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Als Sir Impey Biggs sich am zweiten Verhandlungstag erhob, um das Eröffnungsplädoyer für die Verteidigung zu halten, fiel allgemein auf, daß er ein wenig sorgenvoll wirkte -bei ihm ein sehr ungewöhnlicher Zug. Seine Ausführungen waren sehr kurz, und doch vermochte er mit den wenigen Worten der großen Versammlung einen Schauer den Rücken hinunterzujagen.
»Meine Lords, Sie sehen mich zu Beginn der Verteidigung in einer mehr als üblich schwierigen Situation. Nicht daß ich am Urteil Eurer verehrten Lordschaften im geringsten zweifelte. Selten, vielleicht noch nie war es möglich, die Unschuld eines Angeklagten so eindeutig zu beweisen wie im Falle meines edlen Mandanten. Aber ich möchte Ihnen, meine Lords, von vornherein erklären, daß ich mich genötigt sehen könnte, um eine Vertagung zu bitten, denn zur Zeit fehlen uns noch ein wichtiger Zeuge und ein entscheidendes Beweisstück. Meine Lords, ich habe hier ein Telegramm von diesem Zeugen in den Händen - ich will Ihnen seinen Namen nennen: Es ist Lord Peter Wimsey, der Bruder des Angeklagten. Das Telegramm wurde gestern in New York aufgegeben. Ich lese es Ihnen vor. Es lautet: >Beweisstück gesichert. Fliege heute abend mit Pilot Grant. Beglaubigte Abschrift und beeidete Aussagen folgen mit S. S. Lucarnia falls Unglück. Erhoffte Ankunft Donnerstag« Meine Lords, in ebendiesem Augenblick durchschneidet dieser entscheidende Zeuge die Lüfte hoch über dem weiten Atlantik. Bei diesem Winterwetter trotzt er einer Gefahr, vor der eines jeden Menschen Herz, außer dem seinen und dem des weltberühmten Fliegers, dessen Hilfe er sich versichert hat, verzagen würde, um bei der Befreiung seines Bruders von diesem furchtbaren Verdacht keine Sekunde zu verlieren. Meine Lords, das Barometer fällt.«
Eine unermeßliche Stille, wie nach einem schweren Frost, hatte sich über den prunkvollen Saal gelegt. Die Lords in ihrem Purpur und Hermelin, die Damen in ihren kostbaren Pelzen, die Anwälte in ihren Allongeperücken und wehenden Roben, der Großhofmeister auf seinem hohen Stuhl, die Gerichtsdiener und Herolde und Wappenträger standen und saßen starr an ihren Plätzen. Nur der Angeklagte warf einen verwirrten Blick zuerst zu seinem Verteidiger, dann zum Großhofmeister, und die Reporter kritzelten wie verzweifelt letzte Meldungen für die nächste Ausgabe - düstere Schlagzeilen, malerische Beiworte und alarmierende Wettervorhersagen, die das Londoner Leben zum Stillstand bringen sollten: »HERZOGSSOHN ÜBERFLIEGT DEN ATLANTIK«, »BRUDERLIEBE«, »KOMMT WIMSEY NOCH RECHTZEITIG?«, »MORDFALL RIDDLESDALE: VERBLÜFFENDE WENDE«. Das war Zeitungsfutter. Millionen Fernschreiber tickerten die Geschichte in Büros und Clubräume, wo Angestellte und Botenjungen sich darüber hermachten und Wetten auf den Ausgang abschlossen; Tausende von Monsterpressen saugten sie in sich hinein, zerkochten sie zu Blei, stampften Druckplatten daraus, würgten sie in ihre großen Mägen, schieden sie auf Papier wieder aus und schleuderten sie mit starken Klauen zurück in die Welt; und ein abgerissener Veteran mit blaugefrorener Nase, der einst geholfen hatte, den verschütteten Major Wimsey bei Caudry aus einem Granattrichter zu graben, murmelte leise vor sich hin: »Gott steh ihm bei, er ist wirklich 'n anständiger kleiner Bengel.« Und damit steckte er seine Zeitungen in den Drahtständer an einem Baum in Kingsway und stellte sein Plakat im günstigsten Winkel auf.
Nach der kurzen Feststellung, daß er nicht nur die Unschuld seines edlen Mandanten zu beweisen beabsichtige, sondern (als Zugabe gewissermaßen) auch die Tragödie in allen Einzelheiten aufklären wolle, rief Sir Impey Biggs ohne weiteren Verzug seine Zeugen auf.
