dich sein, alles so klar zu sehen, aber ich habe Manon Lescaut nie gelesen, und das Löschblatt hast du mir nicht gezeigt, ich habe nicht die verschwommenste Ahnung, was du entdeckt hast.«

Lord Peter überreichte ihm das Souvenir ohne Kommentar.

»Ich sehe«, sagte Parker, »daß dieses Stück Papier ziemlich zerknüllt und schmutzig ist und stark nach Tabak und russischem Leder riecht, und daraus schließe ich, daß du es in deiner Brieftasche hattest.«

»Nein!« rief Wimsey ungläubig. »Und das, nachdem du es mich da hast herausnehmen sehen! Holmes, wie machst du das?«

»An einer Ecke«, fuhr Parker fort, »sehe ich zwei Tintenkleckse, einen größeren und einen kleineren. Da muß wohl jemand die Feder ausgeklopft haben. Ist an diesen Flecken etwas faul?«

»Ich habe nichts bemerkt.«

»Ein Stückchen unter den Flecken hat der Herzog ein paarmal seinen Namenszug hingesetzt - oder sogar seinen Titel. Das bedeutet, daß die Briefe nicht an Vertraute gingen.«

»Dieser Schluß ist zulässig, glaube ich.«

»Oberst Marchbanks hat eine saubere Unterschrift.«

»Der Mann kann kaum Böses im Schilde führen«, meinte Peter. »Er unterschreibt wie ein ehrlicher Mensch! Weiter.«

»Da steht etwas hingekritzelt über fünf irgendwas schöne irgendwas. Siehst du daran etwas Geheimnisvolles?«

»Die Zahl Fünf könnte eine kabbalistische Bedeutung haben, aber ich gebe zu, ich weiß nicht welche. Man hat fünf Sinne, fünf Finger, fünf große chinesische Lehren, fünf Bücher Mose, ganz zu schweigen von diesen fünf Wesenheiten im Dilly-Lied - >Fünf sind der Grellen unter dem Mast<. Ich muß gestehen, daß ich stets danach gelechzt habe, zu wissen, was Grellen sind. Aber da ich es nicht weiß, helfen sie mir in diesem Fall auch nicht weiter.«

»Tja, und das ist alles, bis auf ein paar Bruchstücke von einem >oe< in einer Zeile und >is f.uc darunter.«

»Was stellst du dir darunter vor?«

»>Ist faul< oder so was.«

»So?«

»Das scheint mir die einfachste Deutung zu sein. Oder vielleicht auch >ist fluchwürdig< - zwischen dem >f< und >u< ist die Tinte ein bißchen dick geflossen - das kann alles sein. Meinst du, es heißt >fluchwürdig

»Nein, das lese ich da nicht heraus. Außerdem ist das nicht Jerrys Handschrift.«

»Wessen denn?«

»Weiß ich nicht. Aber ich kann es mir denken.«

»Und bringt uns das weiter?«

»Es erzählt uns die ganze Geschichte.«

»Na, nun spuck's schon aus, Wimsey. Sogar Dr. Watson würde irgendwann die Geduld verlieren.«

»Ts, ts! Schau dir mal die Zeile darüber an.«

»Da sehe ich nur ein >oe<.«

»Und?«

»Ich weiß nicht. >Poesie< vielleicht, >Goethe<, >Citroën<, >Hors-d'œuvre< - das kann vieles heißen.«

»Ich weiß nicht. Aber mit deinem letzten Wort kommst du der Sache schon näher - das >o< und >e< stehen sehr dicht zusammen, fast wie im Französischen.«

»Du meinst, es ist vielleicht ein französisches Wort?«

»Genau! Vielleicht ein französisches Wort.«

»Oder der Text ist überhaupt französisch?«

»Du hast es erfaßt. Französische Wörter mit >oe< bitte.«

»Sœur - œuvre - œuf - bœuf-«

»Nein, nein, das erste Wort war näher dran.«

»Sœur - cœur!«

»Cœur. Einen Moment. Sieh dir mal das Gekritzel davor an.«

»Warte mal - er - cer -«

»Wie wär's mit percer?«

»Ich glaube, du hast recht. >Percer le cœur.«<

»Ja. Oder perceras le cœur<.«

»Das klingt besser. Es sieht auch so aus, als ob da noch ein, zwei Buchstaben hineingehörten.«

»Und jetzt noch einmal die Zeile mit dem >is - f.u<.«

»Fou!«

»Wer?«

»Ich habe keinen Namen genannt; ich habe >fou< gesagt.«

»Ich weiß, was du gesagt hast. Und ich habe gefragt, wer?«

»Wer was?«

»Wer ist fou?«

»Ach so - >is<. Himmel, klar doch, >suisJe suis fou.<«

»A la bonne heure! Und ich schlage vor, daß die nächsten beiden Wörter >de douleur< oder so etwas heißen.«

»Könnte sein.«

»Du bist ziemlich vorsichtig. Ich sage, sie heißen so!«

»Na schön, und wenn sie so heißen?«

»Dann sagen sie uns alles.«

»Überhaupt nichts!«

»Alles, sage ich. Denk mal nach. Geschrieben wurde das an dem Tag, als Cathcart starb. So, und wer im Haus könnte wohl solche Worte geschrieben haben - perceras le cœur je suis fou de douleur

»Nein, natürlich. Es müßte also Cathcart gewesen sein -oder Lady Mary.«

»Quatsch! Mary kann's nicht gewesen sein.«

»Warum nicht?«

»Weil sie dann ihr Geschlecht geändert haben müßte, nicht?«

»Stimmt ja. Dann müßte da stehen: >Je suis folle.< Also Cathcart -«

»Eben. Er hat sein ganzes Leben in Frankreich zugebracht. Denk an sein Bankbuch. Denk an -«

»Mein Gott! Wimsey, wir waren blind.«

»Richtig.«

»Paß mal auf! Das wollte ich dir nämlich vorhin sagen. Die Sûreté hat mir geschrieben, daß sie eine von Cathcarts Banknoten hat aufspüren können.«

»Bei wem?«

»Bei einem Monsieur François, dem etliche Häuser am Étoile gehören.«

»Und in denen er Appartements vermietet!«

»Zweifellos.«

»Wann geht der nächste Zug? Bunter!«

»Mylord?«

Mr. Bunter kam auf den Ruf hin zur Tür geeilt.

