11. Kapitel Abreise nach Paris

»Glücklicher- oder unglücklicherweise besuchte eines Tages der Bürgermeister, dessen Weissagung zufolge Gabriels Zukunft in den Spitzen seiner Finger läge, den Vater Thomas und machte ihm den Antrag, er wolle Gabriel gegen Kost und hundertfünfzig Franc jährlich als Schreiber beschäftigen.

Gabriel betrachtete diesen Antrag als ein Glück, doch der Vater Thomas schüttelte den Kopf und sagte: >Wohin wird dich das führen, Junge?<

Beide nahmen nichtsdestoweniger den Antrag des Bürgermeisters an, und Gabriel vertauschte wirklich den Pflug gegen die Feder.

Wir waren nicht nur gute Freunde geblieben: Gabriel liebte mich, und auch ich liebte ihn von ganzem Herzen.

Jeden Abend gingen wir, wie dies in den Dörfern üblich ist, bald am Strand, bald am Ufer der Touque spazieren. Niemand kümmerte sich darum; wir waren beide arm, und wir paßten gut zusammen.

Nur schien Gabriel von der fixen Idee besessen, nach Paris zu kommen; er hatte die Überzeugung, wenn er nach Paris käme, würde er sein Glück machen.

Paris war also für uns das Ziel jedes Gesprächs. Paris war die magische Stadt, die uns beiden die Pforte des Reichtums und des Glückes öffnen sollte.

Ich gab mich dem Fieber hin, das ihn schüttelte, und wiederholte: >O ja, Paris! Paris!<

In unseren Zukunftsträumen hatten wir unsere Existenzen so miteinander verkettet, daß ich mich jetzt schon als die Frau von Gabriel betrachtete, obgleich damals nie ein Wort von Heirat unter uns ausgetauscht, obgleich, ich muß es sagen, nie ein Versprechen gegeben wurde.

Die Zeit verlief.

Imstande, sich seiner Lieblingsbeschäftigung zu widmen, schrieb Gabriel jeden Tag; er führte die Register der Bürgermeisterei mit einer außerordentlichen Pünktlichkeit und einem bewunderungswürdigen Geschmack.

Der Bürgermeister war entzückt, solch einen Schreiber zu haben.

Es kam die Zeit der Wahlen; einer von den Deputierten, die sich um die Wiederwahl bewarben, machte seine Rundreise, er kam nach Trouville; Gabriel war das Wunder von Trouville; man zeigte ihm die Register der Bürgermeisterei, und Gabriel wurde ihm am Abend vorgestellt.

Der Kandidat hatte ein Rundschreiben abgefaßt, doch es gab nur in Le Havre eine Druckerei; man mußte das Manifest in die Stadt schicken, und das verspätete die Sache um drei oder vier Tage.

Die Schreiben mußten jedoch so schnell wie möglich verteilt werden, da der Kandidat eine größere Opposition traf, als er zuvor erwartet hatte.

Gabriel machte sich anheischig, in der Nacht und am nächstfolgenden Tag fünfzig Exemplare zu schreiben. Der Abgeordnete versprach ihm dreihundert Franc, wenn er ihm diese fünfzig Exemplare in vierundzwanzig Stunden liefern würde.

Gabriel sagte alles zu, lieferte siebzig statt fünfzig.

Im höchsten Maß erfreut, gab ihm der Kandidat fünfhundert Franc statt dreihundert und leistete ihm das Versprechen, ihn einem reichen Bankier in Paris zu empfehlen, der ihn wahrscheinlich auf diese Empfehlung hin zu seinem Sekretär nehmen würde.

Gabriel kam an diesem Abend freudetrunken zu mir.

>Marie<, sagte er zu mir, >Marie, wir sind gerettet; ehe ein Monat vergeht, reise ich nach Paris; ich erhalte einen guten Platz, schreibe dir sodann, und du kommst zu mir.<

Ich dachte nicht einmal daran, ihn zu fragen, ob ich als seine Frau zu ihm kommen sollte, so fern war mir der Gedanke, Gabriel könnte mich täuschen.

Ich bat ihn nur um die Erklärung dieser Zusage, die noch ein Rätsel für mich war. Er erzählte mir alles, sprach von der Protektion des Abgeordneten und zeigte mit ein gedrucktes Papier.

>Was für ein Papier ist das?< fragte ich.

>Eine Banknote von fünfhundert Franc<, antwortete er.

>Wie<, rief ich, >dieser Papierfetzen ist fünfhundert Franc wert?<

>Ja<, sagte Gabriel, >und wenn wir zwanzig davon hätten, wären wir reich.<

>Das wären zehntausend Franc<, versetzte ich.

Mittlerweile verschlang Gabriel das Papier mit den Augen.

>Woran denkst du, Gabriel?< fragte ich.

>Ich denke, daß solch eine Banknote nicht schwerer nachzuahmen ist als ein Kupferstich.<

>Ja ... aber das muß ein Verbrechen sein?<

>Schau<, sagte Gabriel.

