Der Club und die Kugel


Er ist tot, er starb durch meine Hand, Es wäre besser, ich wäre tot, ich elende, schuldbeladene Kreatur.

Adventures of Sexton Blake


Stunde um Stunde wartete Mr. Parker auf die Rückkehr seines Freundes. Wieder und wieder ging er den Fall Riddlesdale durch, prüfte hier seine Notizen, ergänzte sie dort und beschäftigte sein müdes Gehirn mit den phantastischsten Spekulationen. Er ging im Zimmer auf und ab, nahm da und dort ein Buch vom Regal, klimperte ein paar ungeübte Akkorde auf dem Piano, blätterte in den Magazinen und tat dies und jenes. Schließlich nahm er sich einen Band aus der kriminologischen Abteilung der Bücherregale und zwang sich, seine Aufmerksamkeit jenem faszinierendsten und dramatischsten aller Giftmorde zu widmen - dem Fall Seddon. Mit der Zeit schlug das Geschehen ihn wie immer in seinen Bann, und so erschrak er nicht schlecht, als ein langes, energisches Läuten der Hausglocke ihn aufschauen ließ und er feststellen mußte, daß es schon nach Mitternacht war.

Sein erster Gedanke war, daß Wimsey seinen Schlüssel vergessen haben mußte, und er bereitete sich schon darauf vor, ihn mit einer spöttischen Bemerkung zu empfangen, als die Tür aufging - genau wie am Anfang einer Sherlock-Holmes-Geschichte - und eine große, schöne junge Frau eintrat. Sie befand sich in einem Zustand höchster Erregung, das goldene Haar umkränzte ihren Kopf wie ein Heiligenschein, ihre Augen leuchteten veilchenblau, und ihre Kleidung vervollständigte die wirre Erscheinung, denn als sie den dicken Reisemantel zurückschlug, sah er, daß sie darunter ein Abendkleid, hellgrüne Seidenstrümpfe und schwere Wanderschuhe trug, die vor Dreck strotzten.

»Seine Lordschaft ist noch nicht wieder da, Mylady«, sagte Mr. Bunter, »aber Mr. Parker wartet hier auf ihn, und wir rechnen jede Minute mit seiner Rückkehr. Haben Mylady einen Wunsch?«

»Nein, nein«, sagte die Erscheinung hastig, »danke, nichts. Ich warte. Guten Abend, Mr. Parker. Wo ist Peter?«

»Er wurde fortgerufen, Lady Mary«, sagte Parker. »Ich verstehe nicht, warum er noch nicht zurück ist. Nehmen Sie doch bitte Platz.«

»Wohin ist er gegangen?«

»Zu Scotland Yard - aber das war schon gegen sechs. Ich kann mir nicht vorstellen -«

Lady Mary machte eine verzweifelte Gebärde.

»Ich hab's gewußt! Oh, Mr. Parker, was soll ich nur tun?«

Mr. Parker war sprachlos.

»Ich muß Peter sprechen«, rief Lady Mary. »Es geht um Leben und Tod. Könnten Sie nicht nach ihm schicken?«

»Aber ich weiß nicht, wo er ist«, antwortete Parker. »Bitte, Lady Mary -«

»Er steht im Begriff, etwas Schreckliches zu tun - er irrt sich«, rief die junge Dame und rang in äußerster Verzweiflung die Hände. »Ich muß ihn sprechen - ich muß es ihm sagen -, o Gott, ist je ein Mensch in so einer schrecklichen Lage gewesen? Ich - o nein!«

Hier begann die Dame plötzlich laut zu lachen und brach zugleich in Tränen aus.