»Der nächste Schiffszug nach Paris?«

»Acht Uhr zwanzig, Mylord.«

»Packen Sie meine Zahnbürste ein und rufen Sie mir ein Taxi.«

»Gewiß, Mylord.«

»Aber, Wimsey, was bedeutet das in bezug auf den Mord an Cathcart? Hat etwa diese Frau -«

»Keine Zeit«, sagte Wimsey hastig. »Aber ich bin in ein, zwei Tagen wieder da. Inzwischen -«

Er suchte eilig auf einem Bücherregal herum.

»Lies das mal.«

Er warf seinem Freund das Buch zu und stürzte ins Schlafzimmer.

Um elf Uhr, als der Streifen schmutzigen, von Öl und Papierfetzen verunzierten Wassers zwischen der Normannia und dem Kai immer breiter wurde, während abgehärtete Passagiere ihre Seemägen mit kaltem Schinken und eingelegten Gürkchen stärkten und die nervöseren sich die Schwimmwesten in ihren Kabinen anschauten, während die Hafenlichter blinkten und rechts und links vorüberzogen und Lord Peter in der Bar eine flüchtige Bekanntschaft mit einem zweitklassigen Filmschauspieler anknüpfte, saß Charles Parker mit verwundert gerunzelter Stirn vor dem Kaminfeuer in Piccadilly 110 A und machte seine erste Bekanntschaft mit jenem delikaten Meisterwerk des Abbé Prévost.

Des Beiles Schneide gegen ihn gerichtet

Szene I: Westminster-Halle. Die geistlichen Lords zur Rechten des Throns, die weltlichen Lords zur Linken, die Gemeinen unterhalb. Bolingbroke, Aumerle, Surrey, Northumberland, Percy, Fitzwater, ein andrer Lord, Bischof von Carlisle, Abt von Westminster und Gefolge. Im Hintergrund Gerichtsbediente mit Bagot.

Bolingbroke: Ruft Bagot vor! Nun, Bagot, rede frei heraus,

Was du vom Tod des edlen Gloster weißt:

Wer trieb den König an, und wer vollbrachte Den blut'gen Dienst zu seinem frühen Ende?

Bagot: So stellt mir vors Gesicht den Lord Aumerle.

König Richard II.

Der historische Prozeß gegen den Herzog von Denver wegen Mordes begann mit der ersten Sitzung des Parlaments nach den Weihnachtsferien. Die Zeitungen trugen Aufmacher wie »Prozeß vor seinesgleichen«, von einer Rechtsanwältin, oder »Das Privileg der Peers; abschaffen oder nicht?«, von einem Studenten der Geschichte. Der Evening Banner handelte sich mit einem Artikel unter der Überschrift »Die seidene Schlinge« (von einem Antiquar), der als voreingenommen erachtet wurde, Ärger wegen Mißachtung des Gerichts ein, und die Daily Trumpet - das Organ der Arbeiterpartei - fragte ironisch, warum bei einem Prozeß gegen einen Peer nur die paar einflußreichen Persönlichkeiten, die eine Karte für die Königliche Galerie ergattern konnten, den Spaß des Zuschauens haben durften.

Mr. Murbles und Kriminalinspektor Parker, die engen Kontakt miteinander hielten, liefen mit sorgenvollen Gesichtern herum, während Sir Impey Biggs, umkreist von Mr. Glibbery, Kronanwalt, Mr. Brownrigg-Fortescue, Kronanwalt, und einigen unbedeutenderen Planeten, drei Tage lang Sonnenfinsternis spielte. Die Pläne der Verteidigung wurden in der Tat im dunkeln gehalten - um so mehr, als sie sich am Vorabend der Schlacht noch ihres Hauptzeugen beraubt sah und nicht wußte, ob er sein Entlastungsmaterial überhaupt würde beibringen können.

Lord Peter war nach vier Tagen aus Paris zurückgekommen und wie ein Wirbelwind in die Great Ormond Street gefahren. »Ich hab's«, sagte er, »aber es hängt am seidenen Faden. Hör zu!«

Eine Stunde lang hatte Parker zugehört und sich fieberhaft Notizen gemacht.

»Du kannst darauf schon mal aufbauen«, sagte Wimsey. »Und sag Murbles Bescheid. Ich muß weg.«

Als nächstes kreuzte er in der amerikanischen Botschaft auf. Der Botschafter aber war nicht da, denn er war zu einem königlichen Diner befohlen worden. Wimsey wünschte das Diner zum Teufel, ließ die höflichen, hornbebrillten Sekretäre stehen, sprang in sein Taxi und verlangte, zum BuckinghamPalast gefahren zu werden. Dort brachte eine lange Diskussion mit pikierten Höflingen zunächst einen höheren Höfling, dann einen ganz hohen Höfling auf den Plan, und schließlich erschienen der amerikanische Botschafter und ein Mitglied des Königshauses, noch mit dem letzten Bissen im Mund.

»O ja«, sagte der Botschafter, »natürlich läßt sich das machen -«

»Gewiß, gewiß«, sagte die Hoheit huldvoll, »wir können keine Verzögerung brauchen. Das könnte zu internationalen Mißverständnissen führen und einen großen Schriftwechsel wegen Ellis Island zur Folge haben. Ärgerlich, wenn wir den Prozeß verschieben müßten - schreckliches Theater, nicht? Unsere Sekretäre schleppen uns ständig neue Schriftstücke wegen weiterer Polizeikräfte und Sitzgelegenheiten zur Unterschrift an. Viel Glück, Wimsey! Kommen Sie, essen Sie einen Happen, während Ihre Papiere fertig gemacht werden. Wann legt Ihr Schiff ab?«

»Morgen früh, Sir. Ich will in einer Stunde den Zug nach Liverpool erreichen - wenn ich kann.«

»Sie werden«, sagte der Botschafter wohlwollend, während er ein Schriftstück unterschrieb. »Und da heißt es, die Engländer hätten es nie eilig.«

So stach Seine Lordschaft, versehen mit allen notwendigen Papieren, andern Morgens von Liverpool aus in See und überließ es derweil den Juristen, alternative V erteid igungs strategien au szuarb eiten.

