9. Kapitel Eine Ecke des Schleiers

Drei Monate waren vergangen, da fand ich unter meiner Morgenkorrespondenz folgendes kurze Schreiben:

»Mein libber Doktor,

Ich bin waraftig Krank und bedarf ernstlig Ihrer Wissenschaft; komen Sie heute zu Mir, wenn Sie ohne Groll gegen Mich sind.

Ihr ergebenster

Henri Vicomte de Faverne

Rue Taitbout Nr. ii«

Dieser Brief, den ich wortgetreu mit seinen orthographischen Fehlern wiedergebe, bestätigte die Ansicht, die ich von dem Mangel an Erziehung meines Patienten hatte. War er, wie er sagte, in Guadeloupe geboren, so durfte man sich übrigens weniger darüber wundern. Man weiß, wie sehr die Erziehung der Pflanzer vernachlässigt wird.

Doch andererseits hatte der Vicomte de Faverne weder die kleinen Hände noch die kleinen Füße, noch die schlanke, anmutige Gestalt, noch die reizende Sprache der Menschen aus den Tropenländern, und mir war es klar, daß ich es mit einem durch den Aufenthalt in der Hauptstadt nur oberflächlich abgehobelten Mann aus der Provinz zu tun hatte.

Da er indessen wirklich krank sein mochte, begab ich mich zu ihm. Ich trat ein und fand ihn in einem mit veilchenblauen und orangefarbenem Damast ausgeschlagenen Boudoir.

Zu meinem großen Erstaunen war dieser Winkel weit geschmackvoller als die übrige Wohnung.

Faverne lag halb auf einem Sofa, in einer sichtbar einstudierten Haltung, und war mit einer seidenen Hose und einem glänzenden Schlafrock bekleidet; zwischen seinen dicken Fingern schob er ein reizendes Flakon wertvollster Arbeit hin und her.

»Wie gut und freundlich ist es von Ihnen, mich zu besuchen, Doktor«, sagte er, indem er halb aufstand und mir durch ein Zeichen andeutete, ich möge mich setzen. »Übrigens habe ich Sie nicht belogen, ich bin furchtbar leidend.«

»Was haben Sie?« fragte ich. »Sollte es Ihre Wunde sein?«

»Nein, Gott sei Dank, es ist jetzt nicht mehr davon zu sehn, als wenn es ein Blutegelstich wäre. Nein, ich weiß nicht, Doktor, wenn ich nicht befürchtete, Sie könnten über mich spotten, würde ich sagen, ich habe Vapeurs[4]

Ich lächelte.

»Ja, nicht wahr«, fuhr er fort, »das ist eine Krankheit, die Sie ausschließlich für Ihre Schönen aufbewahren. Doch es ist darum nicht weniger wahr, daß ich leide - daß ich sehr leide, und zwar ohne sagen zu können, woran ich leide noch wie ich leide.«

»Teufel, das wird gefährlich. Sollte es Hypochondrie sein?«

»Wie nennen Sie das, Doktor?«

Ich wiederholte das Wort, doch ich bemerkte, daß es de Faverne unbekannt war. Inzwischen nahm ich seine Hand und legte zwei Finger auf die Arterie.

Er hatte in der Tat einen sehr aufgeregten Puls.

Während ich die Pulsschläge zählte, läutete es; der Baron zuckte zusammen, und die Pulsschläge beschleunigten sich.

»Was haben Sie?« fragte ich.

»Nichts«, antwortete er. »Das ist nur stärker, weil ich ... jedesmal, wenn ich eine Klingel höre, bebe ich, und dann muß ich erbleichen. Ah! Doktor, ich sage Ihnen, ich bin sehr krank.«

Der Vicomte war in der Tat leichenblaß geworden.

Ich begann zu glauben, daß er nicht übertrieb und daß er in Wirklichkeit sehr litt; nur war ich überzeugt, daß diese physische Erschütterung eine psychische Ursache hatte.

Ich schaute ihn scharf an, er senkte die Augen, und der Blässe, die sein Gesicht bedeckt hatte, folgte eine lebhafte Röte.

»Ja«, sagte ich, »Sie leiden offenbar.«

»Nicht wahr, Doktor?« rief er. »Ich habe schon zwei Ihrer Kollegen zu Rate gezogen; sie waren so sonderbar, daß ich es nicht wagte, zu Ihnen zu schicken, um Sie rufen zu lassen. Die Dummköpfe lachten, als ich ihnen sagte, ich leide an den Nerven.«

»Sie leiden« versetzte ich, »doch es ist keine körperliche Ursache, die Sie leiden macht; Sie haben irgendeinen psychischen Schmerz, eine ernste Ursache vielleicht.«

Er bebte.

