Kleine Schwester ärgerlich


»Ich will ins öffentliche Leben einbringen, was jedermann von seiner Mutter mitbekommt.«

Lady Astor


Am Eröffnungstag des Assisengerichts in York erhob die Geschworenenkammer Anklage wegen Mordes gegen Gerald Herzog von Denver. Nachdem Gerald Herzog von Denver demzufolge dem Gericht vorgeführt worden war, beliebte es dem Richter, festzustellen (was sämtliche Zeitungen des Landes allerdings schon seit vierzehn Tagen der Welt verkündeten), daß er als kleiner Feld-, Wald- und Wiesenrichter mitsamt seiner plebejischen Jury nicht zuständig war, einem Peer des Königreichs den Prozeß zu machen. Er fügte jedoch hinzu, daß er es nicht versäumen werde, den Lordkanzler (der sich ebenfalls schon seit vierzehn Tagen über die Besetzung der Königlichen Galerie und die Auswahl der Lords für den parlamentarischen Sonderausschuß insgeheim den Kopf zerbrach) zu informieren. Nachdem dies ordnungsgemäß protokolliert war, wurde der wohlgeborene Untersuchungsgefangene wieder abgeführt.

Einen oder zwei Tage später läutete Mr. Charles Parker im Dämmerlicht eines Londoner Nachmittags im zweiten Stock des Hauses Piccadilly 110 A. Die Tür wurde von Bunter geöffnet, der ihm freundlich lächelnd mitteilte, daß Lord Peter für ein paar Minuten ausgegangen sei, ihn aber erwarte, und ob er bitte eintreten und warten wolle.

»Wir sind erst heute morgen wieder hierhergekommen«, fügte der Diener hinzu, »und haben uns noch nicht ganz eingerichtet, Sir, wenn Sie uns bitte entschuldigen wollen. Wäre Ihnen eine Tasse Tee angenehm?«

Parker nahm das Angebot an und ließ sich wohlig in eine Ecke des Chesterfieldsofas sinken. Nach der außerordentlichen Unbequemlichkeit französischer Möbel taten die einschläfernde Nachgiebigkeit unter ihm, die Kissen hinter seinem Kopf und Wimseys ausgezeichnete Zigaretten ihm besonders gut. Was Bunter mit »noch nicht ganz eingerichtet« meinte, blieb sein Geheimnis. Ein fröhlich flackerndes Holzfeuer spiegelte sich in der makellosen Politur des schwarzen Stutzflügels; die weichen Kalbslederrücken von Lord Peters Sammlung seltener Bücher schimmerten sanft vor den schwarzen und blaßgelben Wänden; in den Vasen standen lohgelbe Chrysanthemen; auf dem Tisch lagen die neuesten Ausgaben sämtlicher Zeitungen - als ob der Inhaber der Wohnung nie fortgewesen wäre.

Während Mr. Parker den Tee trank, nahm er die Fotos von Lady Mary und Denis Cathcart aus seiner Brusttasche. Er lehnte sie an die Teekanne und starrte von einem zum andern, als wollte er mit Gewalt einen tieferen Sinn aus ihren leicht geziert lächelnden, etwas verlegenen Mienen herauslesen. Noch einmal nahm er sich seine Pariser Aufzeichnungen vor und hakte verschiedene Punkte mit einem Bleistift ab. »Verflixt«, sagte Mr. Parker, den Blick fest auf Lady Mary geheftet. »Verflixt - verflixt - verflixt -«

Der Gedankengang, den er verfolgte, war außerordentlich interessant. In seinem Kopf jagten sich die Bilder, eines bedeutungsvoller als das andere. Natürlich konnte man in Paris nicht richtig denken - es war so unbequem dort, und die Häuser hatten Zentralheizung. Hier, wo schon so manches Rätsel entwirrt worden war, knisterte ein schönes Feuer im Kamin. Cathcart hatte vorm Feuer gesessen. Natürlich hatte er über ein Problem nachgegrübelt. Wenn Katzen vorm Feuer saßen und in die Flammen starrten, grübelten sie über Probleme nach. Wie eigenartig, daß er darauf nicht schon früher gekommen war. Wenn die grünäugige Katze vorm Feuer saß, versank man geradewegs in einen tiefen schwarzen, samtenen Beziehungsreichtum, der ungemein bedeutungsvoll war. Es war ein Genuß, so klar denken zu können, denn sonst wäre es schlimm gewesen, die Höchstgeschwindigkeit zu überschreiten - und die schwarzen Sümpfe drehten sich so schnell Aber jetzt, da er die Formel wirklich gefunden hatte, würde er sie nie wieder vergessen. Der Zusammenhang war da - nah, voll und folgerichtig.