»Dann die Peers, zu zwei und zwei in ihrer Reihenfolge, beginnend mit dem jüngsten Baron.«

Der Erste Wappenherold, erhitzt und verwirrt, sprang unglücklich zwischen den rund dreihundert britischen Peers herum, die sich verlegen in ihre Roben zwängten, während die Herolde ihr Möglichstes taten, die Versammelten aufzustellen und davon abzuhalten, wieder durcheinander zu laufen, wenn sie einmal standen.

»So eine Farce!« grollte Lord Attenbury verärgert. Er war ein sehr kleiner, untersetzter Herr von cholerischem Temperament, und es ärgerte ihn, daß er ausgerechnet neben dem Graf von Strathgillan und Begg zu stehen kam, einem ungewöhnlich hochgewachsenen, hageren Edelmann mit entschiedenen Ansichten zur Prohibition und zur Legitim ation sfrage.

»Sagen Sie mal, Attenbury«, ließ sich ein freundlicher Peer mit rotem Gesicht und fünf Reihen Hermelin auf der Schulter vernehmen, »stimmt es, daß Wimsey noch nicht wieder da ist? Meine Tochter erzählt mir, daß er in die Staaten gereist ist, um Beweise aufzutreiben? Wieso in die Staaten?«

»Weiß ich nicht«, sagte Attenbury, »aber Wimsey ist ein blitzgescheiter Bursche. Als er diese Smaragde von mir wiederfand, wissen Sie, da habe ich gesagt -«

»Euer Gnaden, Euer Gnaden!« rief einer der Herolde verzweifelt und stürzte sich ins Gewühl. »Euer Gnaden sind wieder aus der Reihe.«

»Wie, was?« fragte der rotgesichtige Peer. »Menschenskind! Muß wohl Anweisungen befolgen, wie?« Und damit wurde er von den schlichten Earls fortgezogen und neben den Herzog von Wiltshire gestellt, der stocktaub und mit Denver entfernt verschwägert war.

Die Königliche Galerie war zum Bersten gefüllt. Auf den Plätzen unterhalb der Gerichtsschranke, die für die Damen der Peers reserviert waren, saß die Herzoginwitwe von Denver, wundervoll gekleidet und trotzig. Sie litt sehr unter der unmittelbaren Nähe ihrer Schwiegertochter, deren Unglück es war, unausstehlich zu werden, wenn sie Kummer hatte -vielleicht der schwerste Fluch für den Menschen, der zum Leiden geboren ist.

Unten im Saal, hinter einem imponierenden Aufgebot von Verteidigern in Allongeperücken, waren Plätze für die Zeugen reserviert, und dort war auch Mr. Bunter untergebracht - um auszusagen, falls die Verteidigung es für nötig hielt, das Alibi vorzubringen -, während die meisten Zeugen in der Königlichen Garderobe zusammengepfercht saßen, sich auf die Finger bissen und einander anstarrten. Oberhalb der Gerichtsschranke befanden sich auf beiden Seiten die Bänke für die Peers, von denen jeder de facto und de jure ein Richter war, während auf dem hohen Podest der große Staatssessel für den Großhofmeister bereit stand.

Die Reporter an ihrem kleinen Tischchen begannen schon unruhig zu werden und auf die Uhr zu sehen. Durch Mauern und Stimmengesumm gedämpft fielen elf langsame Schläge des Big Ben in die Spannung. Eine Tür ging auf. Die Reporter sprangen von ihren Sitzen; die Verteidiger erhoben sich; alle standen auf; die Herzoginwitwe konnte sich nicht enthalten, ihrer Nachbarin zuzuflüstern, das Ganze erinnere sie an die Stimme, die über Eden wehte; und die Prozession strömte langsam herein, angeleuchtet von den Strahlen der Wintersonne, die durch die hohen Fenster hereindrangen.

Das Verfahren wurde eröffnet mit einem Aufruf um Ruhe durch den Zeremonienmeister, wonach der Königliche Gerichtsschreiber, am Fuße des Throns kniend, dem Großhofmeister seine Ernennung unter dem Großsiegel überreichte, der nichts damit anzufangen wußte und sie dem Königlichen Gerichtsschreiber mit großer Feierlichkeit zurückreichte. Dieser las das langatmige und umständliche Schriftstück den Versammelten vor und gab ihnen so Gelegenheit, festzustellen, wie schlecht die Akustik in diesem Raum war. Der Zeremonienmeister antwortete mit einem volltönenden »God Save the King«, woraufhin der Erste Wappenherold und der Erste Meister des Hosenbandordens, wiederum kniend, dem Großhofmeister seinen Amtsstab überreichten. (»So malerisch, nicht?« meinte die Herzoginwitwe. »Ganz Hochkirche.«)

Es folgte die Prozedur der Aktenvorlage in einer langen und eintönigen Litanei, die sich, beginnend mit Georg V. von Gottes Gnaden, auf sämtliche Richter und Oberrichter des Old Bailey berief, den Oberbürgermeister von London, den Stadtrichter und eine Anzahl anderer Ratsherren und Richter zitierte, zurückkam auf unseren Herrn den König, dann die Londoner City und die Grafschaften von London und Middlesex, Essex, Kent und Surrey durchstreifte, unseren verstorbenen Herrn und König Wilhelm IV. erwähnte, abschweifte ins Kommunalverwaltungsgesetz 1888, sich verlor in einer Aufzählung sämtlicher Verrätereien, Morde, Verbrechen und Vergehen, von wem auch immer und in

* Dieses Amt war, wie üblich, an den Lordkanzler gefallen.

welcher Weise auch immer begangen, vollbracht oder durchgeführt und an wem auch immer und in welcher Weise, sowie aller sonstigen Artikel und Umstände, die alle zusammen und jeder für sich inwiefern und in welcher Weise das Obenerwähnte beträfen, und zuletzt, nachdem sie die Namen der ganzen Großen Geschworenenkammer aufgezählt hatte, triumphierend und mit plötzlicher, brutaler Kürze auf den Anklagepunkt zurückkam:

»Die vereidigten Juroren für unseren Herrn und König erheben Anklage gegen den wohledlen und mächtigen Fürsten Gerald Christian Wimsey, Viscount St. George, Herzog von Denver, Peer des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland, am 13. Oktober im Jahre des Herrn 1923 in der Gemeinde Riddlesdale in der Grafschaft Yorkshire den Hauptmann Denis Cathcart getötet und ermordet zu haben.«

»Danach wurde vom Zeremonienmeister an den Ersten Meister des Hosenbandordens die Aufforderung gerichtet, Gerald Christian Wimsey, Viscount St. George, Herzog von Denver, vor die Gerichtsschranke zu rufen, damit er auf diese Anklage antworte, woraufhin dieser, nachdem er vor die Schranke getreten war, niederkniete, bis der Großhofmeister ihn belehrte, daß er sich erheben dürfe.«

Der Herzog von Denver wirkte sehr klein und nackt und einsam in seinem blauen Straßenanzug, das einzige unbedeckte Haupt unter allen Peers, aber er war nicht ohne eine gewisse Würde, als er zu dem »Stuhl innerhalb der Gerichtsschranken« geleitet wurde, der für wohlgeborene Angeklagte als angemessen gilt, und er hörte dort die Wiederholung der Anklage durch den Großhofmeister mit schlichtem Ernst an, der ihm gut zu Gesicht stand.