Und er zeigte mir die zwei Zeilen, die am unteren Rand des Geldscheines zu lesen waren: >Das Gesetz bestraft den Fälscher mit dem Tode.<

>Ah, ohne das<, rief er, >hätten wir bald zehn und zwanzig und fünfzig.<

>Gabriel<, meinte ich bebend, >was sagst du da?<

>Nichts, Marie, ich scherze.<

Und er steckte die Banknote wieder in die Tasche.

Acht Tage später fanden die Wahlen statt.

Trotz der Rundschreiben wurde der Kandidat nicht gewählt. Nach dessen Niederlage begab sich Gabriel zu ihm, um ihn an sein Versprechen zu erinnern; doch der Kandidat war schon abgereist.

Gabriel kehrte verzweifelt zurück; aller Wahrscheinlichkeit nach würde der gescheiterte Kandidat das Versprechen vergessen, das er dem armen Schreiber der Bürgermeisterei geleistet hatte.

Plötzlich schien ein Gedanke in Gabriel zu keimen, lächelnd verweilte er dabei, und nach einem Augenblick sagte er zu mir: >Zum Glück habe ich das Original von dem einfältigen Rundschreiben behalten.<

Und er zeigte mir dieses Original, von der Hand des Kandidaten geschrieben und unterzeichnet.

>Was wirst du damit machen?< fragte ich.

>O mein Gott! Gar nichts; nur dürfte mich dieses Papier bei Gelegenheit in seine Erinnerung zurückrufen.<

Dann sprach er nicht mehr von diesem Gegenstand, er schien das Rundschreiben vergessen zu haben.

Acht Tage danach kam der Bürgermeister zu Thomas Lambert mit einem Brief in der Hand. Dieser Brief war von dem gescheiterten Kandidaten.

Gegen alle Erwartung hatte er sein Versprechen gehalten und schrieb, er habe bei einem der ersten Bankiers von Paris eine Kom-misstelle für Gabriel gefunden, nur sollte er erst einmal drei Monate lang als Überzähliger dienen.

Dieses Opfer an Zeit und Geld war unerläßlich; später sollte Gabriel dann sogar achthundert Franc Gehalt bekommen.

Gabriel eilte, mir diese Neuigkeit mitzuteilen; doch während sie ihn mit Freude erfüllte, versetzte sie mich in tiefe Betrübnis.

Wohl hatte ich mich zuweilen, durch die Träume Gabriels angeregt, wie er nach Paris gesehnt; aber ich wäre doch nur nach Paris gegangen, um denjenigen, den ich liebte, nicht zu verlassen; mein ganzer Ehrgeiz beschränkte sich darauf, Gabriels Frau zu werden, und das schien mir viel sicherer in dem demütigen, eintönigen Dasein des Dorfes als im raschen, glühenden Wirbel der Hauptstadt.

Als er mir seine Freudenbotschaft mitteilte, begann ich also zu weinen.

Gabriel warf sich vor mir auf die Knie und suchte mich durch seine Versprechungen und Beteuerungen zu beruhigen; doch ein tiefes furchtbares Gefühl sagte mir, daß ihm Paris mehr wert wäre als ich. Gabriels Abreise war indessen noch nicht entschieden.

Thomas Lambert ließ sich herbei, ein kleines Opfer zu bringen. Der Bürgermeister lieh ihm, wohlverstanden, gegen Unterpfand, fünfhundert Franc, und da niemand etwas von der Freigebigkeit des Kandidaten wußte, so war Gabriel im Besitz von tausend Franc.

Wir erzählten allen Leuten im Dorf, daß Gabriel noch an demselben Abend nach Pont l'Eveque abreisen würde, von wo ihn ein Wagen zunächst nach Rouen bringen sollte; doch unter uns wurde beschlossen, er sollte einen Umweg machen und zurückkommen, um die Nacht bei mir zuzubringen.

Ich würde das Fenster meines Zimmers offenlassen.

Es war das erstemal, daß ich ihn so empfing, und ich hoffte bei dieser letzten Zusammenkunft ebenso stark gegen mich und mein Herz zu sein, wie ich es immer gewesen war.

Ach, ich täuschte mich. Ohne diese Nacht wäre ich nur unglücklich gewesen. Durch diese Nacht war ich verloren.

Bei Tagesanbruch verließ mich Gabriel; wir mußten uns trennen. Ich führte ihn durch die Gartentür, die zu den Dünen ging.

Hier erneuerte er mir alle seine Versprechungen, hier schwur er mir, er würde nie eine andere Frau nehmen als mich, und er schläferte wenigstens meine Befürchtungen ein, wenn er auch nicht meine Gewissensbisse zu beschwichtigen vermochte.

Wir verließen uns. Ich verlor ihn an der Ecke der Mauer aus dem Blick; doch ich lief ihm nach, um ihn noch einmal zu sehen.

Mit raschem Schritt eilte er den Fußpfad entlang, der zur Landstraße führte.