»Des Glasbläsers Katze ist bomstabel«, sagte Mr. Parker laut und deutlich.

»Ich bin entzückt, das zu hören«, antwortete Lord Peter mit freundlichem Grinsen. »Gut geschlafen, altes Haus?«

»Ich - wie?« sagte Mr. Parker. »He - was heißt hier geschlafen? Ich folge gerade einem äußerst wichtigen Gedanken, und jetzt hast du mich rausgebracht. Was war es noch? Katze - Katze - Katze -«

Er dachte angestrengt nach.

»Du hast gesagt: >Des Glasbläsers Katze ist bomstabel<«, erwiderte Peter. »Ein hinreißendes Wort; ich weiß nur nicht, was es heißt.«

»Bomstabel?« meinte Mr. Parker leicht errötend. »Bom - na schön, du magst recht haben - vielleicht war ich wirklich eingenickt. Aber weißt du, mir war, als ob ich eben den Schlüssel zu dem ganzen Problem gefunden hätte. Dieser Satz erschien mir außerordentlich wichtig. Sogar jetzt - nein, wenn ich es mir richtig überlege, scheint mir der Gedankengang doch nicht mehr ganz folgerichtig zu sein. Schade drum. Ich war mir gerade so erleuchtet vorgekommen.«

»Macht ja nichts«, sagte Lord Peter. »Eben erst zurück?«

»Heute nacht übergesetzt. Gibt's was Neues?«

»Jede Menge.«

»Was Gutes dabei?«

»Nein.«

Parkers Blick kehrte zu den Fotos zurück.

»Ich glaub's nicht«, sagte er eigensinnig. »Ich will verflucht sein, wenn ich auch nur ein Wort davon glaube.«

»Ein Wort wovon?«

»Egal wovon.«

»Du wirst es glauben müssen, Charles - bis hierher«, sagte sein Freund sanft, indem er mit energischen kleinen Stopfbewegungen der Finger seine Pfeife mit Tabak füllte. »Ich sag ja nicht« - stopf - »daß Mary« - stopf - »Cathcart erschossen hat« - stopf, stopf - »aber sie hat gelogen« - stopf - »immer und immer wieder« - stopf, stopf - »Sie weiß, wer es war« - stopf - »sie hat damit gerechnet« - stopf - »und jetzt spielt sie krank und lügt, um den Kerl zu decken« - stopf -»und wir müssen sie zum Reden bringen.« Damit riß er ein Streichholz an und setzte mit einer Serie zorniger Paffer die Pfeife in Brand.

»Wenn du glauben kannst«, sagte Mr. Parker, nicht ohne Hitze, »daß diese Frau -« er zeigte auf die Fotos - »etwas mit dem Mord an Cathcart zu tun hat, dann können mir deine Beweise gestohlen bleiben, du - ach, zum Kuckuck. Wimsey, sie ist doch deine eigene Schwester.«

»Und Gerald ist mein Bruder«, sagte Wimsey ruhig. »Du glaubst hoffentlich nicht, daß mir die Geschichte Spaß macht. Aber ich finde, wir kommen sehr viel weiter, wenn wir uns zu beherrschen versuchen.«

»Tut mir furchtbar leid«, sagte Parker. »Ich weiß gar nicht, wieso ich mich so - danebenbenommen habe - nichts für ungut, altes Haus.«

»Das Beste, was wir tun können«, sagte Wimsey, »ist, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, und wenn sie noch so häßlich ist. Ich gebe gern zu, daß sie mir zeitweise wie ein richtiges Scheusal vorkommt.

