2. Kapitel Henri de Faverne

Wir fuhren ab; doch wie groß auch die Zahl der Möwen war, die uns umflatterten, meine Aufmerksamkeit blieb einem einzigen Ziel zugewandt. Je mehr ich diesen Menschen anschaute, desto mehr kam es mir vor, als wäre er mir vor nicht allzulanger Zeit auf irgendeine Weise begegnet. Wo das? Wie das? - Dessen konnte ich mich nicht erinnern.

Zwei bis drei Stunden vergingen bei diesem hartnäckigen Nachsuchen in meinem Gedächtnis, doch ich führte kein Resultat herbei.

Der Galeerensklave schien so sehr darauf bedacht, meinen Blick zu meiden, daß der Erfolg, den dieser Blick offenbar bei ihm hervorbrachte, mir peinlich zu werden begann; deshalb bemühte ich mich schließlich, an etwas anderes zu denken.

Doch man weiß, wie bohrend das ist, wenn man sich an etwas Bestimmtes erinnern will, ohne daß es gelingt. Unwillkürlich kam ich immer wieder darauf zurück.

In der Überzeugung, daß ich mich nicht täuschte, bestärkte mich noch der Umstand, daß, sooft ich die Augen von ihm abgewandt hatte, er jedesmal zu mir herüberblickte, was ich an seiner schnellen Bewegung feststellen konnte, mit der er den Kopf wegdrehte, sah ich wieder zu ihm.

So verging der Tag: Wir landeten einige Male. Ich war in jener Zeit damit beschäftigt, die Lebensereignisse von Murat zusammenzustellen und zu ordnen, und ein Teil dieser Ereignisse war an den Orten vorgefallen, wo wir uns befanden; bald bat ich Jadin, eine Zeichnung für mich zu entwerfen, bald wollte ich eine einfache Untersuchung der Örtlichkeit vornehmen.

Jedesmal näherte ich mich dem Aufseher, um ihn zu befragen, doch jedesmal begegnete ich dem Blick Gabriel Lamberts, der mir so demütig, so flehend vorkam, daß ich die Erläuterung, die ich verlangen wollte, auf später verschob.

Um fünf Uhr nachmittags kehrten wir zurück.

Da der Rest des Tages dem Mittagessen und der Arbeit gewidmet sein sollte, entließ ich meinen Aufseher und seine Truppe und bestellte ihn für den nächsten Morgen um acht Uhr.

Unwillkürlich konnte ich an nichts anderes denken als an diesen Menschen. Es ist uns allen zuweilen vorgekommen, daß wir in unserer Erinnerung einen Namen suchen, den wir nicht wiederfinden, und dennoch haben wir diesen Namen einst ganz genau gewußt. Dieser Name flieht gleichsam das Gedächtnis, wir haben den Klang im Ohr, die Form im Geist; ein flüchtiger Schimmer erleuchtet ihn, er will mit einem Ausruf aus unserem Mund hervor, plötzlich aber entweicht dieser Name abermals, versenkt sich wieder tiefer ins Dunkel und verschwindet ganz und gar, so daß man sich am Ende fragt, ob man ihn nicht im Traum gehört habe. Und schließlich kommt es einem vor, als müsse sich der Geist, werde er seine Forschung weiter fortsetzen, in der Finsternis verlieren und an die Grenzen des Wahnsinns gelangen.

So ging es mir während des ganzen Abends und während eines Teils der Nacht.

Nur war es seltsamerweise nichts Abstraktes, nicht ein Ton ohne Körper, was mich floh, sondern ein Mensch, den ich fünf bis sechs Stunden unter den Augen gehabt, den ich mit dem Blick hatte be-fragen können, den ich mit der Hand zu berühren imstande gewesen wäre.

Diesmal gab es wenigstens keinen Zweifel für mich: Es war weder ein Traum, den ich gehabt, noch ein Gespenst, das mir erschienen: Ich war mir der Wirklichkeit sicher und erwartete den Morgen voll Ungeduld.

Schon um sieben Uhr war ich an meinem Fenster, um die Barke kommen zu sehen.