»Lady Mary - ich flehe Sie an - bitte, nicht«, rief Mr. Parker besorgt und mit dem starken Gefühl, der Situation nicht gewachsen zu sein und ziemlich lächerlich zu wirken. »Bitte setzen Sie sich, trinken Sie ein Glas Wein. Sie werden noch krank, wenn Sie weiter so weinen. Sofern es noch Weinen ist«, ergänzte er bei sich. »Das klingt eher nach Schluckauf. Bunter!«

Mr. Bunter war nicht weit. Genauer gesagt, er stand schon mit einem kleinen Tablett vor der Tür. Mit einem respektvollen »Erlauben Sie, Sir«, nahte er der sich windenden Lady Mary und hielt ihr ein Fläschchen unter die Nase. Die Wirkung war verblüffend. Die Patientin stieß ein, zwei angstvolle kleine Quiekser aus, dann setzte sie sich aufrecht, kerzengerade und wutschnaubend.

»Bunter, was fällt Ihnen ein!« sagte Lady Mary. »Verschwinden Sie, sofort!«

»Mylady sollten vielleicht ein Schlückchen Cognac trinken«, sagte Mr. Bunter, indem er den Stöpsel wieder auf das Riechfläschchen tat, aber erst nachdem Parker den beißenden Ammoniakgeruch wahrgenommen hatte. »Das ist ein 1800er Napoleon, Mylady. Bitte schnauben Sie nicht so verächtlich, wenn ich mir den Rat erlauben darf. Seine Lordschaft wäre zutiefst gekränkt, wenn er glauben müßte, ich hätte etwas davon verschwendet. Haben Mylady auf dem Weg hierher schon gespeist? Nein? Sehr unklug, Mylady, so eine lange Reise mit leerem Magen zu unternehmen. Ich werde mir erlauben, Ihnen ein Omelette zu schicken. Vielleicht wünschen auch Sie einen kleinen Imbiß, Sir, da es schon so spät ist?«

»Ganz wie Sie wollen«, sagte Mr. Parker, nur um ihn loszuwerden. »Nun, Lady Mary, fühlen Sie sich jetzt besser? Gestatten Sie, daß ich Ihnen den Mantel abnehme.«

Von nun an fiel kein aufregendes Wort mehr, bis das Omelette seiner Bestimmung zugeführt war und Lady Mary bequem auf dem Sofa saß. Sie hatte inzwischen ihre Fassung wiedergewonnen. Wenn Parker sie so ansah, fiel ihm auf, wie sehr ihre zurückliegende Krankheit (wodurch auch immer hervorgerufen) sie gezeichnet hatte. Ihrem Teint fehlte dieses Leuchten, an das er sich erinnerte; sie sah müde und blaß aus und hatte violette Ringe unter den Augen.

»Es tut mir leid, daß ich mich vorhin so albern aufgeführt habe, Mr. Parker«, sagte sie, indem sie ihm mit entwaffnender Ehrlichkeit und voll Vertrauen in die Augen sah, »aber ich war so vollkommen verzweifelt und bin in solcher Eile von Riddlesdale hierhergekommen.«

»Keine Ursache«, sagte Parker wegwerfend. »Kann ich in Abwesenheit Ihres Bruders etwas für Sie tun?«

»Sie und Peter tun alles gemeinsam, nicht?«

»Ich glaube sagen zu können, daß keiner von uns etwas in dieser Sache weiß, was er dem andern nicht mitgeteilt hat.«

»Es ist also dasselbe, wenn ich es Ihnen sage?«

»Vollkommen dasselbe. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, mir die Ehre Ihres Vertrauens zu schenken -«

»Einen Augenblick noch, Mr. Parker. Ich bin in einer schwierigen Lage. Ich weiß nicht so recht, was ich - könnten Sie mir zuerst sagen, wie weit Sie sind - was Sie bisher schon herausbekommen haben?«

Mr. Parker war ein wenig bestürzt. Obwohl Lady Marys Gesicht seit der Untersuchungsverhandlung seine Phantasie beschäftigte, und obwohl der Aufruhr seiner Gefühle im Laufe dieses romantischen Zwiegesprächs auf den Siedepunkt gestiegen war, hatte sein Berufsinstinkt, der ihn zur Vorsicht mahnte, ihn doch noch nicht ganz verlassen. Immerhin hatte er Beweise für Lady Marys Mittäterschaft bei dem Verbrechen, wie auch immer diese aussah, und so weit vergaß er sich denn doch nicht, daß er gleich seine sämtlichen Karten aufgedeckt hätte.

