Die zweite Sehne


Und als er kam zurgebroch’nen Brück’, Spannt’ er die Sehne und schwamm;

Und als er kam an den grünen Rain, Löst’ er die Schuh’ und sprang.

Und als er kam an Lord Williams Tor, Da hielt er nicht lange inne;

Er spannte die Sehne ein zweites Mal Und schwang sich über die Zinne.

Die Ballade von Lady Maisry


Lord Peter spähte angestrengt durch die kalten, eiligen Wolkenfetzen. Die dünnen, unglaublich zerbrechlichen Stahlstreben zogen langsam über das glitzernde, funkelnde Land dahin, das sich neblig unter ihnen ausbreitete wie eine bewegliche Landkarte. Vor ihm wölbte sich trotzig und regennaß der glatte Lederrücken seines Gefährten. Er konnte nur hoffen, daß Grant noch guten Muts war. Das Brüllen des Motors ertränkte die Worte, die er seinem Passagier gelegentlich zurief, während sie von Bö zu Bö weiterschaukelten.

Er riß seine Gedanken von den gegenwärtigen Unbilden los und ließ sich noch einmal diese letzte, denkwürdige Szene durch den Kopf gehen. Bruchstücke ihrer Unterredung klangen ihm noch in den Ohren nach.

»Mademoiselle, ich habe auf der Suche nach Ihnen zwei Kontinente durchstreift.«

»Voyons, dann ist es wohl wichtig. Aber beeilen Sie sich, sonst kommt gleich der große Bär und brummt, und ich hasse des histoires.«

Auf dem niedrigen Tischchen hatte eine Lampe gestanden; er erinnerte sich, wie ihr Licht durch das kurzgeschnittene blonde Haar schimmerte. Sie war groß, aber schlank und hatte von den dicken schwarz-goldenen Kissen zu ihm aufgesehen.

»Mademoiselle, es ist mir unbegreiflich, wie Sie je mit einem Menschen, der van Humperdinck heißt - äh - speisen und tanzen können.«

Was hatte ihn nur bewogen, das zu sagen - wo doch die Zeit so knapp war und nichts wichtiger sein konnte als Jerrys Angelegenheiten?

»Monsieur Humperdinck tanzt nicht. Haben Sie mich über zwei Kontinente verfolgt, um mir das zu sagen?«

»Nein, es ist ernst.«

»Eh bien, setzen Sie sich.«

Sie hatte ganz offen mit ihm darüber gesprochen.

»Ja, die arme Seele. Aber das Leben ist sehr kostspielig seit dem Krieg. Ich habe ein paar gute Angebote abgelehnt. Aber immerzu des histoires. Und so wenig Geld. Man muß ja vernünftig sein, nicht wahr? An sein Alter denken. Dafür muß man doch Vorsorgen, nicht?«

»Gewiß.« Sie sprach mit einem ganz leichten Akzent - der ihm sehr bekannt vorkam. Zuerst konnte er ihn allerdings nirgends unterbringen. Dann fiel es ihm ein. Wien vor dem Krieg; diese Hauptstadt der unglaublichsten Verrücktheiten.

»Ja, ja, ich habe ihm geschrieben. Ich war sehr freundlich, sehr vernünftig. Ich habe geschrieben: >Je ne suispas femme a supporter des gros ennuis.< Cela se comprend, n'est-cepash?«

Das verstand sich nur zu leicht. Das Flugzeug sackte plötzlich in ein Luftloch, hilflos wirbelte der Propeller, dann fing er sich, und die Maschine stieg langsam wieder.

»Ich habe es in der Zeitung gelesen - ja. Armer Junge! Warum kann ihn nur jemand erschossen haben?«

»Mademoiselle, gerade deswegen bin ich zu Ihnen gekommen. Mein Bruder, den ich sehr liebe, ist des Mordes angeklagt. Womöglich wird er gehängt.«

»Brrr!«

»Für einen Mord, den er nicht begangen hat.«

»Mon pauvre enfant -«

»Mademoiselle, ich bitte Sie herzlich, bleiben Sie ernst. Mein Bruder steht vor Gericht und bekommt den Prozeß gemacht -«

Nachdem er einmal ihre Aufmerksamkeit besaß, war sie ganz Mitgefühl. Ihre blauen Augen hatten eine merkwürdige, aber attraktive Eigenheit - ein volles Unterlid, mit dem sie die Augen zu funkelnden Schlitzen verschloß.

»Mademoiselle, ich flehe Sie an, versuchen Sie sich zu erinnern, was in seinem Brief stand.«

»Aber, mon pauvre ami, wie könnte ich? Ich habe ihn nicht gelesen. Er war sehr lang, sehr ermüdend, voller histoires. Die Sache war aus - ich kümmere mich nie um etwas, das nicht mehr zu ändern ist, Sie vielleicht?«

Aber seine echte Verzweiflung ob dieses Fehlschlags rührte sie doch.