Meine Mutter ist am Freitag nach Riddlesdale gekommen. Sie ist schnurstracks nach oben gegangen und hat sich Mary vorgenommen, während ich mich in der Diele herumgedrückt und die Katze geärgert habe und allen auf die Nerven gefallen bin. Du kennst das ja. Kurz darauf kommt der alte Dr. Thorpe. Ich hab mich oben über der Treppe auf die Truhe gesetzt. Wenig später läutet es, und Ellen kommt herauf. Mutter und Thorpe kommen heraus und fangen sie vor Marys Zimmer ab. Sie diskutieren eine ganze Weile herum, und schon kommt meine Mutter mit stampfenden Absätzen und zornig tanzenden Ohrringen den Flur entlanggebraust, Richtung Bad. Ich schleiche hinterher, kann aber nichts sehen, weil sie alle in der Tür stehen, doch dann höre ich meine Mutter sagen: >Na, bitte, was hab ich gesagt?< Darauf Ellen: >Himmel, Euer Gnaden, wer hätte denn das gedacht?< Darauf wieder meine Mutter: >Ich kann nur sagen, wenn ich auf Leute wie euch angewiesen wäre, die aufpassen sollten, daß ich nicht mit Arsen vergiftet werde oder mit diesem anderen Zeug, das so ähnlich heißt wie Anemonen4 - Sie wissen sicher, was ich meine -, womit dieser sehr gutaussehende Mann mit dem lächerlichen Bart seine Frau und seine Schwiegermutter beseitigt hat (die übrigens bei weitem die hübschere von beiden war, armes Ding), dann wäre ich jetzt wohl schon längst von Dr. Spilsbury aufgeschnitten und analysiert - eine schrecklich unangenehme Arbeit muß das sein für den armen Mann, und dann erst die armen Kaninchen.«« Wimsey machte eine Atempause, und Parker mußte trotz seiner Sorgen lachen.

»Die genauen Worte kann ich nicht beschwören«, sagte Wimsey, »aber so was Ähnliches war's - du kennst ja den Redestil meiner Mutter. Der alte Thorpe versuchte würdevoll dreinzublicken, aber Mutter plusterte sich auf wie eine kleine Henne und meinte, indem sie ihn empört beäugte: >Zu meiner

Zeit haben wir so etwas Hysterie und Ungezogenheit genannt. Wir haben uns von jungen Mädchen nicht derart hinters Licht führen lassen. Ich vermute, Sie nennen das jetzt Neurose oder unterdrückte Triebe oder einen Reflex und möchten es am liebsten hegen und pflegen. Sie hätten zugesehen, wie das dumme Kind sich noch wirklich krank gemacht hätte. Ihr seid allesamt einfach zum Lachen und könnt nicht besser auf euch aufpassen als kleine Kinder - wobei es ja genug solch arme kleine Dinger in den Slums gibt, die für die ganze Familie sorgen müssen und dabei mehr Verstand zeigen als ihr alle miteinander. Ich bin sehr böse auf Mary, weil sie sich so aufspielt, und man braucht gar kein Mitleid mit ihr zu haben.< Weißt du«, sagte Wimsey, »ich glaube, oft ist an dem, was eine Mutter sagt, sehr viel Wahres.«

»Ich glaub's dir«, sagte Parker.

»Na ja, ich habe meine Mutter dann beiseite genommen und sie gefragt, was eigentlich los war. Sie sagt, Mary habe ihr nichts über sich oder ihre Krankheit sagen wollen und nur gebeten, in Ruhe gelassen zu werden. Dann kam Thorpe und sprach von einem Nervenschock - sagte, er könne diese Übelkeitsanfälle nicht erklären und verstehe nicht, warum Marys Temperatur immer so auf und ab gehe. Mutter hat sich das angehört und gesagt, er solle doch gleich noch einmal die Temperatur kontrollieren. Was er auch tat, und währenddessen rief sie ihn zu sich zur Kommode. Aber schlau, wie sie ist, beobachtete sie Mary dabei im Spiegel und drehte sich genau in dem Moment um, als Mary dem Thermometer mit der Wärmflasche auf die Sprünge half.«

»Ich werd verrückt!« sagte Parker.