»Dann wurde der Herzog von Denver auf die übliche Weise vom Kanzlisten der Parlamente zur Anklage gehört und

* Siehe die Protokolle des Oberhauses für die betreffenden Tage.

gefragt, ob er sich schuldig oder nicht schuldig bekenne, woraufhin er sich als >nicht schuldig« bezeichnete.«

Nun erhob sich Sir Wigmore Wrinching, der Ankläger, um den Fall aus der Sicht der Krone zu schildern.

Nach den üblichen Einleitungsfloskeln des Inhalts, daß der Fall ein sehr schmerzlicher und das Ereignis ein sehr ernstes sei, rollte Sir Wigmore das Geschehen von Anfang an auf: den Streit, den Schuß um drei Uhr morgens, die Pistole, die Entdeckung der Leiche, das Verschwinden des Briefs und die ganzen übrigen bereits bekannten Einzelheiten. Er kündigte ferner Zeugenaussagen an, die zeigen sollten, daß der Streit zwischen Denver und Cathcart andere als die vom Angeklagten behaupteten Gründe gehabt habe und daß letzterer, wie man sehen werde, »guten Grund zu der Befürchtung gehabt« habe, »von Cathcart bloßgestellt zu werden«. Bei diesen Worten sah man den Angeklagten einen besorgten Blick zu seinem Anwalt werfen. Die Darlegung des Falles nahm nur kurze Zeit in Anspruch, und danach bat Sir Wigmore, seine Zeugen aufrufen zu dürfen.

Da die Anklage nun nicht gut den Herzog von Denver aufrufen konnte, war die erste wichtige Zeugin Lady Mary Wimsey. Nachdem sie ihre Beziehungen zu dem Ermordeten dargelegt und den Streit geschildert hatte, fuhr sie fort: »Um drei Uhr morgens stand ich auf und ging nach unten.«

»Aus welchem Anlaß taten Sie das?« fragte Sir Wigmore und sah sich mit der Miene eines Mannes im Gerichtssaal um, der seinen großen Auftritt einleitet.

»Wegen einer Verabredung, die ich mit einem Freund getroffen hatte.«

Alle Reporter sahen plötzlich auf wie Hunde in Erwartung eines Stücks Kuchen, und Sir Wigmore schrak so heftig zusammen, daß er seine Akte vom Tisch stieß und diese dem unter ihm sitzenden Sekretär des Oberhauses auf den Kopf fiel.

»Ich darf doch bitten! Zeugin, bedenken Sie, daß Sie unter Eid stehen, und sehen Sie sich vor. Was hat Sie um drei Uhr aufgeweckt?«

»Ich habe gar nicht geschlafen. Ich wartete auf den Zeitpunkt meiner Verabredung.«

»Und während Sie warteten, haben Sie da etwas gehört?«

»Nein, nichts.«

»Aber, Lady Mary, ich habe hier Ihre beeidete Aussage vor dem Untersuchungsrichter. Ich lese sie Ihnen vor. Hören Sie bitte gut zu. Sie sagen: >Um drei Uhr wurde ich durch einen Schuß geweckt. Ich glaubte, es seien Wilddiebe. Es klang sehr laut und nah beim Haus. Ich ging hinunter, um nachzusehen, was es war.< Erinnern Sie sich, diese Aussage gemacht zu haben?«

»Ja, aber das war nicht die Wahrheit.«

»Nicht die Wahrheit?«

»Nein.«

»Wollen Sie angesichts dieser Aussage noch immer behaupten, Sie hätten um drei Uhr nichts gehört?«

»Ich habe gar nichts gehört; ich bin hinuntergegangen, weil ich eine Verabredung hatte.«

»Meine Lords«, sagte Sir Wigmore, sehr rot im Gesicht, »ich muß Sie um Ihre Erlaubnis bitten, diese Zeugin als Zeugin der Gegenseite zu behandeln.«

Aber auch die heftigsten Angriffe Sir Wigmores brachten kein anderes Ergebnis als die immer wiederholte Feststellung, daß zu keiner Zeit ein Schuß gehört worden sei. Auf die Entdeckung der Leiche angesprochen, sagte Lady Mary, sie habe, als sie sagte: >Mein Gott, Gerald, du hast ihn getötet<, unter dem Eindruck gestanden, daß der Tote der Freund gewesen sei, mit dem sie verabredet war. Hier entspann sich nun ein hitziges Wortgefecht zu der Frage, ob die näheren Umstände dieser Verabredung für den Prozeß erheblich seien. Die Lords entschieden, daß sie eigentlich erheblich seien; und somit kam die ganze Goyles-Geschichte heraus, verbunden mit der Mitteilung, daß Mr. Goyles anwesend sei und als Zeuge aufgerufen werden könne. Schließlich übergab Sir Wigmore Wrinching die Zeugin mit einem vernehmlichen Schnauben an Sir Impey Biggs, der sich, schön wie er war, mit freundlicher Miene erhob und die Diskussion wieder auf einen weit zurückliegenden Punkt brachte.