Es kam mir vor, als läge in der Eile seiner Schritte etwas, das seltsam mit meinem Schmerz kontrastierte.

Ich rief ihm etwas nach.

Er wandte sich um, schwang sein Taschentuch zum Zeichen des Abschieds und ging seines Weges.

Als er sein Taschentuch zog, verlor er, ohne es zu bemerken, ein Papier aus seiner Tasche.

Ich rief ihn noch einmal; doch ohne Zweifel aus Furcht, sich erweichen zu lassen, setzte er seinen Weg fort.

Ich lief ihm nach, kam zu der Stelle, wo er das Papier verloren hatte, und fand es auf der Erde.

Es war ein Geldschein von fünfhundert Franc, nur war es ein anderes Papier als das, welches ich gesehen hatte. Da raffte ich alle meine Kräfte zusammen und rief zum letztenmal; er wandte sich um, sah mich mit der Banknote winken, blieb stehen, durchwühlte seine Taschen, gewahrte, daß er etwas verloren hatte, und kehrte eiligst zu mir zurück.

>Halt<, sagte ich, >du hast etwas verloren, und ich bin sehr glücklich, daß ich dich nun doch noch einmal umarmen kann.<

>Deinetwegen allein komme ich zurück, liebe Marie, denn diese Banknote hat keinen Wert<, erwiderte er lachend.

>Wie, sie hat keinen Wert?<

>Nein, das Papier ist diesem nicht gleich.<

Und er zog den anderen Schein aus der Tasche.

>Nun, was für ein Schein ist es denn?<

>Einer, den ich zu meinem Vergnügen nachgeahmt habe und der völlig wertlos ist; du siehst es wohl, liebe Marie, ich komme nur deinetwegen zurück.<

Und um mir die Richtigkeit des Gesagten zu beweisen, zerriß er den Schein in kleine Stücke und warf sie weg. Dann erneuerte er mir noch einmal seine Versprechungen und Beteuerungen, und da die Zeit drängte und er fühlte, daß ich nicht mehr die Kraft hatte, mich aufrecht zu halten, setzte er mich an den Grabenrand, gab mir einen letzten Kuß und ging.

Ich folgte ihm mit den Augen, solange ich ihn sehen konnte; als ihn dann eine Biegung des Weges meinen Blicken entzog, verbarg ich den Kopf in den Händen und begann zu weinen.

Ich weiß nicht, wie lange ich so in meinem Schmerz versunken blieb.

Ich kam zu mir durch ein Geräusch, das ich in der Nähe hörte. Dieses Geräusch wurde durch ein kleines Mädchen verursacht, das Schafe hütete und mich ganz erstaunt anschaute, denn es begriff nicht, warum ich da so unbeweglich saß.

Ich schaute empor.

>Ah<, sagte das Mädchen, >Sie sind es, Mademoiselle Marie, warum weinen Sie denn?<

Ich trocknete meine Tränen und versuchte zu lächeln.

Dann hob ich, einfach um mit ihm durch die Dinge verbunden zu sein, die er berührt hatte, die Papierstückchen auf, die er weggeworfen hatte.

Endlich befürchtete ich, mein Vater könnte aufstehen und über meine Abwesenheit in Unruhe geraten, und begab mich hastig nach Hause.

Ich war kaum zwanzig Schritte gelaufen, als ich hörte, daß man mich rief.

Ich wandte mich um und sah das Mädchen mir nachlaufen.

Ich wartete.

>Was willst du, mein Kind?< fragte ich.

>Mademoiselle Marie<, sagte sie, >Sie haben alle die kleinen Papiere aufgehoben, hier ist eins, das Sie vergessen haben.<

Ich blickte auf das, was das Kind mir bot; es war in der Tat ein Bruchstück von dem so geschickt von Gabriel nachgeahmten Geldschein.

Ich nahm es aus den Händen des kleinen Mädchens und betrachtete es genauer.

Durch einen seltsamen Zufall war es derjenige Teil des Scheines, auf dem die unselige Drohung geschrieben stand: >Das Gesetz bestraft den Fälscher mit dem Tode.<

Ich erschauerte, ohne daß ich begriff, woher der Schrecken kam, der sich meiner bemächtigte. Nur an diesen zwei Zeilen allein hätte man zu bemerken vermocht, daß die Banknote nachgeahmt war. Sichtbar hatte die Hand Gabriels gezittert, als er diese Worte schrieb oder vielmehr zeichnete. Ich ließ alle anderen Stücke fallen und behielt nur dieses. Dann kehrte ich zurück, ohne daß mich mein Vater bemerkte. Doch als ich in das Zimmer trat, wo Gabriel die Nacht zugebracht hatte, erweckte alles in mir große Reue. Solange er dagewesen war, hatte mich mein Vertrauen zu ihm aufrecht gehalten; nun er weg war, kehrte jeder einzelne Umstand, der mir dieses Vertrauen wieder nahm, in meine Erinnerung zurück, und ich fühlte mich todunglücklich in der Reue über meinen Fehltritt.«

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