»Ich fürchte«, sagte er, »das kann ich Ihnen nicht alles sagen. Sehen Sie, vieles von dem, was wir in Händen haben, ist bisher nur ein Verdacht. Womöglich täte ich, ohne es zu wollen, einem Unschuldigen großes Unrecht.«

»Sie haben also gegen jemanden einen ganz bestimmten Verdacht?«

»Wir haben ganz bestimmt jemanden im Verdacht«, antwortete Parker lächelnd. »Aber wenn Sie uns etwas sagen können, was Licht in die Sache bringt, bitte ich Sie, zu sprechen. Wir verdächtigen vielleicht einen ganz Falschen.«

»Das würde mich nicht wundern«, meinte Lady Mary mit einem kurzen, nervösen Lachen. Ihre Hände gingen zum Tisch und begannen die orangefarbene Decke in Falten zu legen. »Was wollen Sie wissen?« fragte sie plötzlich in ganz anderem Ton.

Parker bemerkte deutlich eine Verhärtung in ihrem Wesen -eine gewisse Starre und Wachsamkeit.

Er klappte sein Notizbuch auf, und während er mit der Vernehmung begann, ließ auch seine Nervosität nach; die Amtshandlung gab ihm Rückhalt.

»Sie waren vorigen Februar in Paris?«

Lady Mary bejahte.

»Erinnern Sie sich, daß Sie mit Hauptmann Cathcart - ach, übrigens, ich nehme an, Sie sprechen Französisch?«

»Ja. Fließend.«

»So gut wie Ihr Bruder? Praktisch ohne Akzent?«

»So gut wie er. Wir hatten als Kinder immer französische Gouvernanten, und Mutter legte großen Wert darauf.«

»Aha. Nun, erinnern Sie sich also, am 6. Februar mit Hauptmann Cathcart in ein Juweliergeschäft in der Rue de la Paix gegangen zu sein und dort einen brillantbesetzten Schildpattkamm und eine Platinkatze mit Brillanten und Smaragdaugen gekauft zu haben - beziehungsweise von ihm kaufen zu lassen?«

Er bemerkte ein Lauern im Blick der jungen Frau.

»Ist das die Katze, nach der Sie sich in Riddlesdale erkundigt haben?« fragte sie.

Da es sich ohnehin nie auszahlte, Offenkundiges zu leugnen, antwortete Parker: »Ja.«

»Sie wurde im Gebüsch gefunden, nicht?«

»Haben Sie sie da verloren? Oder gehörte sie Cathcart?«

»Wenn ich nun sagte, es sei die seine gewesen -«

»Wäre ich bereit, Ihnen zu glauben. War es seine?«

»Nein -« ein tiefer Seufzer - »sie gehörte mir.«

»Wann ist sie Ihnen abhanden gekommen?«

»In der bewußten Nacht.«

»Wo?«

»Ich nehme an, im Gebüsch. Dort, wo Sie sie gefunden haben. Ich habe sie erst später vermißt.«

»Ist es dieselbe, die Sie in Paris gekauft haben?«

»Ja.«

»Warum haben Sie zuerst gesagt, es sei nicht die Ihre?«

»Ich hatte Angst.«

»Und jetzt?«

»Jetzt will ich die Wahrheit sagen.«

Parker sah sie wieder an. Sie begegnete seinem Blick ganz offen, hatte aber etwas Angespanntes in ihrer Art, das zeigte, wieviel Mühe sie dieser Entschluß gekostet haben mußte.