»Verzeihen Sie mir die Art dieser Frage«, sagte Sir Impey mit einer höflichen Verbeugung, »aber wollen Sie uns bitte sagen, ob Ihrer Ansicht nach der verstorbene Hauptmann Cathcart sehr in Sie verliebt war?«

»Nein, ich bin sogar sicher, daß er es nicht war; es war ein Arrangement zu unserem beiderseitigen Vorteil.«

»Soweit Sie ihn kannten, glauben Sie, daß er einer sehr tiefen Zuneigung fähig war?«

»Das halte ich für möglich - bei der richtigen Frau. Ich würde sagen, er war sehr leidenschaftlich veranlagt.«

»Danke. Sie haben uns erzählt, daß Sie Hauptmann Cathcart mehrere Male getroffen haben, als Sie letzten Februar in Paris waren. Erinnern Sie sich, mit ihm in ein Juweliergeschäft gegangen zu sein - zu Monsieur Briquet in der Rue de la Paix?«

»Kann sein; aber das weiß ich nicht sicher.«

»Das Datum, auf das ich Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte, ist der 6. Februar.«

»Ich weiß es nicht.«

»Erkennen Sie dieses Amulett?«

Damit wurde der Zeugin die grünäugige Katze übergeben.

»Nein; ich habe es nie gesehen.«

»Hat Hauptmann Cathcart Ihnen je etwas in der Art geschenkt?«

»Nein, nie.«

»Haben Sie je so ein Schmuckstück besessen?«

»Nein, da bin ich völlig sicher.«

»Meine Lords, ich darf diese Platinkatze mit Brillanten zu den Beweisstücken legen. Danke, Lady Mary.«

James Fleming, eingehend nach der Postzustellung befragt, blieb ausweichend und vergeßlich und hinterließ insgesamt beim Gericht den Eindruck, daß der Herzog überhaupt nie einen Brief bekommen habe. Sir Wigmore, der in seiner Eröffnungsrede schon düster auf Versuche angespielt hatte, den Charakter des Opfers anzuschwärzen, lächelte hämisch und überließ den Zeugen Sir Impey. Dieser begnügte sich damit, dem Zeugen das Zugeständnis zu entlocken, daß er sich mit Sicherheit weder so noch so erinnere, und ging dann sofort auf einen anderen Punkt über.

»Erinnern Sie sich, ob mit derselben Post noch Briefe für andere Mitglieder der Jagdgesellschaft gekommen sind?«

»Ja, ich habe drei oder vier Briefe ins Billardzimmer gebracht.«

»Können Sie sagen, an wen sie adressiert waren?«

»Ein paar waren für Oberst Marchbanks und einer für Hauptmann Cathcart.«

»Hat Hauptmann Cathcart seinen Brief an Ort und Stelle geöffnet?«

»Das weiß ich nicht, Sir. Ich habe das Zimmer sofort wieder verlassen, um die Post für Seine Gnaden ins Arbeitszimmer zu bringen.«

»Könnten Sie uns nun einmal erzählen, auf welche Weise die Post, die morgens fortgehen soll, im Jagdhaus eingesammelt wird?«

»Die Briefe werden in den Postsack geworfen, der verschlossen ist. Seine Gnaden hat einen Schlüssel, den anderen hat die Post. Die Briefe werden oben durch einen Schlitz gesteckt.«

»Wurden an dem Morgen nach Hauptmann Cathcarts Tod die Briefe wie gewöhnlich zur Post gebracht?«

»Ja, Sir.«

»Von wem?«

»Ich habe den Sack selbst hingebracht, Mylord.«

»Hatten Sie eine Gelegenheit, zu sehen, was für Briefe sich darin befanden?«

»Als die Postmeisterin den Sack leerte, habe ich gesehen, daß es mehrere Briefe waren, aber ich könnte nicht sagen, an wen sie adressiert waren oder sonst etwas.«

»Ich danke Ihnen.«

Hier sprang Sir Wigmore vom Stuhl auf wie ein sehr verärgerter Kastenteufel.

»Ist dies das erste Mal, daß Sie diesen Brief erwähnen, den Sie in der Mordnacht angeblich Hauptmann Cathcart ausgehändigt haben?«

»Meine Lords«, rief Sir Impey. »Ich erhebe Einspruch gegen diese Formulierung. Bisher liegt noch kein Beweis dafür vor, daß ein Mord begangen wurde.«

Dies war der erste Hinweis auf die Verteidigungsstrategie, die Sir Impey einzuschlagen gedachte, und er verursachte ein leises Raunen der Erregung.

»Meine Lords«, fuhr der Verteidiger auf eine Frage des Großhofmeisters fort, »ich stelle fest, daß bisher noch nicht versucht worden ist, den Tatbestand des Mordes zu beweisen, und daß ein solches Wort einem Zeugen nicht in den Mund gelegt werden darf, solange die Anklage den Tatbestand des Mordes nicht bewiesen hat.«

»Es wäre wohl besser, Sir Wigmore, wenn Sie einen anderen Ausdruck wählten.«

»Für unseren Fall hat dies keinerlei Bedeutung, Mylord. Ich beuge mich der Entscheidung Eurer Lordschaft. Der Himmel weiß, daß ich nie den Versuch machen würde, auch nicht durch das kleinste und unbedeutendste Wort, die Verteidigung bei so einer schwerwiegenden Anklage zu behindern.«

»Meine Lords«, rief Sir Impey dazwischen, »wenn der Herr Anklagevertreter das Wort >Mord< als unbedeutend bezeichnet, wäre es interessant zu wissen, welchen Worten er Bedeutung beimißt.«

»Der Herr Anklagevertreter hat sich bereit gefunden, das Wort durch ein anderes zu ersetzen«, sagte der Großhofmeister beschwichtigend und nickte Sir Wigmore zu, fortzufahren. Sir Impey, dem es somit gelungen war, dem Angriff des Anklagevertreters auf den Zeugen die ursprüngliche Wucht zu nehmen, setzte sich wieder, und Sir Wigmore wiederholte seine Frage.