»Also hören Sie; alles ist vielleicht noch nicht verloren. Vielleicht liegt der Brief noch irgendwo herum. Oder wir fragen Adele. Meine Zofe. Sie sammelt Briefe, um Leute damit zu erpressen - o ja, ich weiß! Aber sie ist habile comme tout pour la toilette. Warten Sie - wir suchen zuerst selbst ein bißchen.«

Briefe, Schmuckstücke und aller möglicher parfümierter Krimskrams flogen aus dem verspielten kleinen Sekretär, aus Schubladen voller Wäsche (»Ich bin so unordentlich - ich treibe Adele zur Verzweiflung«), aus Tüten - Hunderten von Tüten -, und schließlich Adele, dünnlippig und scharfäugig, die alles abstritt, bis ihre Herrin ihr in der Wut plötzlich eine Ohrfeige versetzte und sie auf französisch und deutsch mit allen möglichen Schimpfnamen bedachte.

»Dann hat es also keinen Zweck«, sagte Lord Peter. »Ein Jammer, daß Mademoiselle Adele den Brief nicht finden kann, wo er für mich soviel wert ist.«

Das Wörtchen »wert« gab Adele mit einemmal einen Gedanken ein. Sie hätten ja noch gar nicht in Mademoiselles Schmuckkästchen gesucht! Sie wolle es holen.

»C'est cela que cherche monsieur?«

Dann erschien plötzlich Mr. Cornelius van Humperdinck, sehr reich und dick und argwöhnisch, und Adele wurde diskret und unauffällig am Fahrstuhl entlohnt.

Grant schrie etwas, aber die Worte wehten kraftlos vorbei in die Finsternis und waren verloren. »Was?« brülle Wimsey ihm ins Ohr. Er schrie noch einmal, und diesmal klang ein Wort wie »Saft«, bevor es davonwehte. Aber ob es eine gute oder schlechte Nachricht war, hätte Lord Peter nicht sagen können.

Mr. Murbles wurde kurz nach Mitternacht von einem donnernden Klopfen an seiner Tür aus dem Schlaf gerissen. Als er besorgt den Kopf zum Fenster hinausstreckte, sah er den Pförtner, dessen Laterne im Regen dampfte, und hinter ihm eine unförmige Gestalt, die Mr. Murbles im ersten Augenblick nicht erkannte.

»Was ist los?« fragte der Anwalt.

»Eine junge Dame will Sie dringend sprechen, Sir.«

Die unförmige Gestalt sah auf, und er sah die goldblonden Strähnen unter dem fest sitzenden kleinen Hut.

»Mr. Murbles, kommen Sie bitte! Bunter hat mich angerufen. Da ist eine Frau gekommen, um eine Aussage zu machen. Bunter will sie nicht alleinlassen - sie hat solche Angst -, aber er sagt, es ist furchtbar wichtig, und Bunter hat ja immer recht, wie Sie wissen.«

»Hat er ihren Namen genannt?«

»Eine Mrs. Grimethorpe.«

»Mich trifft der Schlag! Einen kleinen Augenblick, meine Liebe, ich lasse Sie sofort ein.«

Und tatsächlich, schneller als man es ihm zugetraut hätte, erschien Mr. Murbles in einem Morgenmantel aus Jägerwolle an der Haustür.

»Treten Sie ein, meine Liebe. Ich bin in wenigen Minuten angezogen. Es war ganz richtig von Ihnen, zu mir zu kommen. Darüber bin ich sehr, sehr froh. Was für eine scheußliche Nacht! Perkins, könnten Sie freundlicherweise Mr. Murphy wecken und ihn fragen, ob ich sein Telefon benutzen darf?«

Mr. Murphy - ein lauter irischer Rechtsanwalt von herzlicher Art - brauchte nicht geweckt zu werden. Er hatte Freunde zu Besuch und war gerne zu Diensten.

»Sind Sie das, Biggs? Hier Murbles. Dieses Alibi -«

»Ja?«

»Ist ganz von selbst gekommen.«

»Mein Gott! Was Sie nicht sagen!«

»Können Sie gleich zum Piccadilly 110 A kommen?«

»Schon unterwegs.«

Es war eine merkwürdige kleine Gesellschaft, die da um Lord Peters Kaminfeuer versammelt saß - die bleiche Frau, die bei jedem Geräusch zusammenzuckte; die Herren Juristen mit ihren erwartungsvollen, beherrschten Gesichtern; Lady Mary und Bunter, der Tüchtige. Mrs. Grimethorpes Geschichte war simpel genug. Sie lebte in ständigen Gewissensqualen, seit Lord Peter mit ihr gesprochen hatte. Dann hatte sie die Gelegenheit genutzt, als ihr Mann betrunken im >Goldenen Ritter« saß, hatte das Pferd angespannt und war nach Stapley gefahren.