»Und welche Ursache sollte ich haben? Alles geht im Gegenteil auf das beste. Meine Heirat . ah, Sie wissen? Meine Heirat mit Fräulein de Macartie, die wegen Ihres Herrn Olivier beinahe in die Brüche gegangen wäre .«

»Ja; nun?«

»Sie wird in vierzehn Tagen stattfinden; das erste Aufgebot ist verkündet. Übrigens ist er für seine Behauptungen sehr bestraft worden und hat sich bei mir entschuldigt.«

»Wieso?«

»Germain«, sagte der Vicomte, »geben Sie mir das Portefeuille, das dort auf der Ecke des Kamins liegt.«

Der Bediente gehorchte, de Faverne nahm das Portefeuille und öffnete es.

»Sehen Sie«, sagte er mit einem leichten Zittern in der Stimme, »hier ist mein Geburtsschein; in Pointe-a-Pitre geboren, wie Sie sehen; ferner ist hier ein Zeugnis von Herrn de Malpas, in dem bestätigt wird, daß mein Vater einer der reichsten Grundeigentümer in Guadeloupe ist.

Diese Papiere sind Herrn Olivier vorgelegt worden, und da er die Unterschrift des Gouverneurs kannte, mußte er gestehen, die Unterschrift wäre echt.«

Während er mir diese Papiere zeigte, steigerte sich seine Aufregung von Sekunde zu Sekunde.

»Ihr Leiden muß heftiger geworden sein?« fragte ich ihn.

»Warum soll ich nicht leiden! Man verletzt mich, man verfolgt mich, ich werde verleumdet. Ich muß ständig damit rechnen, eines Verbrechens angeklagt zu werden. O ja, Doktor, Sie haben recht«, fuhr er mit einer gewissen Anstrengung fort, »ich leide, ich leide ungemein.«

»Sie müssen sich beruhigen.«

»Mich beruhigen, das ist leicht gesagt! Bei Gott, wenn ich mich beruhigen könnte, wäre ich geheilt.

Hören Sie, es gibt Augenblicke, wo meine Nerven starr werden, als ob sie zerspringen wollten, wo meine Zähne sich aufeinanderpressen, wo ich ein Gesumm im Kopf höre, als ob alle Glocken von Notre-Dame in mein Ohr schallten; dann ist es mir, als müßte ich ein Narr werden. - Doktor, was ist der sanfteste Tod?«

»Warum fragen Sie das?«

»Weil mich zuweilen die Lust erfaßt, mich zu töten.«

»Ich bitte Sie.«

»Doktor, man sagt, wenn man sich mit Blausäure vergifte, sei es in einem Augenblick geschehen.«

»Das ist wirklich der schnellste Tod, den man kennt.«

»Doktor, verschaffen Sie mir für alle Fälle ein Fläschchen Blausäure.«

»Sie sind ein Narr.«

»Hören Sie, ich bezahle Ihnen dafür, was Sie wollen, tausend Franc, sechstausend, zehntausend, wenn Sie dafür bürgen, daß man stirbt, ohne zu leiden.«

Ich erhob mich.

»Nun, wie?« sprach er, indem er mich zurückhielt.

»Ich bedaure, mein Herr, daß Sie mir unablässig Dinge sagen, die nicht nur meine Besuche abkürzen, sondern auch eine längere Verbindung mit Ihnen unmöglich machen.«

»Nein, nein, bleiben Sie, ich bitte Sie, sehen Sie nicht, daß ich Fieber habe und daß nur das Fieber schuld ist, wenn Sie mich so sprechen hören?«

Er läutete, derselbe Bediente von vorhin erschien.

»Germain, ich habe Durst«, sagte de Faverne. »Geben Sie mir etwas zu trinken.«

»Was wünschen der Herr Vicomte?«

»Sie werden etwas mit mir nehmen, nicht wahr?«

»Nein, ich danke«, antwortete ich.

»Gleichviel«, fuhr er fort, »bringen Sie zwei Gläser und eine Flasche Rum.«

Germain ging hinaus.

Nach einigen Augenblicken kehrte er mit einem kleinen Tablett zurück, auf dem die verlangten Gegenstände standen; ich bemerkte nur, daß die Gefäße, statt Likörgläser zu sein, Gläser waren, aus denen man Bordeauxwein zu trinken pflegt.

Der Vicomte füllte sie beide, doch seine Hand zitterte so stark, daß mindestens genausoviel Rum, wie in den Gläsern war, verschüttet wurde.

»Kosten Sie das«, sagte er. »Es ist vortrefflicher Rum; ich habe ihn selbst von Guadeloupe mitgebracht; wo ich Ihrem Herrn Olivier d'Hornoy zufolge nie gewesen sein soll.«

»Ich danke Ihnen, aber ich trinke keinen Alkohol.«

Er nahm eines von den beiden Gläsern.