»Nun gut«, sagte Parker, »darüber werden wir uns sicherlich alle freuen, denn ich glaube, bei der Untersuchungsverhandlung haben Sie in dem einen oder anderen Punkt nicht die Wahrheit gesagt, oder?«

»Das stimmt.«

»Glauben Sie mir«, sagte Parker, »daß ich es bedaure, diese Fragen stellen zu müssen. Aber die schreckliche Lage, in der Ihr Bruder sich befindet -«

»Und in die ich ihn mit hineingebracht habe.«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Aber ich. Ich habe dazu beigetragen, daß er ins Gefängnis mußte. Streiten Sie es nicht ab, denn es ist so.«

»Nun gut«, sagte Parker, »aber beruhigen Sie sich. Es ist ja noch Zeit, alles wieder in Ordnung zu bringen. Soll ich fortfahren?«

»Ja.«

»Also, Lady Mary, das mit dem Schuß um drei Uhr morgens stimmte doch nicht, oder?«

»Nein.«

»Haben Sie überhaupt einen Schuß gehört?«

»Ja.«

»Wann?«

»Um zehn vor zwölf.«

»Und was haben Sie im Wintergarten hinter den Pflanzen versteckt, Lady Mary?«

»Ich habe dort nichts versteckt.«

»Und in der Eichentruhe auf dem Korridor?«

»Meinen Rock.«

»Sie sind nach draußen gegangen - warum? Um Cathcart zu treffen?«

»Ja.«

»Wer war der andere Mann?«

»Welcher andere Mann?«

»Der Mann, der im Gebüsch war. Ein großer blonder Mann mit einem Regenmantel.«

»Da war kein anderer Mann.«

»Entschuldigen Sie, Lady Mary - wir haben seine Spuren auf dem ganzen Weg vom Gebüsch bis zum Wintergarten verfolgt.«

»Dann muß es ein Landstreicher gewesen sein. Ich weiß nichts von ihm.«

»Wir haben aber Beweise dafür, daß er da war - was er getan hat und auf welchem Weg er entkommen ist. Um Himmels willen - und um Ihres Bruders willen - Lady Mary, sagen Sie die Wahrheit, denn dieser Mann mit dem Regenmantel ist derjenige, der Cathcart erschossen hat.«

»Nein«, sagte die junge Frau mit bleichem Gesicht, »das ist unmöglich.«

»Warum unmöglich?«

»Ich selbst habe Denis Cathcart erschossen.«

»So liegen die Dinge also, Lord Peter«, sagte der Chef von Scotland Yard, indem er sich mit einer freundlichen Abschiedsgebärde erhob. »Der Mann wurde zweifelsfrei am Freitagmorgen in Marylebone gesehen, und wenn wir ihn auch leider im Moment wieder aus den Augen verloren haben, bin ich ganz sicher, daß wir ihn über kurz oder lang in die Finger bekommen werden. Die Verzögerung entstand durch die unglückliche Erkrankung des Schaffners Morrison, dessen Aussage so entscheidend war. Aber jetzt verlieren wir keine Zeit mehr.«

»Das kann ich wohl vertrauensvoll Ihnen überlassen, Sir Andrew«, antwortete Wimsey, indem er ihm herzlich die Hand schüttelte. »Ich mache mich ebenfalls auf die Suche; zusammen dürften wir schon etwas finden - Sie in Ihrer Ecke und ich in der meinen, wie es irgendwo so schön heißt - wo eigentlich? Ich habe das als Kind mal irgendwo in einem Buch über Missionare gelesen. Wollten Sie als Junge auch immer Missionar werden? Ich ja. Ich glaube, die meisten wollen das irgendwann, was etwas eigenartig berührt, wenn man bedenkt, was bei den meisten von uns herauskommt.«

»Jedenfalls«, sagte Sir Andrew Mackenzie, »wenn Sie dem Burschen selbst über den Weg laufen, sagen Sie uns Bescheid, ja? Ich gebe neidlos zu, daß Sie unwahrscheinliches Glück haben - oder vielleicht ist es nur ein gutes Gespür -, wenn es darum geht, Verbrechern über den Weg zu laufen, die wir suchen.«

»Wenn ich den Kerl erwische«, sagte Lord Peter, »komme ich und mache unter Ihrem Fenster so lange Krach, bis Sie mich reinlassen, und wenn es mitten in der Nacht ist und Sie schon im Nachthemd sind. Apropos Nachthemd, wir werden Sie doch hoffentlich bald mal wieder in Denver sehen, sobald die Geschichte hier ausgestanden ist? Mutter läßt natürlich auch herzlich grüßen.«

