Die beredten Toten


»Je connaissais Manon; pourquoi m’affliger tant d’un malheur que j'avais dû prévoir.«

Manon Lescaut


Der Sturm hatte sich ausgetobt, und es folgte ein wunderbar frischer Tag mit Flecken freien Himmels zwischen dicken Kumuluswolken, die sich lawinengleich in großer Höhe über luftige blaue Hänge wälzten.

Der Angeklagte hatte eine Stunde lang mit seinen Beratern gerungen, und als sie endlich in den Gerichtssaal traten, war Sir Impeys klassisches Gesicht zwischen den Locken seiner Perücke leicht gerötet.

»Und ich werde nichts sagen«, blieb der Herzog störrisch bei seiner Weigerung. »Das wäre eine Gemeinheit. Ich kann Sie wohl nicht hindern, sie aufzurufen, wenn sie selbst darauf besteht - ist ja hochanständig von ihr -, ich komme mir richtig erbärmlich vor.«

»Lassen Sie's lieber dabei«, sagte Mr. Murbles. »Macht einen guten Eindruck, wissen Sie? Lassen Sie ihn ruhig in den Zeugenstand treten und sich als vollkommener Gentleman gebärden. Das gefällt.«

Sir Impey, der bis in die frühen Morgenstunden an seinem Plädoyer herumgefeilt hatte, nickte.

Die erste Zeugin dieses Tages war eine gelinde Überraschung. Sie gab ihren Namen mit Eliza Briggs an, bekannt als Madame Brigette aus der New Bond Street, und als Beruf Schönheitsspezialistin. Sie hatte einen großen, aristokratischen Kundenkreis beiderlei Geschlechts und eine Filiale in Paris.

Der Verstorbene sei in beiden Städten seit Jahren ihr Kunde gewesen - Massage und Maniküre. Nach dem Krieg sei er wegen ein paar kleiner Narben zu ihr gekommen, die von Schrapnellsplittern stammten. Er habe überaus großen Wert auf sein Äußeres gelegt, und wenn man das bei einem Mann Eitelkeit nennen wolle, so sei er mit Sicherheit eitel gewesen. Vielen Dank. Sir Wigmore Wrinching nahm diese Zeugin erst gar nicht ins Kreuzverhör, und die edlen Lords fragten einander verwundert, was ihr Auftritt überhaupt sollte.

An diesem Punkt beugte Sir Impey Biggs sich vor, klopfte vielsagend auf seine Akte und sprach:

»Meine Lords, die Verteidigung ist sich ihrer Sache so sicher, daß wir es bisher nicht für nötig erachtet haben, ein Alibi -« als an der Tür ein kleiner Tumult entstand und ein Gerichtsdiener angerannt kam, um ihm aufgeregt einen Zettel in die Hand zu drücken. Sir Impey las ihn, errötete, schaute sich um, legte seine Akte hin, faltete die Hände darüber und sagte mit plötzlich lauter Stimme, die sogar in die tauben Ohren des Herzogs von Wiltshire drang:

»Meine Lords, ich freue mich, Ihnen sagen zu dürfen, daß unser bisher fehlender Zeuge eingetroffen ist. Ich rufe auf -Lord Peter Wimsey!«

Alle Hälse verdrehten sich auf einmal, und aller Augen richteten sich auf die von Schmutz und Öl starrende Gestalt, die mit liebenswürdigem Lächeln durch den langgestreckten Saal nach vorn schritt. Sir Impey Biggs schob den Zettel weiter zu Mr. Murbles, wandte sich an den Zeugen, der fürchterlich gähnte, wenn er nicht gerade einen seiner vielen Bekannten angrinste, und verlangte seine Vereidigung.

Der Zeuge sagte wie folgt aus:

»Ich bin Peter Death Bredon Wimsey, der Bruder des Angeklagten. Ich wohne 110 A Piccadilly. Auf Grund dessen, was ich auf diesem Löschblatt gelesen habe, das ich hiermit identifiziere, bin ich nach Paris geflogen, um eine bestimmte Dame ausfindig zu machen. Ihr Name ist Mademoiselle Simone Vonderaa. Wie ich feststellen mußte, hatte sie Paris in Begleitung eines Herrn namens van Humperdinck verlassen. Ich bin ihr gefolgt und habe sie schließlich in New York gefunden. Ich bat sie, mir den Brief zu geben, den Cathcart ihr am Abend seines Todes geschrieben hatte. (Aufsehen.) Ich lege diesen Brief hier vor, von Mademoiselle Vonderaa in einer Ecke signiert, damit er identifiziert werden kann, falls Wiggy uns damit aufs Kreuz zu legen versucht. (Allgemeine Heiterkeit, in der die erzürnten Proteste des Anklägers untergingen.) Es tut mir ja leid, daß ich so kurzfristig damit ankomme, altes Haus, aber ich hab ihn selbst erst vorgestern bekommen. Wir sind so schnell hergekommen, wie es ging, aber wir mußten bei Whitehaven mit einem Motorschaden notlanden, und wenn das eine halbe Meile früher passiert wäre, stände ich jetzt nicht hier.« (Applaus, der vom Großhofmeister eilig unterdrückt wurde.)