Unter den ersten war Mr. Goyles, der bestätigte, daß er Cathcart um drei Uhr morgens bereits tot vorgefunden habe, mit dem Kopf neben dem Wassertrog, der sich beim Brunnen befinde. Ellen, das Stubenmädchen, bestätigte als nächstes James Flemings Aussage hinsichtlich des Postsacks und erklärte, daß sie täglich das Löschpapier auf der Schreibunterlage im Arbeitszimmer wechsle.
Die Aussage Kriminalinspektor Parkers rief mehr Interesse und einige Verwirrung hervor. Sein Bericht über den Fund der Brillantkatze fand interessierte Zuhörer. Er sprach ausführlich über die Fuß- und Schleifspuren, besonders über den Handabdruck auf dem Blumenbeet. Dann wurde das bewußte Löschblatt vorgelegt und ein Satz Fotografien davon unter den Peers herumgereicht. An beiden Punkten entspann sich jeweils eine lange Diskussion, wobei Sir Impey Biggs sich zu zeigen bemühte, daß der Abdruck auf dem Blumenbeet von den Bemühungen des verwundeten Mannes herrühren müsse, sich aus der Bauchlage aufzurichten, während Sir Wigmore Wrinching es darauf anlegte, das Zugeständnis zu erzwingen, daß der Verwundete den Abdruck ebensogut bei dem Versuch hinterlassen haben könne, sich dem Wegschleppen zu widersetzen.
»Steht nicht die Stellung der Finger, die zum Haus zeigen, der Annahme entgegen, daß der Mann geschleift wurde?« fragte Sir Impey.
Sir Wigmore hielt dagegen, daß der Verwundete ebensogut mit dem Kopf voran fortgeschleift worden sein konnte.
»Wenn ich Sie«, sagte Sir Wigmore, »beim Kragen packen und fortschleifen müßte - Eure Lordschaften werden verstehen, was ich meine -«
»Mir scheint«, bemerkte der Großhofmeister, »daß dies ein Fall von solvitur ambulando ist.« (Gelächter.) »Ich schlage vor, daß einige von uns, wenn das hohe Haus in die Mittagspause geht, die Frage experimentell zu klären versuchen, indem sie unter sich jemanden von etwa gleicher Größe und gleichem Gewicht aussuchen.« (Die edlen Lords sahen einer den andern an und suchten nach einem geeigneten Opfer für diese Rolle.)
Dann erwähnte Inspektor Parker die Kratzspuren am Arbeitszimmerfenster,
»Könnte Ihrer Meinung nach die Verriegelung mit dem Messer geöffnet worden sein, das bei dem Toten gefunden wurde?«
»Ich weiß, daß es möglich ist, denn ich habe das Experiment mit einem genau gleichen Messer selbst durchgeführt.«
Danach wurde die Botschaft auf dem Löschblatt vorwärts und rückwärts gelesen und auf jede nur denkbare Weise interpretiert, wobei die Verteidigung darauf beharrte, daß die Worte französisch seien und »Je suis fou de douleur« bedeuteten, während die Anklage dies als weit hergeholt bezeichnete und einfachere Deutungen anbot. Dann wurde ein Handschriftenexperte aufgerufen, der die Schrift mit einem authentischen Brief Cathcarts verglich und daraufhin von der Anklagevertretung unsanft angefaßt wurde.
Nachdem diese kniffligen Punkte den Lords zur Beurteilung anheimgegeben worden waren, rief die Verteidigung noch eine ermüdend lange Reihe von Zeugen auf: den Direktor der CoxBank und Monsieur Turgeot vom Crédit Lyonnais, der sich detailliert mit Cathcarts Geldangelegenheiten auseindersetzte; den Concierge und Madame Leblanc aus der Rue St. Honoré;
und die edlen Lords begannen zu gähnen, mit Ausnahme einiger Industrie-Lords, die auf ihren Notizblöcken herumzurechnen begannen und einander wissende Blicke von Finanzmann zu Finanzmann zuwarfen.
Dann kam Monsieur Briquet, der Juwelier aus der Rue de la Paix, und nach ihm seine Verkäuferin, die ihre Geschichte von der großen, blonden, ausländischen Dame und dem Kauf der grünäugigen Katze erzählte - woraufhin plötzlich alle wieder aufwachten. Sir Impey erinnerte die Versammelten daran, daß dieser Vorfall sich im Februar ereignet habe, als Cathcarts Verlobte in Paris gewesen sei, und bat dann die Verkäuferin, sich umzusehen und zu sagen, ob sie die betreffende Dame im Hause sehe. Dies erwies sich als eine langwierige Prozedur, doch das Ergebnis war am Ende negativ.