»Vielen Dank«, erwiderte Sir Andrew. »Ich hoffe, Sie sind wenigstens mit der Entwicklung der Dinge zufrieden. Heute morgen hatte ich Parker zum Bericht hier, und ich hatte den Eindruck, daß er nicht sehr angetan war.«

»Er hat viel unerfreulichen Routinekram machen müssen«, sagte Wimsey, »und war die ganze Zeit derselbe feine, vernünftige Mensch wie immer. Mir ist er immer ein sehr guter Freund gewesen, Sir Andrew, und ich empfinde es richtig als Vorzug, mit ihm zusammenarbeiten zu dürfen. Also, bis demnächst, Chef.«

Er sah jetzt, daß sein Gespräch mit Sir Andrew Mackenzie sehr lange gedauert hatte und es mittlerweile fast acht Uhr war. Eben wollte er sich entscheiden, wo er zu Abend essen sollte, als er von einer jungen Frau mit rotem Bubikopf, kurzem, kariertem Rock, schillerndem Jumper, Kordjacke und einer flotten grünsamtenen Schottenmütze angesprochen wurde.

»Natürlich«, sagte die junge Frau, indem sie eine wohlgeformte, unbehandschuhte Hand ausstreckte, »das ist doch Lord Peter Wimsey. Wie geht's? Und was macht Mary?«

»Himmel«, rief Wimsey galant, »Miss Tarrant! Wie bezaubernd, Sie mal wiederzusehen. Einfach entzückend. Danke, aber Mary geht's nicht so gut, wie zu wünschen wäre -dieser Mord, verstehen Sie? Sie haben sicher schon gehört, daß wir, wie die Armen es so nett und taktvoll ausdrücken, in Schwierigkeiten sind, oder?«

»Na klar«, antwortete Miss Tarrant voll Eifer, »und als gute Sozialistin kann ich es mir nicht verkneifen, meinen Spaß daran zu haben, wenn es einmal einem Peer an den Kragen geht, weil er dabei so lächerlich wirkt, und das ganze Oberhaus ist schließlich lächerlich, oder? Aber eigentlich wär's mir schon lieber, wenn es der Bruder von jemand anderm wäre. Mary und ich waren immer gute Freunde, und Sie tun schließlich auch etwas, wenn Sie Verbrechen aufklären statt von Ihren Gütern zu leben und Vögel totzuschießen. Das ist ja doch ein kleiner Unterschied.«

»Sehr nett von Ihnen«, sagte Peter, »und wenn Sie es jetzt noch über sich bringen könnten, das Mißgeschick meiner Geburt und meine übrigen Fehler zu übersehen, geben Sie mir vielleicht die Ehre, mit mir irgendwo einen Happen essen zu gehen, ja?«

»Oh, das täte ich schrecklich gern«, rief Miss Tarrant voll Überschwang, »aber ich habe versprochen, heute abend im Club zu sein. Da ist um neun eine Versammlung. Mr. Coke -der Labour-Führer, wissen Sie - will über die Bekehrung von Heer und Marine zum Kommunismus sprechen. Wir rechnen mit einer Razzia, und bevor wir anfangen, gibt es eine große Jagd nach Spionen. Aber wissen Sie was, kommen Sie doch mit und essen Sie dort mit mir, und wenn Sie Lust haben, versuche ich Sie auch in die Versammlung zu schmuggeln, und dann werden Sie geschnappt und rausgeschmissen. Ich glaube ja, ich hätte Ihnen gar nichts davon erzählen dürfen, denn eigentlich sind Sie doch ein Erzfeind, aber ich kann Sie nicht wirklich für gefährlich halten.«

»Ich denke, ich bin nur ein gewöhnlicher Kapitalist«, meinte Peter. »Höchst anstößig.«

»Na ja, aber kommen Sie wenigstens zum Essen mit. Ich möchte so gern alle Neuigkeiten von Ihnen hören.«

Peter überlegte, daß das Essen im Sowjet-Club wohl mehr als ungenießbar sein würde, und wollte schon eine Ausrede finden, als ihm einfiel, daß Miss Tarrant ihm vielleicht einiges über seine Schwester erzählen konnte, was er selbst nicht wußte, aber eigentlich wissen sollte. Also machte er aus der höflichen Ablehnung eine höfliche Annahme und wurde von Miss Tarrant, die ihm voraneilte, in stürmischem Tempo durch eine Reihe schmuddeliger Gassen auf kürzestem Weg in die Gerrard Street geführt, wo eine orangefarbene Tür, flankiert von zwei Fenstern mit knallroten Vorhängen, unmißverständlich den Sowjet-Club ankündigte.