»Ich habe ihn vor ungefähr drei Wochen zum erstenmal gegenüber Mr. Murbles erwähnt.«

»Mr. Murbles ist der juristische Vertreter des Angeklagten, nehme ich an?«

»Ja, Sir.«

»Und wie kommt es«, fragte Sir Wigmore grimmig, indem er den Kneifer auf seiner recht ansehnlichen Nase zurechtrückte und den Zeugen böse anfunkelte, »daß Sie den Brief nicht schon bei der Untersuchungsverhandlung oder in einem früheren Stadium der Untersuchung erwähnt haben?«

»Weil mich niemand danach gefragt hat, Sir.«

»Was hat Sie plötzlich zu dem Entschluß gebracht, Mr. Murbles davon zu erzählen?«

»Er hat mich gefragt, Sir.«

»So, er hat Sie gefragt; und Sie haben sich entgegenkommenderweise daran erinnert, als Ihnen dieser Gedanke nahegelegt wurde?«

»Nein, Sir. Ich habe mich die ganze Zeit daran erinnert. Das heißt, ich habe dem keine besondere Bedeutung beigemessen, Sir.«

»So, Sie haben sich die ganze Zeit daran erinnert, obwohl Sie ihm weiter keine Bedeutung beimaßen. Und jetzt sage ich Ihnen auf den Kopf zu, daß Sie sich überhaupt nie daran erinnert haben, bis es Ihnen von Mr. Murbles nahegelegt wurde.«

»Mr. Murbles hat mir nichts nahegelegt, Sir. Er hat mich gefragt, ob mit derselben Post noch weitere Briefe gekommen seien, und da ist es mir eingefallen.«

»Genau! Als es Ihnen nahegelegt wurde, haben Sie sich erinnert, vorher aber nicht.«

»Nein, Sir. Das heißt, wenn ich früher gefragt worden wäre, hätte ich mich auch früher daran erinnert und den Brief erwähnt, aber da ich nicht danach gefragt wurde, habe ich ihn nicht für wichtig gehalten, Sir.«

»Sie haben es also nicht für wichtig gehalten, daß dieser Mann wenige Stunden, bevor - vor seinem Tod - einen Brief erhielt?«

»Nein, Sir. Ich habe gedacht, wenn er wichtig gewesen wäre, hätte die Polizei mich danach gefragt, Sir.«

»Nun, James Fleming, ich halte Ihnen noch einmal vor, daß die Idee, Hauptmann Cathcart könne an dem Abend, bevor er starb, noch einen Brief erhalten haben, Ihnen nie gekommen ist, bevor sie Ihnen von der Verteidigung in den Kopf gesetzt wurde.«

Der Zeuge, verwirrt von diesem etwas umständlichen Satz, gab eine konfuse Antwort, und Sir Wigmore sah sich im Saal um, als wollte er sagen: »Na bitte, seht euch diesen unsicheren Kantonisten an.«

»Ich nehme an, daß Sie auch nicht auf den Gedanken gekommen sind, der Polizei etwas von den Briefen im Postsack zu sagen?«

»Nein, Sir.«

»Warum nicht?«

»Ich habe nicht geglaubt, daß mir dies zukommt, Sir.«

»Haben Sie überhaupt daran gedacht?«

»Nein, Sir.«

»Denken Sie überhaupt jemals?«

»Nein, Sir - ich meine, ja, Sir.«

»Dann denken Sie jetzt bitte gut darüber nach, was Sie sagen.«

»Ja, Sir.«

»Sie sagen, daß Sie diese ganzen wichtigen Briefe aus dem Haus getragen haben, ohne dazu ermächtigt gewesen zu sein und ohne die Polizei zu benachrichtigen?«

»Ich hatte meine Anweisungen, Sir.«

»Von wem?«

»Es war ein Befehl von Seiner Gnaden, Sir.«

»Ach! Ein Befehl von Seiner Gnaden. Wann haben Sie diesen Befehl bekommen?«

»Es gehörte zu meinen ständigen Pflichten, Sir, jeden Morgen den Sack zur Post zu bringen.«

»Und Sie sind nicht auf den Gedanken gekommen, daß in so einem Fall eine ordnungsgemäße Benachrichtigung der Polizei wichtiger sein könnte als die Befolgung Ihrer Anweisungen?«

»Nein, Sir.«

Sir Wigmore nahm mit angewiderter Miene wieder Platz, und Sir Impey übernahm den Zeugen.

»Ist Ihnen die Sache mit dem Brief, den Sie Mr. Cathcart ausgehändigt hatten, zwischen dem Todestag und dem Tag, an dem Mr. Murbles mit Ihnen darüber sprach, nie durch den Kopf gegangen?«

»Nun, durch den Kopf gegangen ist sie mir gewissermaßen schon, Sir.«

»Wann war das?«

»Vor der Geschworenenkammer, Sir.«

»Und warum haben Sie da nichts davon gesagt?«

»Der Herr dort hat gesagt, ich solle mich auf die Beantwortung der Fragen beschränken und nichts von mir aus sagen, Sir.«

»Wer war denn dieser sehr gebieterische Herr?«

»Der Vertreter der Anklage, Sir.«

»Danke«, sagte Sir Impey befriedigt, setzte sich und lehnte sich zu Mr. Glibbery hinüber, um ihm etwas offenbar sehr Erheiterndes mitzuteilen.

Der Frage nach dem Brief wurde im Verhör des Ehrenwerten Fred-dy weiter nachgegangen. Sir Wigmore Wrinching legte großes Gewicht auf die Versicherung des Zeugen, daß der Verstorbene am Mittwochabend beim Zubettgehen in ausgezeichneter Verfassung und bester Laune gewesen sei und von seiner bevorstehenden Heirat gesprochen habe.

»Er kam mir besonders heißa vor, wissen Sie«, sagte der Ehrenwerte Freddy.

»Besonders was?« erkundigte sich der Großhofmeister.

»Heißa, Mylord«, sagte Sir Wigmore mit einer spöttischen Verbeugung.

»Nun, ich weiß nicht, ob man dieses Wort so verwenden kann«, sagte Seine Lordschaft, indem er es mit besonderer Sorgfalt seinen Notizen einverleibte, »aber ich nehme an, es soll hier ein Synonym für heiter sein.«

Der um seine Zustimmung gebetene Ehrenwerte Freddy meinte, er habe wohl mehr als heiter damit ausdrücken wollen, mehr lustig und strahlend, nicht wahr?

»Können wir also annehmen, daß er vergnügten Geistes war?« riet der Verteidiger.

»Nehmen Sie welchen Geist Sie wollen«, murmelte der Zeuge und ergänzte noch eine Spur fröhlicher: »Nimm 'nen Klaren von John MacLaren.«

»Der Verstorbene war also ganz besonders fröhlich und guter Dinge, als er zu Bett ging«, sagte Sir Wigmore, die Stirn in furchtbare Falten gelegt, »und freute sich auf seine in naher Zukunft bevorstehende Heirat. Wäre das eine zutreffende Beschreibung seiner Verfassung?«

Der Ehrenwerte Freddy stimmte dem zu.

Sir Impey verzichtete auf ein Kreuzverhör des Zeugen hinsichtlich des Streites und kam gleich zur Sache.