»Das hat Thorpe auch gesagt. Und Mutter hat geantwortet, wer so naiv sei und auf so einen plumpen Trick noch hereinfalle, der solle sich nicht als alter, erfahrener Hausarzt aufspielen. Dann hat sie das Mädchen nach den Übelkeitsanfällen ausgefragt - wann sie aufträten und wie oft, und ob das vor oder nach den Mahlzeiten sei und so weiter, und schließlich kriegte sie heraus, daß es meist kurz nach dem Frühstück sei, gelegentlich auch zu anderen Zeiten. Mutter sagt, sie habe zuerst auch nichts damit anfangen können, denn sie habe schon das ganze Zimmer nach Flaschen und dergleichen durchsucht, aber schließlich habe sie gefragt, wer denn immer das Bett mache; sie dachte nämlich, Mary könne vielleicht etwas unter der Matratze versteckt haben. Ellen sagte, meist mache sie es, während Mary ihr Bad nehme. >Und wann ist das?< fragt meine Mutter. >Kurz vorm Frühstücke, plärrt das Mädchen. >Gott steh euch bei, ihr Einfaltspinsele, sagt meine Mutter. >Warum habt ihr mir das nicht gleich gesagt?< Darauf gingen sie dann alle ins Bad, und da stand friedlich auf dem Regal, zwischen Badesalz, Elliman's Öl, Puder, Zahnbürsten und so weiter die Familienflasche mit Brechwurzelsaft, Ipecacuanha - dreiviertel leer! Mutter sagt -stimmt, das hab ich dir schon erzählt. Übrigens, wie schreibst du Ipecacuanha?«

Mr. Parker buchstabierte.

»Hol dich doch -!« sagte Lord Peter. »Dabei hatte ich wirklich gedacht, diesmal hätte ich dich erwischt. Aber du hast sicher nachgesehen, bevor du hierherkamst. Kein anständiger Mensch weiß auswendig, wie man Ipecacuanha schreibt. Jedenfalls, wie du sagst, man sieht gleich, von welcher Seite der Familie der kriminalistische Instinkt kommt.«

»Das hab ich gar nicht gesagt -«

»Weiß ich. Und warum nicht? Ich finde, die Talente meiner Mutter verdienen ab und zu ein bißchen Anerkennung. Ich hab's jedenfalls zu ihr gesagt, und sie hat mit den bemerkenswerten Worten geantwortet: >Mein lieber Junge, du kannst der Sache einen ellenlangen Namen geben, wenn du willst, aber als altmodische Frau, die ich bin, nenne ich es einfach Mutterwitz, und den hat ein Mann so selten, daß man, wenn er ihn hat, gleich Bücher über ihn schreibt und ihn

Sherlock Holmes nennt.< Aber abgesehen davon hab ich zu meiner Mutter (unter vier Augen, versteht sich) auch noch gesagt: >Das ist ja alles gut und schön, nur kann ich nicht glauben, daß Mary sich solche Mühe gibt, scheußlich krank zu werden und uns allen einen Schrecken einzujagen, nur um sich wichtig zu machen. So eine ist sie doch nun wirklich nicht.< Meine Mutter fixierte mich wie eine Eule und zählte mir eine ganze Reihe Beispiele von Hysterie auf, endend mit einem Dienstmädchen, das einmal irgend jemandes Haus mit Paraffin vollgespritzt haben soll, damit alle glaubten, es spuke - und zum Schluß meinte sie, wenn schon diese ganzen neumodischen Ärzte alles daransetzten, solche Sachen wie Unterbewußtsein und Kleptomanie und Komplexe und alle möglichen anderen Phantasienamen zu erfinden, um zu erklären, warum Menschen sich schlecht benähmen, könne man sich das ja auch zunutze machen.«

»Wimsey«, sagte Parker sehr erregt, »soll das heißen, daß sie einen Verdacht hatte?«

»Mein Lieber«, antwortete Lord Peter, »was es über Mary zu wissen gibt, indem man zwei und zwei zusammenzählt, das weiß meine Mutter, da kannst du sicher sein. Ich habe ihr alles erzählt, was wir bis dahin wußten, und sie hat alles auf ihre ulkige Art aufgenommen, die du ja kennst - ohne auf irgend etwas direkt zu antworten, und zum Schluß hat sie den Kopf schief gelegt und gemeint: >Wenn Mary auf mich gehört und etwas Nützlicheres getan hätte als in dieses Freiwilligenhilfskorps zu gehen, wobei nie viel herausgekommen ist, wenn du mich fragst - nicht daß ich etwas Grundsätzliches gegen das Freiwilligenhilfskorps hätte, aber diese dumme Frau, unter der sie arbeiten mußte, war doch die fürchterlichste Pute unter Gottes Himmel -, und dabei gab es so viele weitaus vernünftigere Dinge, die Mary richtig gut hätten tun können, aber sie war ja so versessen darauf, nach London zu kommen - und ich bleibe dabei, daß an allem nur dieser alberne Club schuld war - was kann man schon von so einem Loch erwarten, wo man so schreckliches Zeug zu essen bekommt und zusammengepfercht in einem Keller mit rot angestrichenen Wänden sitzt und wo alles aus Leibeskräften durcheinanderschreit, und nie ein Abendanzug - nur sowjetische Jumper und Koteletten. Jedenfalls habe ich diesem dummen alten Kerl schon klargemacht, was er zu sagen hat, und auf eine bessere Erklärung wären die von sich aus nie gekommen« Und weißt du«, sagte Peter, »ich glaube, wenn da einer anfangen sollte, neugierig zu werden, hätte er meine Mutter auf dem Hals wie eine Tonne Backsteine.«