»Ich möchte, daß hier kein Zweifel bestehen bleibt«, sagte Sir Impey, »und werde dieser Zeugin jetzt mit Erlaubnis des verehrten Anklagevertreters Lady Mary Wimsey gegenüb erstellen.«
Daraufhin wurde also Lady Mary vor die Zeugin gestellt, die unverzüglich und mit großer Bestimmtheit antwortete: »Nein, das ist nicht die Dame; diese Dame habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen. Sie sieht ihr in Größe, Haarfarbe und Frisur zwar ein wenig ähnlich, aber sonst - nein, nicht im mindesten. Sie ist nicht einmal der gleiche Typ. Mademoiselle ist eine bezaubernde englische Lady, und der Mann, der sie heiratet, wird sehr glücklich sein, aber die andere war belle a se suicider - eine Frau, für die man sich umbringt, für die man alles zum Teufel schickt, und glauben Sie mir, meine Herren« (dies mit einem breiten Lächeln für ihr distinguiertes Publikum), »in meinem Beruf sehe ich so manche.«
Die Zeugin trat inmitten allgemeiner Erregung ab, und Sir Impey kritzelte etwas auf einen Zettel und schob ihn Mr.
Murbles zu. Es stand nur ein Wort darauf: »Großartig!« Mr. Murbles schrieb zurück:
»Habe ihr kein Wort gesagt. Können Sie das überbieten?« Und damit lehnte er sich, schmunzelnd wie eine hübsche kleine Groteske an einem gotischen Kapitell, behaglich zurück.
Der nächste Zeuge war Professor Herbert, eine anerkannte Kapazität für internationales Recht, der Cathcarts vielversprechende Karriere als aufstrebender junger Diplomat im Vorkriegs-Paris schilderte. Ihm folgten mehrere Offiziere, die Cathcart aus dem Krieg kannten und ihm ein ausgezeichnetes Zeugnis ausstellten. Dann trat ein Zeuge auf, der sich mit dem aristokratischen Namen du Bois-Gobey Houdin vorstellte und sich genau an einen sehr peinlichen Disput anläßlich eines Kartenspiels mit le Capitaine Cathcart erinnerte, worüber er dann später mit Monsieur Thomas Freeborn, dem bekannten englischen Ingenieur, gesprochen habe. Parkers Fleiß hatte diesen Zeugen zutage gefördert, und jetzt blickte er mit unverhohlenem Grinsen zu dem geschlagenen Sir Wigmore Wrinching hinüber. Bis Mr.
Glibbery die Zeugen alle vorgeführt hatte, war der Nachmittag schon weit vorangeschritten, und der Großhofmeister fragte also die Lords, ob es ihnen genehm sei, die Sitzung bis zum nächsten Vormittag um Glockenschlag halb elf zu vertagen, worauf sie in mustergültigem Chor »Aye« riefen, und die Sitzung war vertagt.
Eilige schwarze Wolken mit gezackten Rändern jagten drohend westwärts, als sie auf den Parliament Square hinausströmten, und vom Fluß her kreisten kreischende Möwen stadteinwärts. Charles Parker schlug seinen alten Burberry fest um sich, als er in einen Bus stieg, um nach Hause in die Great Ormond Street zu fahren. Es war nur ein weiterer Tropfen in seinen Wermutbecher, als ihn der Schaffner mit einem knappen »Nur oben!« begrüßte und schon die Klingel zog, bevor er wieder aussteigen konnte. Er stieg aufs Oberdeck, nahm Platz und hielt seinen Hut fest. Mr. Bunter kehrte traurig nach 110 A Piccadilly zurück und wanderte bis sieben Uhr ruhelos in der Wohnung umher, dann ging er ins Wohnzimmer und schaltete das Radio ein.
»Hier London«, sagte die unsichtbare Stimme teilnahmslos. »2 LO meldet sich mit der Wettervorhersage. Ein starkes Tiefdruckgebiet überquert den Atlantik, während ein Ausläufer über den britischen Inseln verweilt. Heftige, im Süden und Südwesten orkanartige Winde bringen Regen- und Schneeschauer ...«
»Man kann nie wissen«, sagte Bunter. »Ich sollte lieber das Feuer in seinem Schlafzimmer anmachen.«
»Weitere Aussichten unverändert.«