Der Sowjet-Club, mehr fürs freie Denken als fürs süße Leben eingerichtet, hatte jene merkwürdig amateurhafte Atmosphäre, die allen weltlichen Einrichtungen anhaftet, die von weltfremden Menschen erdacht werden. Peter konnte nicht genau sagen, warum ihn das Ganze an einen Missionstee erinnerte - es sei denn, daß alle Clubmitglieder so aussahen, als ob sie ein Ziel im Leben verfolgten, und daß die Bedienung ziemlich dürftig ausgebildet zu sein schien, dafür aber um so deutlicher in Erscheinung trat. Wimsey sagte sich, daß er in so einer demokratischen Institution kaum vom Personal jenen Ausdruck der Überlegenheit erwarten durfte, der die Bediensteten in einem Westend-Club auszuzeichnen pflegte. Zumindest waren sie bestimmt nicht solche Kapitalisten. Unten im Speisesaal wurde der Eindruck eines Missionstees noch verstärkt durch die überheizte Atmosphäre, das Stimmengewirr und die merkwürdige Unzweckmäßigkeit der Bestecke. Miss Tarrant ergatterte zwei Plätze an einem reichlich krümelbedeckten Tisch in der Nähe der Essensdurchreiche, und Peter zwängte sich mit einigen Schwierigkeiten neben einen sehr großen, kraushaarigen Mann in einer Samtjacke, der sich ernst mit einer mageren, lebhaften jungen Frau unterhielt, die zu einer russischen Bluse venezianische Perlen, einen ungarischen Schal und einen spanischen Kamm trug und aussah wie die personifizierte Einheitsfront der Internationale.

Lord Peter wollte seine Gastgeberin mit einer Frage nach dem großen Mr. Coke erfreuen, wurde aber mit einem erregten »Pssst!« zur Ordnung gerufen.

»Bitte nicht so laut«, sagte Miss Tarrant und beugte sich so weit zu ihm herüber, daß ihr roter Haarschopf ihn an den Augenbrauen kitzelte. »Das ist doch streng geheim.«

»Tut mir furchtbar leid«, entschuldigte sich Wimsey. »Passen Sie auf, Sie tunken ihre hübschen kleinen Perlen in die Suppe.«

»Nein, wirklich?« rief Miss Tarrant, indem sie sich eilig zurückzog. »Danke, danke vielmals. Dabei sind sie nicht einmal farbecht. Hoffentlich ist kein Arsen oder so etwas drin.« Dann beugte sie sich wieder vor und flüsterte heiser: »Die Frau neben mir ist Erica Heath-Warburton - die Schriftstellerin, Sie wissen schon.«

Wimsey betrachtete die Dame in der russischen Bluse mit neuem Respekt. Wenige Bücher hatten es bisher vermocht, ihm die Röte in die Wangen zu treiben, aber er erinnerte sich, daß einem von Miss Heath-Warburtons Büchern ebendies gelungen war. Die Autorin sagte gerade sehr eindrucksvoll zu ihrem Gesprächspartner:

»- je erlebt, daß eine ernste Gefühlsregung sich in einem Nebensatz ausdrückt?«

»Joyce hat uns vom Aberglauben der Syntax befreit«, pflichtete der krausköpfige Mann ihr bei.

»Szenen, die emotionale Geschichte machen«, fuhr Miss Heath-Warburton fort, »sollten idealerweise in einer Folge tierischer Schreie ausgedrückt werden.«

»Die D. H. Lawrence-Formel«, sagte der andere.

»Oder sogar Dada«, meinte die Schriftstellerin.

