5. Kapitel Die Allee de la Muette

Während dieser Zeit erhob sich ein bleicher, kränklicher Morgen, und man konnte gerade das im Nebel verlorene Bois de Boulogne wahrnehmen.

Ein Wagen fuhr vor dem unsern, und da er die Porte Maillot wählte, zweifelten wir nicht mehr daran, es wäre der de Favernes. Wir befahlen also unserm Kutscher, ihm zu folgen; er wandte sich zur Allee de la Muette, wo er, nachdem er ungefähr ein Drittel der Allee durchfahren hatte, anhielt; der unsrige holte ihn ein und hielt ebenfalls an; wir stiegen aus.

Heimlich betrachtete ich Olivier.

Er hatte sich völlig verändert.

Die nervöse Bewegung, von der er am Tage vorher erschüttert worden war, hatte sich gänzlich verloren, und er war wieder kalt und ruhig; ein Lächeln äußerster Verachtung bog seinen Mund, und eine leichte Falte zwischen den Augenbrauen war das einzige Zeichen für eine - wenn es überhaupt eine war - innere Bewegung; nicht ein Wort kam aus seinem Mund.

Sein Widersacher bot den entgegengesetzten Anblick; er sprach laut, lachte geräuschvoll und gebärdete sich wild und aufgeregt; bei alledem war sein Gesicht bleich und zusammengezogen; von Zeit zu Zeit preßte ihm ein Nervenkrampf die Brust und zwang ihn zu gähnen.

Wir näherten uns seinen zwei Zeugen, die genötigt waren, ihm zu sagen, er möge sich entfernen.

Dann machte er pfeifend einige Schritte rückwärts und stieß das Stöckchen, das er in der Hand hielt, so heftig in die Erde, daß es zerbrach.

Die Vorbereitungen zum Zweikampf waren leicht zu bewerkstelligen. Herr de Faverne hatte die Stunde bezeichnet, Olivier hatte die Waffen gewählt, und damit war jede Versöhnung unmöglich.

Es handelte sich nur noch darum, zu wissen, ob der Kampf nach einer ersten Verwundung aufhören oder ob man ihm einen Verlauf nach Belieben der Kämpfenden lassen sollte.

Olivier hatte sich für das letztere ausgesprochen; es war das Recht des Beleidigten, das zu tun. Nichts sollte die Degen aufhalten als der Fall eines der beiden Gegner.

Die Zeugen stritten einen Augenblick, waren aber genötigt nachzugeben; wir kannten weder den einen noch den anderen; es waren Freunde Henri de Favernes, und abgesehen von ihrem schneidenden Ton und ihren Unteroffiziersmanieren, fanden wir sie ziemlich vertraut mit den Funktionen, die sie zu erfüllen hatten.

Ich reichte ihnen die Degen, die sie dann untersuchten.

Während dieser Untersuchung kehrte ich zu Olivier zurück.

Er war damit beschäftigt, auf einen heraldischen Fehler hinzuweisen, der sich in das ohne Zweifel sich selbst verliehene Wappen seines Gegners eingeschlichen hatte: Der Vicomte führte Farbe auf Farbe.

Als mich Olivier sah, nahm er mich beiseite.

»Hören Sie«, sagte er, »hier sind zwei Briefe, der eine für meine Mutter, der andere für ...«

Er sprach diesen Namen nicht aus, sondern wies auf die Adresse des Briefes: Es war der einer Frau, wohl derjenigen, die er liebte und zu heiraten im Begriff stand.

»Man weiß nicht, was geschehen kann«, fuhr er fort. »Sollte mir ein Unglück widerfahren, so lassen Sie diesen Brief zu meiner Mutter bringen; den anderen, lieber Freund, übergeben Sie nur zu eigenen Händen.«

Dann, als ich wahrnahm, daß er immer ruhiger wurde, je näher der Augenblick des Zweikampfes kam, sagte ich zu Olivier: »Mein lieber Olivier, ich beginne zu glauben, daß dieser Mensch unrecht gehabt hat, Sie zu beleidigen, und daß er seine Unklugheit teuer bezahlen wird.«

»Ja«, sprach der Doktor, »besonders wenn Ihre Kaltblütigkeit nicht nur gespielt ist.«

Ein Lächeln schwebte über Oliviers Lippen.

»Doktor«, sagte er, »wie oft schlägt in der Minute der Puls eines Menschen, der gesund ist und keinen Grund hat, aufgeregt zu sein?«

»Vierundsechzig- oder fünfundsechzigmal«, antwortete Fabien.

»Fühlen Sie meinen Puls, Doktor«, sagte Olivier, indem er Fabien den Arm hinhielt.

Fabien zog die Uhr, drückte einen Finger auf die Arterie und sprach nach einer Minute.