»Wie«, sagte ich, »Sie wollen das trinken?« »Gewiß.«

»Wenn Sie dieses Leben fortsetzen, werden Sie bis auf die Flanellweste verbrennen, die Ihre Brust bedeckt.«

»Glauben Sie, daß man sich töten kann, wenn man viel Rum trinkt?«

»Nein, aber man kann sich eine Magen- und Darmentzündung zuziehen, an der man eines schönen Tages nach langen furchtbaren Schmerzen stirbt.«

Er setzte das Glas auf die Platte, ließ den Kopf auf die Brust und die Hände auf die Knie sinken und murmelte mit einem Seufzer: »Doktor, Sie erkennen also, daß ich sehr krank bin?«

»Ich sage nicht, Sie sind krank, ich sage nur, Sie leiden.«

»Ist das nicht dasselbe?«

»Nein.«

»Und was raten Sie mir? Die Medizin muß für jedes Leiden ihre Mittel haben; es wäre sonst nicht der Mühe wert, die Ärzte so teuer zu bezahlen.«

»Sie sagen das nicht gegen mich?« erwiderte ich lachend.

»O nein! Sie sind in allen Dingen ein Muster.«

Er nahm das Glas Rum und trank es, ohne an das zu denken, was er tat. Ich hielt ihn nicht zurück, denn ich wollte sehen, welche Wirkung dieses brennende Getränk auf ihn hervorbrächte.

Es schien gar keine Wirkung hervorzubringen; es war, als hätte er nur ein Glas Wasser geleert.

Ich zweifelte nicht mehr daran, daß sich dieser Mensch oft durch den Genuß alkoholischer Getränke zu betäuben versuchte.

Nach einem Augenblick schien er in der Tat wieder einige Energie zu gewinnen.

»Warum«, sagte er, das Schweigen unterbrechend und seine eigenen Gedanken beantwortend, »warum quäle ich mich eigentlich so sehr? Bah, ich bin jung, ich bin reich, ich genieße das Leben, das wird dauern, solange es kann.«

Er nahm ein zweites Glas und leerte es wie das erste.

»Sie raten mir also nichts, Doktor?«

»Doch; ich rate Ihnen, Vertrauen zu mir zu haben und mir mitzuteilen, was Sie quält.«

»Sie glauben immer noch, daß ich etwas habe, was ich nicht zu sagen wage?«

»Ich sage Ihnen, daß Sie mir ein Geheimnis verbergen.«

»Ein wichtiges?« versetzte er mit einem gezwungenen Lächeln.

»Ein furchtbares.«

Er erbleichte und nahm mechanisch die Flasche beim Hals, um sich ein drittes Glas einzuschenken.

»Ich habe Ihnen gesagt, Sie werden sich töten«, sprach ich.

Er sank ein wenig zurück und stützte seinen Kopf an das Täfelwerk seines Zimmers.

»Ja, Doktor, ja, Sie sind ein Genie; ja, Sie haben es sogleich erraten. Sie, während die anderen nichts sahen als Feuer; ja, ich habe ein Geheimnis, und wie Sie sagen, ein furchtbares Geheimnis, das mich sicherer töten wird als der Rum, den Sie mich zu trinken hindern, ein Geheimnis, das ich stets irgend jemand anzuvertrauen Lust hatte und das ich Ihnen sagen würde, wenn Sie, wie die Beichtväter, das Gelübde der Verschwiegenheit abgelegt hätten. Doch urteilen Sie selbst: Wenn dieses Geheimnis mich schon so sehr quält, solange ich nur allein es kenne, wie wäre es erst, wenn ich zu meiner ewigen Marter wüßte, es wäre noch irgendeinem anderen Menschen bekannt?«

Ich stand auf.

»Mein Herr«, sagte ich, »ich habe kein Geständnis von Ihnen verlangt, und ich habe Ihnen keine Mitteilung gemacht; Sie ließen mich als Arzt kommen, und ich sagte Ihnen, ein Arzt könnte Ihren Zustand nicht bessern.

Bewahren Sie Ihr Geheimnis — das steht ganz bei Ihnen, mag dieses Geheimnis nun auf Ihrem Herzen oder auf Ihrem Gewissen lasten. - Gott befohlen, Herr Vicomte.«

Er ließ mich weggehen, ohne mir zu antworten, ohne eine Bewegung zu machen, mich zurückzuhalten, ohne mich zurückzurufen, nur konnte ich, als ich mich umwandte, um die Tür zu schließen, sehen, daß er die Hand zum drittenmal nach der Rumflasche, seiner unseligen Trösterin, ausstreckte.

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