»Meine Lords«, sagte Sir Impey, »Sie alle sind Zeugen, daß ich diesen Brief nie zuvor gesehen habe. Sein Inhalt ist mir völlig unbekannt; und doch glaube ich so fest an seine entlastende Wirkung für meinen Mandanten, daß ich bereit bin - nein, daß ich sogar großen Wert darauf lege, dieses Dokument unverzüglich, und ohne es auch nur flüchtig gelesen zu haben, so wie es ist, als Beweisstück vorzulegen und mit seinem Inhalt zu stehen oder zu fallen.«

»Zuerst muß die Handschrift als die des Verstorbenen identifiziert werden«, wandte der Großhofmeister ein.

Die gierigen Bleistifte der Reporter rasten übers Papier. Der schmächtige junge Mann, der für die Daily Trumpet arbeitete, witterte einen Skandal bei den Oberen Zehntausend und leckte sich die Lippen, ohne zu ahnen, ein wieviel saftigerer Skandal ihm wegen einer knappen Minute entgangen war.

Miss Lydia Cathcart wurde erneut aufgerufen, um die Handschrift zu identifizieren, und der Brief wurde dem Großhofmeister überreicht, der erklärte:

»Der Brief ist französisch geschrieben. Wir müssen einen Dolmetscher vereidigen.«

»Sie werden sehen«, sagte der Zeuge plötzlich, »daß die beiden Wortfragmente auf dem Löschblatt sich im Brief wiederfinden. Wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.«

»Steht dieser Zeuge als Sachverständiger hier?« fragte Sir Wigmore grämlich.

»Ganz recht«, sagte Lord Peter. »Nur sehen Sie, es kam doch für den guten Biggy sozusagen alles etwas plötzlich.

Biggy und Wiggy, zwei schöne Männer, gingen zum Kadi mitten im -«

»Sir Impey, ich muß Sie wirklich bitten, Ihren Zeugen zur Ordnung zu rufen!«

Lord Peter grinste, und es trat eine Pause ein, in der ein Dolmetscher herbeigeholt und vereidigt wurde. Dann endlich wurde inmitten atemloser Stille der Brief verlesen:

»Riddlesdale Lodge Stapley, N. E. Yorks. le 13 Octobre, 1923

Simone - Je viens de recevoir ta lettre. Que dire? Inutiles, les prières ou les reproches. Tu ne comprendras - tu ne liras même pas.

N'ai-je pas toujours su, d'ailleurs, que tu devais infailliblement me trahir? Depuis dix ans déjà je souffre tous les tourments que puisse infliger la Jalousie. Je comprends bien que tu n'as jamais voulu me faire de la peine. C'est tout justement cette insouciance, cette légèreté, cette façon séduisante d'être malhonnête, que j'adorais en toi. J'ai tout su, et je t'ai aimée.

Ma foi, non, ma chère, jamais je n'ai eu la moindre illusion. Te rappelles-tu cette première rencontre, un soir au Casino? Tu avais dix-sept ans, et tu étais jolie à ravir. Le lendemain tu fus à moi. Tu m'as dit, si gentiment, que tu m'aimais bien, et que j'étais, moi, le premier. Ma pauvre enfant, tu en as menti. Tu riais, toute seule, de ma naiveté - il y avait bien de quoi rire! Dès notre premier baiser, j'ai prévu ce moment.

Mais écoute, Simone. J'ai la faiblesse de vouloir te montrer exactement ce que tu as fait de moi. Tu regretteras peut-être en peu. Mais, non - si tu pouvais regretter quoi que ce fût, tu ne serais plus Simone.