»Was glaubst du selbst denn nun wirklich?« fragte Parker.

»Das Unerfreulichste habe ich dir ja noch gar nicht erzählt«, sagte Peter. »Ich hab's eben erst gehört und muß sagen, daß es mir einen häßlichen Schrecken versetzt hat. Gestern kriegte ich einen Brief von Lubbock, daß er mich sprechen wolle, und da bin ich hergekommen und heute morgen zu ihm gegangen. Du erinnerst dich, daß ich ihm einen Blutfleck geschickt hatte, den Bunter für mich von einem von Marys Röcken abgeschnitten hat? Ich hatte selbst schon einen Blick darauf geworfen, und weil mir die Sache nicht gefiel, habe ich ihn zu Lubbock geschickt, ex abundantia cautelae; und leider muß ich sagen, daß er meine Meinung bestätigt. Es ist Menschenblut, Charles, und ich fürchte, es stammt von Cathcart.«

»Aber - jetzt habe ich ein bißchen den Faden verloren.«

»Also, der Rock muß den Blutfleck an dem Tag abbekommen haben, als Cathcart - starb, denn das war der letzte Tag, an dem die Jagdgesellschaft im Moor war, und wenn der Fleck schon früher dagewesen wäre, hätte Ellen ihn weggemacht. Hinterher hat Mary sich mit allen Mitteln gegen Ellens Versuche gewehrt, den Rock zum Reinigen abzuholen, und sogar den stümperhaften Versuch gemacht, den Fleck mit Wasser und Seife selbst zu entfernen. Daraus können wir, glaube ich, schließen, daß Mary um die Existenz des Flecks wußte und seine Entdeckung verhindern wollte. Sie hat Ellen erzählt, das Blut stamme von einem Waldhuhn - was eine bewußte Unwahrheit gewesen sein muß.«

»Vielleicht«, sagte Parker in dem hoffnungslosen Bemühen, doch noch etwas für Lady Mary zu retten, »hat sie auch nur gesagt: >Ach', da muß so ein Vogel geblutet haben!< oder etwas in der Art.«

»Ich glaube nicht«, sagte Peter, »daß man einen so großen Flecken Menschenblut an seine Kleider bekommen kann, ohne zu wissen, was es ist. Sie muß sich ja richtig hineingekniet haben. Der Fleck war acht bis zehn Zentimeter im Durchmesser.«

Parker schüttelte verzweifelt den Kopf und tröstete sich, indem er sich eine Notiz machte.