»Haben Sie noch irgendeine Erinnerung an die Briefe, die am Abend seines Todes ankamen?«

»Ja; für mich war einer von meiner Tante dabei. Der Oberst kriegte ein paar, glaube ich, und einer war für Cathcart.«

»Hat Hauptmann Cathcart seinen Brief an Ort und Stelle gelesen?«

»Nein, das weiß ich genau. Sehen Sie, ich habe meinen geöffnet, und dann sah ich, wie er seinen in die Tasche steckte, und hab gedacht -«

»Was Sie gedacht haben, ist nicht wichtig«, sagte Sir Impey. »Was haben Sie getan?«

»Ich habe gesagt: Entschuldigung, stört Sie's?< Und er hat gesagt: >Nein, nicht im mindesten« Aber er hat seinen Brief noch immer nicht gelesen, und ich weiß noch, wie ich gedacht habe -«

»Wir können das hier nicht brauchen«, sagte der Großhofmeister.

»Aber daher weiß ich doch so genau, daß er ihn nicht geöffnet hat«, entgegnete der Ehrenwerte Freddy beleidigt. »Sehen Sie, ich hab mir damals nämlich gesagt, was ist der Kerl doch für ein Geheimniskrämer, und daher weiß ich das noch.«

Sir Wigmore, der schon mit geöffnetem Mund aufgesprungen war, setzte sich wieder.

»Danke sehr, Mr. Arbuthnot«, sagte Sir Impey lächelnd.

Oberst und Mrs. Marchbanks bestätigten, gegen halb zwölf etwas im Arbeitszimmer des Herzogs gehört zu haben. Einen Schuß oder sonstige Geräusche hätten sie nicht gehört. Sie wurden nicht ins Kreuzverhör genommen.

Mr. Pettigrew-Robinson wartete mit einer lebhaften Schilderung des Streits auf und versicherte sehr bestimmt, daß eine akustische Verwechslung der herzoglichen Schlafzimmertür ausgeschlossen sei.

»Wir wurden dann kurz nach drei Uhr von Mr. Arbuthnot geweckt«, fuhr der Zeuge fort, »und gingen in den Wintergarten hinunter, wo ich den Angeklagten und Mr. Arbuthnot das Gesicht des Verstorbenen waschen sah. Ich habe sie darauf hingewiesen, wie unklug das von ihnen sei, da sie damit wichtige Spuren für die Polizei vernichten könnten, aber sie haben sich nicht um mich gekümmert. Um die Tür herum befanden sich viele Fußspuren, die ich untersuchen wollte, weil nach meiner Theorie -«

»Meine Lords«, rief Sir Impey, »wir können den Zeugen hier keine Theorien entwickeln lassen.«

»Gewiß nicht!« sagte der Großhofmeister. »Beantworten Sie die Fragen, die Ihnen gestellt werden, und fügen Sie von sich aus nichts hinzu.«

»Sehr wohl«, sagte Mr. Pettigrew-Robinson. »Ich wollte damit auch nicht sagen, daß daran etwas faul gewesen sei, aber ich hatte mir gedacht -«

»Behalten Sie bitte für sich, was Sie gedacht haben. Hören Sie mir zu. Als Sie den Toten sahen, wie lag er da?«

»Auf dem Rücken, und Denver und Arbuthnot wuschen ihm das Gesicht. Er war offensichtlich umgedreht worden, denn -« »Sir Wigmore«, unterbrach der Großhofmeister, »Sie müssen Ihren Zeugen bei der Sache halten.«

»Beschränken Sie sich freundlicherweise auf das, was Sie gesehen haben«, sagte Sir Wigmore leicht erhitzt. »Ihre Schlußfolgerungen interessieren uns nicht. Sie sagen, als Sie den Toten sahen, lag er auf dem Rücken. Ist das richtig?«

»Und Denver und Arbuthnot wuschen ihn.«

»Ja. Und jetzt möchte ich auf etwas anderes zu sprechen kommen. Erinnern Sie sich an einen Lunch im Königlichen Automobilclub?«

»Ja. Ich war dort Mitte August einmal zum Lunch - es muß, soviel ich weiß, der sechzehnte oder siebzehnte gewesen sein.«

»Wollen Sie uns bitte erzählen, was da geschah?«

»Ich war nach dem Lunch in den Rauchsalon gegangen und saß dort in einem hochlehnigen Sessel und las, als ich den Angeklagten mit dem seligen Hauptmann Cathcart hereinkommen sah. Das heißt, ich sah sie in dem großen Spiegel über dem Kaminsims. Sie selbst merkten nicht, daß jemand im Salon war, sonst wären sie wohl mit dem, was sie sagten, etwas vorsichtiger gewesen. Sie nahmen in meiner Nähe Platz und begannen sich zu unterhalten, und nach einiger Zeit lehnte Cathcart sich zum Herzog hinüber und sagte leise etwas, was ich nicht verstehen konnte. Daraufhin sprang der Angeklagte mit entsetztem Gesicht auf und rief: >Um Gottes willen, Cathcart, verrate mich bloß nicht - ich hätte die Hölle auf Erden« Cathcart antwortete etwas in besänftigendem Ton -ich konnte nicht hören, was er sagte, er hatte so eine heimlichtuerische Stimme -, und der Angeklagte sagte darauf: >Also, laß das jedenfalls. Ich kann mir nicht leisten, daß jemand davon erfährt.« Der Angeklagte wirkte sehr erschrocken. Hauptmann Cathcart lachte. Dann sprachen sie leise weiter, und ich habe sonst nichts gehört.«

»Danke.«

Sir Impey übernahm den Zeugen mit mephistophelischer Höflichkeit.

»Sie sind ein Mann mit ausgezeichneten Beobachtungs- und Kombinationsgaben, Mr. Pettigrew-Robinson«, begann er, »und zweifellos machen Sie bei der Beurteilung der Charaktereigenschaften und Motive anderer Menschen gern von Ihrer einfühlsamen Vorstellungskraft Gebrauch?«

»Ich glaube, ich kann mich als Kenner der menschlichen Natur bezeichnen«, antwortete Mr. Pettigrew-Robinson sehr besänftigt.