»Wir brauchen eine neue Notation«, sagte der Krauskopf, wobei er beide Ellbogen so auf den Tisch stützte, daß er Wimseys Brot zu Boden stieß. »Hast du Roben Snoates schon einmal seine eigenen Verse zu Tamtam und Pennyflöte rezitieren hören?«

Lord Peter entzog mit Mühe seine Aufmerksamkeit dieser faszinierenden Diskussion, um gerade mitzubekommen, daß Miss Tarrant etwas über Mary sagte.

»Ihre Schwester wird hier sehr vermißt«, sagte sie. »So etwas von Begeisterung. Sie hat auf den Versammlungen so gut gesprochen. Die hatte wirklich etwas für die Arbeiter übrig.«

»Das finde ich erstaunlich«, sagte Wimsey, »wenn ich bedenke, daß Mary noch nie im Leben einen Finger krumm machen mußte.«

»Oh, aber sie hat gearbeitet«, rief Miss Tarrant. »Für uns. Und wie großartig! Sie war fast ein halbes Jahr lang Sekretärin unserer Propagandagesellschaft. Und dann hat sie so fleißig für Mr. Goyles gearbeitet. Ganz zu schweigen von ihrer Zeit als Krankenschwester im Krieg. Natürlich billige ich Englands Haltung im Krieg nicht, aber keiner wird behaupten können, da sei nicht hart gearbeitet worden.«

»Wer ist Mr. Goyles?«

»Oh, das ist einer unserer führenden Redner - noch sehr jung, aber die Regierung hat richtig Angst vor ihm. Ich nehme an, er wird heut abend hier sein. Er hat im Norden Schulungen abgehalten, aber ich glaube, er ist wieder zurück.«

»Vorsicht!« rief Peter. »Ihre Perlen hängen schon weder im Teller.«

»So? Na ja, vielleicht bringen sie ein bißchen Geschmack an den Hammel. Ich fürchte, die Küche ist hier wirklich nicht sehr gut, aber dafür sind die Beiträge so niedrig, verstehen Sie? Es wundert mich, daß Mary Ihnen nie von Mr. Goyles erzählt haben soll. Sie waren doch damals so sehr befreundet. Alle haben gedacht, sie wird ihn heiraten - aber daraus scheint nichts geworden zu sein. Und dann ist Ihre Schwester aus der Stadt weggezogen. Wissen Sie etwas darüber?«

»Ach, der war das also? Doch, ja - das haben meine Leute nicht so ganz begriffen, verstehen Sie? Sie hielten Mr. Goyles wohl nicht für den Schwiegersohn ihrer Wünsche. Familienkrach und so. War selbst nicht da; außerdem hat Mary sowieso nie auf mich gehört. Jedenfalls hab ich das so verstanden.«

»Wieder so ein Beispiel für die absurde, altmodische elterliche Tyrannei«, sagte Miss Tarrant heftig. »Man sollte so etwas gar nicht mehr für möglich halten - in N achkriegszeiten.«

»Ich weiß nicht«, sagte Wimsey, »ob man es so nennen kann. Nicht direkt elterlich. Meine Mutter ist eine sehr ungewöhnliche Frau. Ich glaube nicht, daß sie sich da eingemischt hat. Soviel ich weiß, wollte sie Mr. Goyles sogar nach Denver einladen. Aber mein Bruder hat sich auf die Hinterbeine gestellt.«

»Na bitte, was kann man denn anderes erwarten?« meinte Miss Tarrant verächtlich. »Aber ich weiß gar nicht, was ihn das anging.«

»Oh, natürlich nichts«, pflichtete Wimsey ihr bei. »Nur daß mein Bruder nach den beschränkten Vorstellungen meines Vaters über das, was sich für eine Frau geziemt, Marys Geld so lange verwaltet, bis sie mit seiner Zustimmung heiratet. Ich finde das ja auch nicht gut - ich finde es sogar abscheulich. Aber so ist es nun mal.«