Ich erblickte sie, als sie aus dem Hafen herausfuhr, einem schwarzen Punkt ähnlich; je näher sie kam, desto deutlicher wurde ihre Form.

Anfangs sah sie aus wie ein großer Fisch, der auf der Oberfläche des Meeres schwamm; das Ungeheuer schien mit Hilfe seiner zwölf Füße auf dem Wasser zu marschieren.

Dann unterschied man die Menschen und endlich die Züge ihrer Gesichter.

Doch bis zu diesem Punkt gelangt, suchte ich vergebens Gabriel Lambert; er fehlte, und zwei andere Sträflinge hatten ihn und seinen Gefährten ersetzt.

Ich lief zum Ufer.

Die Galeerensklaven glaubten, ich hätte Eile, mich einzuschiffen, und sprangen ins Wasser, um die Kette zu bilden; doch ich gab ihrem Wächter durch ein Zeichen zu verstehen, er möge zu mir kommen, damit ich allein mit ihm sprechen könnte.

Er kam. Ich fragte ihn, warum Gabriel Lambert nicht mitgekommen wäre.

Er antwortete mir, Lambert habe vom Dienst freigesprochen zu werden verlangt, da er von einem heftigen Fieber befallen wäre, was ihm auch auf ein ärztliches Zeugnis hin bewilligt worden sei.

Während ich mit dem Aufseher sprach, über dessen Schulter ich die Barke und die Leute, mit denen sie bemannt war, sehen konnte, zog einer von den Galeerensklaven einen Brief aus der Tasche und zeigte ihn mir.

Es war der, den ich unter dem Namen Rossignol kennengelernt hatte.

Ich begriff, daß es Gabriel möglich geworden war, mir zu schreiben, und daß es Rossignol übernommen hatte, sein Bote zu sein.

Ich erwiderte mit einer Gebärde des Einverständnisses das Zeichen, das er mir machte, und dankte dem Aufseher.

»Wünschte ihn der Herr vielleicht zu sprechen?« fragte mich der Aufseher. »In diesem Fall würde ich ihn selbstverständlich, krank oder nicht krank, morgen kommen lassen.«

»Nein«, erwiderte ich, »es ist mir gestern nur sein Gesicht aufgefallen, und als ich ihn heute nicht unter seinen Kameraden sah, erkundigte ich mich nach der Ursache seiner Abwesenheit. Es scheint mir, dieser Mensch steht über denen, mit welchen er zusammen ist.«

»Ja, ja«, sagte der Aufseher, »es ist einer von unseren Herren; er mag machen, was er will, man sieht es sogleich.«

Ich wollte meinen braven Aufseher fragen, was er unter den Worten »unsere Herren« verstünde, als ich Rossignol sah, der, während er zugleich seinen Kettengefährten nach sich zog, einen Stein aufhob und den Brief, den er mir gezeigt hatte, unter diesem Stein verbarg.

Von nun an hatte ich, wie man leicht begreift, nur noch ein Verlangen: das, diesen Brief zu lesen.

Ich entließ den Aufseher mit einer Kopfbewegung, die ihm andeutete, daß ich ihm nichts mehr zu sagen hatte, und setzte mich zu dem Stein.

Er kehrte sogleich zurück, um seinen Platz im Vorderteil der Barke wieder einzunehmen.

Während dieser Zeit hob ich den Stein auf und bemächtigte mich des Briefes, und seltsamerweise nicht ohne eine gewisse innere Bewegung.

Ich begab mich wieder in meine Wohnung.

Dieser Brief war auf ein grobes Schulpapier geschrieben, aber sauber und mit einer gewissen Zierlichkeit zusammengelegt.

Die Schrift war klein, fein und von einem Charakter, der einem Schreiber von Profession Ehre gemacht hätte.

Der Brief war überschrieben: »An Herrn Alexandre Dumas.«

Dieser Mensch hatte mich also auch erkannt.

Rasch öffnete ich den Brief und las wie folgt:

»Mein Herr,

ich habe gestern Gesehen, wie ser Sie sich anstrenkten, Mich zu erkennen, und Sie mußten sehen, wie ser ich Mich anstrengte, nicht erkant zu werden.