Il y a dix ans, la veille de la guerre, j'étais riche - moins riche que ton Américain, mais assez riche pour te donner l'établissement qu'il te fallait. Tu étais moins exigeante avant la guerre, Simone - qui est-ce qui, pendant mon absence, t'a enseigné le goût du luxe? Charmante discrétion de ma part de ne jamais te le demander! Eh bien, une grande partie de ma fortune se trouvant placée en Russie et en Allemagne, j'en ai perdu plus de trois-quarts. Ce que m'en restait en France a beaucoup diminué en valeur. Il est vrai que j'avais mon traitement de capitaine dans l'armée britannique, mais c'est peu de chose, tu sais. Avant même la fin de la guerre, tu m'avais mange toutes mes économies. C'était idiot, quoi? Un jeune homme qui a perdu les trois-quarts de ses rentes ne se permet plus une maîtresse et un appartement Avenue Kléber. Ou il congédie madame, ou bien il lui demande quelques sacrifices. Je n'ai rien osé demander. Si j'étais venu un jour te dire, >Simone, je suis pauvre« - que m'aurais-tu répondu?

Sais-tu ce que j'ai fait? Non - tu n'as jamais pensé à demander d'où venait cet argent. Qu'est-ce que cela pouvait te faire que j'ai tout jeté - fortune, honneur, bonheur - pour te posséder? J'ai joué, désespérément, éperdument - j'ai fait pis: j'ai triché au jeu. Je te vois hausser les épaules - tu ris - tu dis, >Tiens, c'est malin, ça! < Oui, mais cela ne se fait pas. On m'aurait chassé du régiment. Je devenais le dernier des hommes.

D'ailleurs, cela ne pouvait durer. Déjà un soir à Paris on m'a fait une scène désagréable, bien qu'on n'ait rien pu prouver. C'est alors que je me suis fiancé avec cette demoiselle dont je t'ai parlé, la fille du duc anglais. Le beau projet, quoi! Entretenir ma maîtresse avec l'argent de ma femme! Et je l'aurais fait - et je le ferais encore demain, si c'était pour te reposséder.

Mais tu me quittes. Cet Américain est riche - archiriche. Depuis longtemps tu me répètes que ton appartement est trop petit et que tu t'ennuies à mourir. Cet >ami bienveillant< t'offre les autos, les diamants, les mille-et-une nuits, la lune! Auprès de ces merveilles, évidemment, que valent l'amour et l'honneur?

Enfin, le bon duc est d'une stupidité très commode. Il laisse traîner son révolver dans le tiroir de son bureau. D'ailleurs, il vient de me demander une explication à propos de cette histoire de cartes. Tu vois qu'en tout cas la partie était finie. Pourquoi t'en vouloir? On mettra sans doute mon suicide au compte de cet exposé. Tant mieux; je ne veux pas qu'on affiche mon histoire amoureuse dans les journaux.

Adieu, ma bien-aimée - mon adorée, mon adorée, ma Simone. Sois heureuse avec ton nouvel amant. Ne pense plus à moi. Qu'est-ce tout cela peut bien te faire? Mon Dieu, comme je t'ai aimée - comme je t'aime toujours, malgré moi. Mais c'en est fini. Jamais plus tu ne me perceras le coeur. Oh! J'enrage -je suis fou de douleur! Adieu.

Denis Cathcart«

ÜBERSETZUNG

»Liebe Simone, soeben erhielt ich Deinen Brief. Was soll ich sagen? Sinnlos, Dir mit Bitten oder Vorwürfen zu kommen. Du wirst sie nicht verstehen - nicht einmal lesen.

Habe ich nicht außerdem immer gewußt, daß Du mich eines Tages verraten müßtest? Seit zehn Jahren leide ich alle Qualen, die Eifersucht bereiten kann. Ich weiß sehr wohl, daß Du mir nie hast weh tun wollen. Gerade Deine Sorglosigkeit und Leichtigkeit, diese bezaubernde Art, unehrlich zu sein, habe ich doch so an Dir geliebt. Ich wußte alles, und doch habe ich Dich geliebt.

Wirklich, meine Liebe, ich habe mir nie die kleinste Illusion gemacht. Erinnerst Du Dich noch an unsere erste Begegnung eines Abends im Casino? Du warst siebzehn und hinreißend schön. Schon am nächsten Tag warst Du mein. Du hast mir so reizend gesagt, daß Du mich liebtest und daß ich der erste sei. Armes kleines Mädchen, wie hast Du gelogen! Heimlich hast Du über meine Naivität gelacht - dabei gab es gar nichts zu lachen! Seit unserm ersten Kuß habe ich diesen Augenblick vorausgesehen.