»Ungeheuerlich!« sagte Miss Tarrant und schüttelte dabei den Kopf so heftig, daß sie aussah wie ein Struwwelpeter. »Barbarisch! Eben rein feudalistisch. Aber was ist schon Geld?«

»Natürlich nichts«, sagte Peter. »Aber wenn man dazu erzogen worden ist, immer welches zu haben, ist es ein bißchen hart, plötzlich darauf verzichten zu müssen. Das ist wie mit dem Baden.«

»Ich verstehe nicht, wie es Mary überhaupt etwas ausgemacht haben kann«, beharrte Miss Tarrant betrübt. »Sie hat sich als Arbeiterin so wohl gefühlt. Einmal haben wir acht Wochen lang versucht, in einem Taglöhnerhaus zu leben, zu fünft, von achtzehn Shilling die Woche. Es war ein herrliches Erlebnis. Unmittelbar am Rande des New Forest.«

»Im Winter?«

»N-nein - wir hatten es für besser gehalten, nicht gleich im Winter anzufangen. Aber wir hatten neun Regentage, und der Kamin in der Küche hat immerzu gequalmt. Sehen Sie, das Holz kam eben aus dem Wald und war so naß.«

»Aha. Das muß ungemein interessant gewesen sein.«

»Es war ein Erlebnis, das ich nie vergessen werde«, sagte Miss Tarrant. »Man fühlte sich der Erde und allem Ursprünglichen so nah. Wenn wir doch die Industrialisierung abschaffen könnten! Ich fürchte jedoch, daß wir das ohne eine blutige Revolution nie schaffen werden. Es ist schrecklich, versteht sich, aber heilsam und unausweichlich. Trinken wir noch Kaffee? Wir müssen ihn aber selbst nach oben tragen, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Die Mädchen bringen ihn nach dem Essen nicht mehr rauf.«

Miss Tarrant ging ihre Rechnung begleichen, und als sie zurückkam, drückte sie ihm eine Tasse Kaffee in die Hand. Der Kaffee war schon auf die Untertasse übergeschwappt, und als er sich tastend seinen Weg um einen Wandschirm herum und eine steile, schiefe Treppe hinaufsuchte, wurde noch mehr verschüttet.

Sie tauchten aus dem Keller auf und wären fast mit einem blonden jungen Mann zusammengestoßen, der in einer Reihe kleiner Fächer nach Briefen suchte. Als er nichts fand, begab er sich in den Salon zurück. Miss Tarrant stieß einen Ruf des Entzückens aus.

»Hallo, da ist ja Mr. Goyles«, rief sie.

Wimsey sah in die angegebene Richtung, und beim Anblick der hochgewachsenen, leicht vornübergebeugten Gestalt mit dem unordentlichen Haar und einem Handschuh über der rechten Hand konnte er einen kleinen Erregungslaut nicht unterdrücken.

»Wollen Sie mich nicht vorstellen?« fragte er.

»Ich hole ihn«, sagte Miss Tarrant. Sie bahnte sich einen Weg durch den Salon und sprach den jungen Agitator an, der zusammenschrak, zu Wimsey blickte, den Kopf schüttelte, sich zu entschuldigen schien, einen eiligen Blick auf seine Uhr warf und zur Tür hinausschoß. Wimsey setzte ihm nach.

»Na so was!« sagte Miss Tarrant mit verständnisloser Miene. »Er sagt, er hat eine Verabredung - aber er kann doch nicht einfach die Versammlung -«

»Entschuldigen Sie mich«, sagte Peter. Schon war er draußen, gerade rechtzeitig, um eine dunkle Gestalt über die Straße verschwinden zu sehen. Er nahm die Jagd auf. Der Mann nahm die Beine in die Hand und schien sich in eine dunkle Gasse zu stürzen, die zur Charing Cross Road führt. Wimsey, der ihm folgte, wurde plötzlich geblendet von einem Blitz und einer Rauchwolke fast unmittelbar vor seinem Gesicht. Ein schwerer Schlag gegen die linke Schulter, ein ohrenbetäubender Knall, und die Welt drehte sich um ihn. Er taumelte und fiel auf ein altes, ehernes Bettgestell.

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