Sie begreifen, daß unter allen Temütigungen, denen Wir preisgegeben sind, eine der Größten diejenige ist, daß Wir uns, Unserer Würde entgleidet, wie wir dies sind, einem Manne gegenüber befinden, den wir in der Gesellschaft getroffen haben.

Ich habe Mir also das Fieber gegeben, um mir heute diese Temütigung zu ersparen.

Sollten sie einiges Mitleid für einen Unglücklichen empfinden, der, Er weiß es wohl, nicht einmal ein Recht auf Mitleid hat, so verlangen Sie nicht, mein Herr, daß Ich in Ihren Dienst zurückkehre; ich wage es sogahr, Mir noch mehr von Ihnen zu erbitten: Richten Sie keine Frage an Mich über meine Person.

Im Austausch für diese Knade, um deren Bewilligung ich Sie auf den Knien anflehe, gebe ich Ihnen Mein Ehrenwort, daß Ich Ihnen, ehe Sie Toulon verlassen, den Namen mitteile, unter dem Sie Mich getroffen haben; mit diesem Namen werden Sie alles wissen, was Sie zu wissen wünschen.

Haben Sie die Giete, die Bitte desjenigen in Erwägung zu ziehen, der nicht den Mut hat, Sich zu nennen

Ihren ergebensten Diener Gabriel Lambert«

Wie die Adresse, so war auch der Brief mit der schönsten englischen Handschrift geschrieben; er zeigte eine gewisse Gewandtheit des Stils, obgleich die orthographischen Fehler, die er enthielt, den Mangel an aller Erziehung bezeichneten.

Die Unterschrift war mit einem von jenen verwickelten Federzügen geschmückt, wie man sie nur noch am Ende des Namens gewisser Dorfnotare findet.

Es war eine seltsame Mischung von origineller Gewöhnlichkeit und angeeigneter Eleganz.

Dieser Brief sagte mir im Augenblick nichts, aber er versprach mir für die Zukunft alles, was ich zu wissen wünschte.

Daher fühlte ich mich von Mitleid erfaßt für diese Natur, die erhabener oder, wenn man will, niedriger war als die der anderen.

Lag nicht ein Rest von Größe in seiner Demütigung?

Ich beschloß also, ihm zu bewilligen, was er von mir forderte, und sagte dem Aufseher, weit entfernt zu wünschen, daß man mir Gabriel Lambert zurückgeben würde, hätte ich selbst darum gebeten, mich von diesem Menschen zu befreien, dessen Gesicht mir mißfiele.

Dann öffnete ich den Mund nicht mehr, und niemand sprach ein Wort von der Sache.

Ich verweilte noch vierzehn Tage in Toulon, und während dieser vierzehn Tage blieben die Barke und ihre Mannschaft in meinem Dienst.

Nur kündigte ich im voraus meine Abreise an.

Ich wünschte, daß diese Kunde zu Gabriel Lambert gelangen möge, denn ich wollte sehen, ob er sich des Ehrenworts, das er mir gegeben, erinnern würde.

Der letzte Tag verging, ohne daß mir irgend etwas andeutete, mein Mann schicke sich auch nur im entferntesten an, sein Versprechen zu halten, und ich gestehe, ich machte mir meine Diskretion schon zum Vorwurf, als ich, während ich von meinen Leuten Abschied nahm, Rossignol einen Blick auf den Stein werfen sah, unter dem er Lamberts Brief versteckt hatte.

Dieser Blick war so bezeichnend, daß ich ihn auf der Stelle begriff, und ich antwortete durch eine Gebärde, die sagen wollte: Es ist gut.

Während diese Unglücklichen, verzweifelt darüber, daß sie mich verlassen sollten - die vierzehn Tage, die sie in meinem Dienste zugebracht, waren Festtage für sie gewesen -, davonfuhren, hob ich den Stein auf und fand darunter eine Karte.

Auf dieser Karte las ich: Vicomte Henri de Faverne.

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