Aber gib acht, Simone. Ich bin schwach genug, Dir genau aufzeigen zu wollen, was Du aus mir gemacht hast. Vielleicht wird es Dir ein wenig leid tun. Aber nein - wenn Du je etwas bereuen könntest, wärst Du nicht mehr Simone.

Vor zehn Jahren, am Vorabend des Krieges, war ich reich -nicht so reich wie Dein Amerikaner, aber reich genug, um Dir das Leben zu bieten, das Du brauchtest. Vor dem Krieg warst Du noch nicht so anspruchsvoll, Simone - wer hat Dir in meiner Abwesenheit den Geschmack am Luxus beigebracht? Es war doch sehr diskret von mir, Dich nie danach zu fragen! Nun denn, ein großer Teil meines Vermögens war in Rußland und Deutschland angelegt, und so habe ich mehr als drei Viertel davon verloren. Was mir in Frankreich noch geblieben war, verlor erheblich an Wert. Natürlich hatte ich mein Gehalt als Hauptmann in der britischen Armee, aber Du weißt, das war nicht die Welt. Noch ehe der Krieg zu Ende war, hattest Du alle meine Ersparnisse aufgezehrt. Es war heller Wahnsinn. Ein junger Mann, der drei Viertel seines Einkommens verloren hat, hält sich keine Maitresse mehr und kein Appartement in der Avenue Kleber. Entweder gibt er Madame auf, oder er bittet sie um ein wenig Selbstbeschränkung. Ich aber wagte nicht, um etwas zu bitten. Denn wäre ich eines Tages zu Dir gekommen und hätte gesagt: >Simone, ich bin arm< - was hättest Du geantwortet?

Weißt Du, was ich getan habe? Nein - Du wärst nie auf den Gedanken gekommen, zu fragen, woher das Geld kam. Was hätte es Dich gekümmert, daß ich alles weggeworfen habe -mein Geld, meine Ehre, mein Glück -, nur um Dich zu behalten? Ich habe gespielt, verzweifelt und rücksichtslos. Schlimmer noch, ich habe beim Spiel betrogen! Ich sehe Dich mit den Achseln zucken - du lachst - du sagst: >Na, na, das war aber unartig! < O ja, aber so etwas tut man nicht. Man hätte mich aus dem Regiment ausgestoßen. Ich war so tief gesunken, wie man tiefer nicht mehr sinken kann.

Außerdem konnte das nicht lange gutgehen. Eines Abends hat man mir in Paris schon eine sehr unschöne Szene gemacht, obwohl man mir nichts beweisen konnte. Daraufhin habe ich mich dann mit dieser jungen Dame verlobt, von der ich Dir erzählt habe, der Tochter des englischen Herzogs. Ein schöner Plan, was? Meine Maitresse mit dem Geld meiner Frau auszuhalten! Und ich hätte es getan - ich täte es noch morgen, wenn ich Dich damit zurückgewinnen könnte.

Aber nun hast Du mich verlassen. Dieser Amerikaner ist reich - steinreich. Schon lange liegst Du mir in den Ohren, daß Dein Appartement zu klein sei und Du Dich zu Tode langweilst. Dein >wohlwollender Freund< bietet Dir Autos und Edelsteine, tausendundeine Nacht, den Mond! Bitte, was sind gegenüber solchen Herrlichkeiten schon Liebe und Ehre!

Nun, zum Glück ist der gute Herzog von einer Dummheit, die mir sehr gelegen kommt. Er läßt seinen Revolver in der Schreibtischschublade herumliegen. Außerdem war er vorhin hier und wollte von mir eine Erklärung über die Kartenspielerei haben. Du siehst, das Spiel war in jedem Falle aus. Warum sollte ich Dir böse sein? Man wird meinen Selbstmord mit dieser Bloßstellung begründen. Um so besser. Ich möchte nicht, daß man meine Liebesangelegenheiten in den Zeitungen breittritt.

Lebe wohl, meine Liebste - mein Alles, mein Alles, meine Simone! Sei glücklich mit Deinem neuen Geliebten. Denke nicht mehr an mich. Was geht Dich das überhaupt alles an? Mein Gott - wie ich Dich geliebt habe - wie ich Dich noch immer liebe, trotz allem! Aber das ist nun zu Ende. Du wirst mir nie mehr das Herz durchbohren. Ich bin rasend - ich bin wahnsinnig vor Schmerz! Lebe wohl.«

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