»Gut, also«, fuhr Peter fort, »am Mittwochabend kommen alle nach Hause, essen und gehen zu Bett, außer Cathcart, der aus dem Haus rennt und draußen bleibt. Um zehn vor zwölf hört Hardraw, der Wildhüter, einen Schuß, der durchaus auf der Lichtung gefallen sein könnte, auf der sich - nun gut, sagen wir das Unglück ereignet hat. Diese Zeit stimmt auch mit der Aussage des Arztes überein, wonach Cathcart schon drei bis vier Stunden tot war, als er ihn um halb fünf untersuchte. Schön. Nun kommt also um drei Uhr morgens Jerry von irgendwoher nach Hause und findet die Leiche. Während er sich darüberbeugt, kommt wie gerufen Mary aus dem Haus, angetan mit Mantel, Mütze und Straßenschuhen. Was erzählt sie nun? Sie sagt, sie sei um drei Uhr von einem Schuß geweckt worden. Nun hat aber außer ihr niemand diesen Schuß gehört, und wir haben die Aussage von Mrs. Pettigrew-Robinson, die im Zimmer nebenan schlief, nach uralter Gewohnheit bei offenem Fenster, und sie will ab zwei Uhr bis kurz nach drei, als Alarm geschlagen wurde, wachgelegen und keinen Schuß gehört haben. Laut Mary war der Schuß so laut, daß er sie auf der anderen Seite des Hauses aufgeweckt hat. Es ist doch merkwürdig, nicht wahr, daß jemand, der bereits wach war, mit solcher Bestimmtheit angibt, kein Geräusch vernommen zu haben, das laut genug gewesen wäre, um einen gesunden jungen Schläfer im Zimmer nebenan aufzuwecken. Jedenfalls, selbst wenn das der Schuß gewesen wäre, der Cathcart getötet hat, hätte er kaum schon tot sein können, als mein Bruder ihn fand - und in diesem Falle würde sich auch wieder die Frage stellen, wie dann noch Zeit geblieben wäre, ihn vom Gebüsch zum Wintergarten zu schleifen.«

»Das haben wir doch alles schon durchgekaut«, sagte Parker mit allen Anzeichen des Widerwillens. »Und wir haben uns geeinigt, daß wir der Geschichte von dem Schuß keine Bedeutung beimessen können.«

»Ich fürchte aber, wir müssen ihr sehr viel Bedeutung beimessen«, sagte Lord Peter ernst. »Also, und was tut nun Mary? Entweder hat sie den Schuß gehört -«

»Es ist kein Schuß gefallen.«

»Das weiß ich. Aber ich will den Unstimmigkeiten in ihrer Aussage auf den Grund gehen. Sie sagt, sie habe keinen Alarm geschlagen, weil sie geglaubt habe, es handle sich wahrscheinlich nur um Wilderer. Wenn es aber Wilderer gewesen wären, hätte es absolut keinen Sinn gehabt, hinunterzugehen und nachzusehen. Also sagt sie, sie habe geglaubt, es hätten auch Einbrecher sein können. Aber was zieht sie nun an, um hinunterzugehen und nach Einbrechern zu sehen? Was hättest du oder ich angezogen? Ich nehme an, wir hätten uns einen Morgenmantel übergeworfen und ein Paar leise Pantoffel über die Füße gestreift und vielleicht einen Feuerhaken oder einen Spazierstock in die Hand genommen -aber keine Straßenschuhe und Mantel und ausgerechnet auch noch eine Mütze!«

»Es hat in der Nacht geregnet«, brummte Parker.

»Mein lieber Freund, wenn du nach Einbrechern sehen willst, rechnest du im allgemeinen nicht damit, hinausgehen und sie im Garten herumscheuchen zu müssen. Dein erster Gedanke ist doch, daß sie ins Haus dringen, und du gehst hinunter, um sie von der Treppe aus oder hinter der Eßzimmertür hervor zu beobachten. Außerdem, versuch dir doch mal ein Mädchen von heute vorzustellen, das bei Wind und Wetter barhäuptig herumrennt, sich aber wohl die Zeit nimmt, zur Einbrecherjagd erst eine Mütze aufzusetzen - hol's der Kuckuck, Charles, das reimt sich einfach nicht! Und dann geht sie geradewegs zur Wintergartentür und stößt auf die Leiche, als ob sie von vornherein gewußt hätte, wo sie danach suchen müßte.«

Parker schüttelte wieder den Kopf.

»Nun, und dann sieht sie Gerald, der über Cathcart gebeugt steht. Und was sagt sie? Fragt sie erst, was los ist? Fragt sie, wer das ist? Nein, sie ruft: >Mein Gott, Gerald, du hast ihn umgebrachtc, und dann erst sagt sie, wie im Nachhinein: >Ach, das ist ja Denis! Was ist denn passiert? Ein Unfall?« Nun sag mal, ob dir das normal vorkommt.«

»Nein. Aber mir kommt es so vor, als ob sie eben nur nicht damit gerechnet hätte, Cathcart dort zu finden, sondern jemand anders.«

»So? Mir kommt es eher vor, als ob sie nur so getan hätte, als wüßte sie nicht, wer es war. Zuerst sagt sie: >Du hast ihn umgebracht!« Und dann fällt ihr ein, daß sie ja eigentlich nicht wissen dürfte, wer >er< ist, und sagt: >Ach, das ist ja Denis!««