»Man zieht Sie sicherlich gern ins Vertrauen?«

»Gewiß. Ich darf mich als einen Mann bezeichnen, dem sehr viel Menschliches zu Ohren kommt.«

»In der Nacht, als Hauptmann Cathcart starb, war Ihre große Welterfahrung für die Familie sicher Trost und Hilfe?«

»Sie hat sich meine Erfahrungen leider nicht zunutze gemacht, Sir«, sagte Mr. Pettigrew-Robinson, und plötzlich brach es aus ihm heraus: »Man hat mich völlig ignoriert! Wenn man doch damals nur auf meinen Rat gehört hätte -«

»Danke, vielen Dank«, sagte Sir Impey, um einem erregten Zwischenruf des Anklägers zuvorzukommen, der daraufhin aufstand und fragte:

»Wenn Hauptmann Cathcart irgendein Geheimnis oder irgendwelche Sorgen im Leben gehabt hätte, würden Sie von ihm erwartet haben, daß er sie Ihnen anvertraute?«

»Das würde ich von jedem rechtschaffenen jungen Mann ganz gewiß erwarten«, sagte Mr. Pettigrew-Robinson großmäulig, »aber Hauptmann Cathcart war ein unangenehm verschlossener Mensch. Das einzige Mal, als ich ein freundliches Interesse an seinen Angelegenheiten zeigte, war er sehr ungezogen. Er nannte mich -«

»Das genügt«, unterbrach Sir Wigmore ihn hastig, als er sah, daß die Beantwortung seiner Frage nicht so ausfiel wie erwartet. »Wie der Verstorbene Sie genannt hat, ist unerheblich.«

Mr. Pettigrew-Robinson trat ab und hinterließ den Eindruck eines schwer Gekränkten - ein Eindruck, der die Herren Glibbery und Brownrigg-Fortescue so zu freuen schien, daß sie während des Verhörs der nächsten beiden Zeugen unablässig still in sich hineinlachten.

Mrs. Pettigrew-Robinson hatte ihrer Aussage bei der Untersuchungsverhandlung wenig hinzuzufügen. Miss Cathcart wurde von Sir Impey nach Cathcarts Elternhaus gefragt und erklärte mit hörbarer Mißbilligung in der Stimme, daß ihr Bruder, obwohl schon in den besten Jahren und ein sehr erfahrener Mann von Welt, sich von einer neunzehnjährigen italienischen Sängerin habe »einwickeln« lassen, sie zu heiraten. Achtzehn Jahre später seien beide Eltern gestorben. »Kein Wunder«, sagte Miss Cathcart, »bei dem Lebenswandel, den sie führten«, und der Junge sei in ihre Obhut gegeben worden. Sie erklärte, wie Denis sich ihrem Einfluß immer entzogen und mit Männern Umgang gepflogen habe, von denen sie nichts gehalten habe, und schließlich sei er nach Paris gegangen, um auf eigene Faust eine diplomatische Laufbahn zu beginnen. Seitdem habe sie kaum etwas von ihm gesehen.

Ein interessanter Punkt kam beim Kreuzverhör Inspektor Craikes' zur Sprache. Ein Taschenmesser wurde ihm gezeigt, und er identifizierte es als dasjenige, das er bei Cathcart gefunden hatte.

Frage von Mr. Glibbery: »Fällt Ihnen an der Klinge irgend etwas auf?«

»Ja, in der Nähe des Griffs ist eine kleine Kerbe.«

»Könnte die Kerbe daher stammen, daß versucht wurde, mit diesem Taschenmesser eine Fensterverriegelung gewaltsam zu öffnen?«

Inspektor Craikes räumte ein, daß dies der Fall sein könne, zweifelte aber, ob ein so kleines Messer für diesen Zweck geeignet sei.

Dann wurde der Revolver vorgelegt und die Frage nach dem Eigentümer gestellt.

»Meine Lords«, sagte Sir Impey, »wir bestreiten nicht, daß der Revolver dem Herzog gehört.«

Die Richter machten erstaunte Gesichter, und nachdem Hardraw, der Wildhüter, zu dem Schuß gehört worden war, den er um zehn vor zwölf gehört hatte, kam das ärztliche Gutachten an die Reihe.

Sir Impey Biggs: »Könnte der Verstorbene sich die Wunde selbst beigebracht haben?«

»Das wäre gewiß möglich.«

»Wäre die Wunde sofort tödlich gewesen?«

»Nein. Aus der Menge Blut zu schließen, die auf dem Pfad gefunden wurde, war sie offensichtlich nicht sofort tödlich.«

»Lassen sich die gefundenen Spuren Ihrer Ansicht nach mit der Möglichkeit in Einklang bringen, daß der Verstorbene sich noch zum Haus geschleppt hat?«

»Ja. Dazu hätte er durchaus noch die Kraft haben können.«

»Könnte eine solche Wunde Fieber hervorrufen?«

»Das ist ohne weiteres denkbar. Er könnte für einige Zeit das Bewußtsein verloren haben und sich durch das Herumliegen in der Nässe eine Erkältung und Fieber zugezogen haben.«

»Lassen die äußeren Anzeichen die Möglichkeit zu, daß er noch einige Stunden nach seiner Verwundung gelebt hat?«

»Sie sprechen sogar sehr für diese Möglichkeit.«

Bei nochmaliger Befragung stellte Sir Wigmore heraus, daß die Wunde und die äußeren Anzeichen ebenfalls mit der Theorie in Einklang zu bringen seien, daß der Schuß aus nächster Nähe von jemand anderem abgegeben und der Verstorbene zum Haus geschleppt worden sei, bevor sein Leben verlosch.

»Schießen Selbstmörder sich nach Ihrer Erfahrung öfter in den Kopf oder in die Brust?«

»Wohl öfter in den Kopf.«

»Soviel öfter, daß eine Wunde in der Brust schon fast auf Mord schließen läßt?«

»Soweit würde ich nicht gehen.«

»Aber bei sonst gleichen Umständen würden auch Sie sagen, daß eine Kopfwunde eher die Vermutung eines Selbstmordes nahelegt als eine Körperwunde?«

»Das ist richtig.«

Sir Impey Biggs: »Aber Selbstmord durch Herzschuß ist keineswegs unmöglich?«

»O nein, nein!«

»Es hat solche Fälle schon gegeben?«

»Ja, gewiß; sehr viele.«

»Aus ärztlicher Sicht schließt also nichts die Möglichkeit eines Selbstmordes aus?«

»Überhaupt nichts.«

Damit war die Beweisaufnahme der Anklage abgeschlossen.

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