»Ich kann es nicht länger für mich behalten. Lieber soll mich mein Mann umbringen, denn ich bin wirklich unglücklich, und schlechter kann es mir in Gottes Händen gewiß nicht gehen. Aber man soll ihn nicht aufhängen für etwas, was er gar nicht getan hat. Er war gut zu mir, und ich war so elend dran, das ist die Wahrheit, und ich hoffe nur, daß seine Frau ihm nicht zu hart zusetzt, wenn sie alles erfährt.«

»Nein, nein«, sagte Mr. Murbles und räusperte sich. »Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, gnädige Frau. Sir Impey -«

Die beiden Anwälte flüsterten am Fenster miteinander.

»Sehen Sie«, sagte Sir Impey, »sie hat alle Brücken ziemlich gründlich hinter sich abgerissen, indem sie hierherkam. Die große Frage für uns lautet: Ist es das Risiko wert? Immerhin wissen wir nicht, was Wimseys Beweismaterial uns bringt.«

»Eben, und darum neige ich ja mehr dazu - trotz des Risikos -, diese Zeugin zu präsentieren«, sagte Mr. Murbles.

»Ich bin bereit, das Risiko auf mich zu nehmen«, warf Mrs. Grimethorpe ruhig dazwischen.

»Dafür danken wir Ihnen«, antwortete Sir Impey. »Aber in erster Linie müssen wir an das Risiko für unsern Mandanten denken.«

»Risiko?« rief Mary. »Aber das entlastet ihn doch!«

»Können Sie beschwören, um welche Zeit Seine Gnaden in Grider's Hole angekommen ist, Mrs. Grimethorpe?« fuhr der Anwalt fort, als habe er sie gar nicht gehört.

»Es war Viertel nach zwölf auf der Küchenuhr - und das ist eine sehr gute Uhr.«

»Und fortgegangen ist er um -«

»Ungefähr fünf nach zwei.«

»Und wie lange würde ein Mann, der gut zu Fuß ist, von Ihnen bis zum Jagdhaus Riddlesdale brauchen?«

»Nun ja, knapp eine Stunde. Es ist nicht gut zu gehen und führt steil rauf und runter am Bach.«

»Sie dürfen sich vom Gegenanwalt in diesen Punkten nicht durcheinanderbringen lassen, Mrs. Grimethorpe, denn er wird zu beweisen versuchen, daß der Herzog Zeit genug hatte, Cathcart zu töten, entweder bevor er zu Ihnen ging oder nachdem er zurückgekommen war, und wenn wir zugeben, daß es im Leben des Herzogs etwas gab, was er geheimhalten wollte, liefern wir dem Anklagevertreter genau das, was ihm noch fehlt - das Motiv, um jemanden zu ermorden, der ihm auf die Schliche gekommen war.«

Es herrschte betroffene Stille.

»Darf ich fragen, gnädige Frau«, sagte Sir Impey, »ob irgend jemand einen Verdacht hatte?«

»Ja, mein Mann«, antwortete sie heiser. »Ich bin ganz sicher. Er hat es immer gewußt. Aber er konnte nichts beweisen. In dieser Nacht -«

»W elcher N acht?«

»In der Mordnacht - da hatte er mir eine Falle gestellt. Er ist in der Nacht aus Stapley zurückgekommen, um uns auf frischer Tat zu ertappen und zu ermorden. Aber er hatte zuviel getrunken, bevor er losfuhr, und hat die ganze Nacht im Graben gelegen, sonst müßten Sie sich jetzt auch mit Geralds und meinem Tod befassen, nicht nur mit dem andern.«

Es versetzte Mary einen sonderbaren Schock, so von ihrem Bruder sprechen zu hören - von dieser Frau und in dieser Gesellschaft. Sie fragte plötzlich aus blauem Himmel heraus: »Ist Mr. Parker nicht hier?«

»Nein, meine Liebe«, antwortete Mr. Murbles mit mildem Vorwurf, »das ist keine Sache für die Polizei.«

»Das beste ist, glaube ich«, sagte Sir Impey, »wir präsentieren dieses Alibi und sorgen nötigenfalls für den Schutz dieser Dame. Inzwischen -«

»Sie fährt mit mir zu meiner Mutter«, erklärte Lady Mary entschieden.

»Meine liebe Lady Mary«, begehrte Mr. Murbles auf, »das wäre doch unter den gegebenen Umständen höchst unpassend. Ich glaube, Sie erfassen kaum -«

»Mutter will es so«, versetzte ihre Ladyschaft. »Bunter, rufen Sie ein Taxi.«

Mr. Murbles rang hilflos die Hände, während Sir Impey sich eher zu amüsieren schien. »Nützt nichts, Murbles«, sagte er. »Zeit und Mühen werden eine moderne junge Frau schon zähmen, aber eine moderne alte Frau ist von keiner irdischen Macht zu zügeln.«

Und so ergab es sich, daß Lady Mary vom Stadthaus der Herzoginwitwe aus Mr. Charles Parker anrief, um ihm die Neuigkeiten zu berichten.

Загрузка...