»Auf jeden Fall hat sie aber, falls ihr erster Ausruf echt war, nicht damit gerechnet, ihn tot anzutreffen.«

»Nein - nicht - das müssen wir uns merken. Der Tod war eine Überraschung. Sehr schön. Dann schickt Gerald sie Hilfe holen. Hier kommt nun ein Indiz ins Spiel, das du aufgeschnappt und mir mitgeteilt hast. Weißt du noch, was Mrs. Pettigrew-Robinson dir im Zug erzählt hat?«

»Meinst du das mit der zuschlagenden Tür auf dem Korridor?«

»Ja. Und nun will ich dir etwas erzählen, was mir neulich morgens passiert ist. Ich kam aus dem Bad gerauscht, wie ein Wirbelwind, du kennst mich ja, und knallte mit dem Schienbein gegen diese alte Truhe oben am Treppenaufgang -und klapp, ging der Deckel hoch und wieder zu. Das hat mich auf eine Idee gebracht, und ich hab mir gedacht, da sollte ich mal einen Blick hineinwerfen. Ich hatte gerade den Deckel hochgeklappt und besah mir die Laken und so weiter, die unten auf dem Boden der Truhe lagen, als ich plötzlich so etwas wie ein Ächzen hörte, und da stand Mary neben mir und starrte mich an, weiß wie ein Gespenst. Mein Gott, sie hat mir einen schönen Schrecken eingejagt, aber das war gar nichts gegen den Schrecken, den ich ihr eingejagt haben muß. Na ja, sie hat jedenfalls kein Wort mit mir reden wollen und prompt einen hysterischen Anfall bekommen, und ich hab sie wieder in ihr Zimmer bugsiert. Aber ich hatte auf diesen Laken etwas gesehen.«

»Was denn?«

»Silbersand.«

»Silber-?«

»Erinnerst du dich noch an die Kakteen im Gewächshaus und die Stelle, wo jemand einen Koffer oder etwas dergleichen abgestellt hatte?«

»Ja.«

»Also, und da lag das Zeug massenhaft herum - du weißt ja, die Leute streuen das um bestimmte Zwiebeln herum und so.«

»Und dieser Sand war auch in der Truhe?«

»Ja. Aber warte mal ab. Nach dem Geräusch, das Mrs. Pettigrew-Robinson hörte, hat Mary zuerst Freddy und dann die Pettigrew-Robinsons aufgeweckt - und dann, was?«

»Dann hat sie sich in ihr Zimmer eingeschlossen.«

»Eben. Und kurz darauf ist sie zu den anderen hinuntergegangen in den Wintergarten, und von da an erinnern sich alle, gesehen zu haben, daß sie eine Mütze anhatte, einen Mantel über dem Pyjama und Straßenschuhe an den nackten Füßen.«

»Willst du etwa sagen«, meinte Parker, »Lady Mary sei um drei Uhr schon wach und angezogen gewesen und mit ihrem Koffer zur Wintergartentür gegangen, um sich mit dem - dem Mörder ihres - zum Kuckuck, Wimsey!«

»Soweit brauchen wir gar nicht zu gehen«, sagte Peter. »Wir haben uns ja schon geeinigt, daß sie nicht damit gerechnet hatte, Cathcart tot vorzufinden.«

»Richtig. Also, sie ist hinuntergegangen, vermutlich um jemanden zu treffen.«

»Sagen wir vorläufig, daß sie sich mit Schuhgröße 45 treffen wollte?« schlug Wimsey mit sanfter Stimme vor.

»Warum nicht? Und als sie die Taschenlampe anknipste und den Herzog über Cathcart gebeugt stehen sah, hat sie gedacht -mein Gott, Wimsey, ich hatte also doch recht! Als sie sagte: >Du hast ihn umgebracht!<, da hat sie Schuhgröße 45 gemeint -sie hat geglaubt, der Tote sei Schuhgröße 45!«

»Natürlich!« rief Wimsey. »Ich Trottel! Ja doch. Dann sagte sie: >Das ist ja Denis - was ist denn passiert?< Vollkommen klar. Und was hat sie inzwischen mit dem Koffer gemacht?«

»Jetzt sehe ich alles vor mir«, rief Parker. »Als sie sah, daß der Tote nicht Schuhgröße 45 war, ist ihr aufgegangen, daß Schuhgröße 45 der Mörder sein mußte. Es kam ihr also jetzt darauf an, niemanden merken zu lassen, daß Schuhgröße 45 dagewesen war. Darum hat sie den Koffer hinter die Kakteen geschoben. Und als sie dann nach oben ging, hat sie ihn wieder hervorgeholt und oben in der Eichentruhe versteckt. Sie konnte ihn natürlich nicht gut in ihr Zimmer bringen, denn wenn jemand sie die Treppe hätte heraufkommen hören, hätte es komisch ausgesehen, daß sie zuerst in ihr Zimmer rannte, bevor sie die anderen alarmierte. Dann hat sie Arbuthnot und die Pettigrew-Robinsons aufgeweckt - sie stand im Dunkeln, und in der Aufregung dürften sie sowieso nicht so genau gesehen haben, was sie anhatte. Dann machte sie sich von Mrs. P. los, lief in ihr Zimmer, zog den Rock aus, mit dem sie neben Cathcart gekniet hatte, auch die übrigen Kleider, zog den Pyjama und die Mütze an, die ja eventuell jemand bemerkt haben konnte, und den Mantel, den man bestimmt gesehen hatte, und schließlich die Schuhe, die wahrscheinlich schon Abdrücke hinterlassen hatten. Und dann erst konnte sie hinuntergehen und sich zeigen. Inzwischen hatte sie sich für den Untersuchungsrichter die Einbrechergeschichte ausgedacht.«

»So ungefähr war's wohl«, sagte Peter. »Wahrscheinlich war sie so ängstlich darauf bedacht, uns von Schuhgröße 45 abzulenken, daß sie gar nicht auf die Idee gekommen ist, ihre Geschichte könnte mithelfen, ihren Bruder hineinzureißen.«

»Das ist ihr bei der Untersuchungsverhandlung klargeworden«, sagte Parker eifrig. »Weißt du nicht mehr, wie schnell sie nach der Selbstmordtheorie gegriffen hat?«

»Und als sie entdeckte, daß sie damit zwar ihren - ich meine, Schuhgröße 45 - rettete, ihren Bruder aber an den Galgen brachte, hat sie den Kopf verloren, ist ins Bett geflüchtet und weigert sich seitdem, überhaupt noch etwas zu sagen. Ich habe den Eindruck, meine Familie ist

überdurchschnittlich mit Narren gesegnet«, sagte Peter düster.

»Aber was hätte das arme Mädchen denn tun sollen?« fragte Parker. Er war schon fast wieder guter Dinge. »Immerhin ist sie damit jetzt entlastet -«

»Gewissermaßen, ja«, sagte Peter, »aber wir sind noch lange nicht über den Berg. Warum steckt sie mit Schuhgröße 45, der ja mindestens ein Erpresser, wenn nicht sogar ein Mörder ist, unter einer Decke? Wie kam Geralds Revolver an den Schauplatz? Und die grünäugige Katze? Was wußte Mary über das Treffen zwischen Schuhgröße 45 und Denis Cathcart? Und wenn sie den Mann kannte und sich mit ihm traf, kann sie ihm jederzeit den Revolver in die Hand gedrückt haben.«

»Nein, nein«, sagte Parker. »Wimsey, du darfst so etwas Häßliches nicht denken.«

»Himmel noch mal!« platzte es aus Peter heraus. »Ich kriege die Wahrheit in dieser widerlichen Geschichte heraus, und wenn wir alle miteinander zum Galgen gehen!«

In diesem Augenblick trat Bunter mit einem an Wimsey adressierten Telegramm ein. Lord Peter las:

»Gesuchte Person in London aufgespürt; Freitag in Marylebone gesehen. Näheres von Scotland Yard.

Gosling, Polizeichef Ripley«

»Guter Mann!« rief Wimsey. »Jetzt kommen wir voran. Sei so gut und bleib hier für den Fall, daß noch etwas kommt. Ich sause mal eben zu Scotland Yard. Man wird dir etwas zu essen schicken, und Bunter bringt dir eine Flasche Château Yquem -der ist ganz gut. Bis dann!«

Er sauste aus der Wohnung, und Sekunden später schnurrte sein Taxi den Piccadilly hinauf.

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