»Sechsundsechzig Pulsschläge. Sie beherrschen sich auf eine wunderbare Weise; entweder ist Ihr Gegner ein heiliger Georg, oder er ist ein toter Mann.«

»Mein lieber Olivier«, sprach Alfred, sich umwendend, »bist du bereit?«

»Ich?« versetzte Olivier. »Ich warte.«

»Nun, meine Herren«, sagte er, »nichts hält uns ab, den Kampf beginnen zu lassen.«

»Ja, ja«, rief Herr de Faverne, »ja, geschwind, geschwind, zum Teufel!«

Olivier schaute ihn mit einem verächtlichen Lächeln an und zog, als er sah, daß de Faverne seinen Rock und seine Weste von sich warf, diese Kleidungsstücke auch aus.

Da zeigte sich ein neuer Unterschied zwischen diesen zwei Männern.

Olivier war auf das zierlichste gekleidet; er hatte vollständige Toilette gemacht, um sich zu schlagen; sein Hemd war vom feinsten Batist, glänzend weiß und peinlich genau gefältelt; sein Bart war frisch geordnet, und seine Haare waren frisiert, als ob sie eben von dem Eisen eines Kammerdieners behandelt worden wären.

Das Haar Herrn de Favernes deutete im Gegensatz dazu auf eine bewegte Nacht.

Man sah, daß er seit dem vorhergegangenen Tag nicht frisiert worden war und daß diese Frisur durch die Unruhe der Nacht sehr in Unordnung geraten war; sein Bart war lang, und sein Hemd war sicherlich dasselbe, in dem er sich abends niedergelegt hatte.

»Dieser Mensch ist offenbar ein Bauernkerl«, murmelte Olivier.

Ich gab ihm einen von den Degen, während man den andern seinem Gegner reichte. Olivier nahm ihn bei der Klinge, und es war, als schaute er ihn gar nicht an; man hätte glauben können, er hielte ein Spazierstöckchen in der Hand.

Herr de Faverne nahm dagegen den seinen am Griff und peitschte zwei- oder dreimal die Luft mit der Klinge; dann umwickelte er die Hand mit einem seidenen Taschentuch, um den Degen nicht so leicht verlieren zu können.

Olivier zog jetzt erst seine Handschuhe aus, hielt es aber für unnötig, sich der Vorsichtsmaßregeln zu bedienen, die sein Gegner getroffen hatte; ich gewahrte nun seine Hand; sie war weiß und zart wie eine Frauenhand.

»Nun! Mein Herr«, sagte Herr de Faverne. »Nun?«

»Ich warte«, antwortete Olivier.

»Vorwärts, meine Herren«, rief Alfred.

Die Gegner, die zehn Schritte voneinander entfernt waren, näherten sich jetzt; ich bemerkte, daß das Gesicht von Olivier immer sanfter wurde und immer mehr lächelte, je näher er seinem Gegner kam.

Das Gesicht seines Feindes nahm im Gegenteil einen Charakter von Wildheit an, wie ich ihn so ausgeprägt nicht für möglich gehal-ten hätte; sein Auge schien blutunterlaufen, und seine Gesichtshaut war aschfarben.

Ich mußte mich nun auch zu Oliviers Meinung bekennen: Dieser Mensch hatte Angst vor dem Duell.

In dem Augenblick, wo die Degen sich berührten, öffneten sich seine Lippen und zeigten krampfhaft zusammengepreßte Zähne.

Beide legten sich aus; doch so einfach, so leicht und zierlich die Stellung Oliviers war, so steif und eckig, obgleich in allen Regeln der Kunst, war die seines Gegners.

Man sah, daß dieser Mensch in einem gewissen Alter fechten gelernt hatte, während der andere seit seiner Kindheit mit Rapieren gespielt hatte.

Herr de Faverne begann den Angriff: Seine ersten Stöße waren lebhaft, geschlossen, genau; als er aber diese Stöße getan hatte, hielt er inne, als wäre er erstaunt über den Widerstand seines Gegners. Olivier hatte in der Tat seine Angriffe mit derselben Leichtigkeit pariert, wie er das bei einer Übung im Fechtsaal getan haben dürfte.

Herr de Faverne wurde noch bleicher, und Oliver lächelte noch mehr.

Herr de Faverne veränderte seine Auslage, bog die Knie, spreizte die Beine wie die italienischen Fechtmeister und wiederholte dieselben Stöße, jedoch indem er sie mit jenen Schreien begleitete, die, um ihre Gegner zu erschrecken, die Regimentsprofosse auszustoßen pflegten.

Doch dieser veränderte Angriff hatte keinen Einfluß auf Olivier; ohne einen Schritt zurückzuweichen, ohne auch nur einen Fußbreit seinen Standpunkt zu ändern, ohne eine einzige von seinen Bewegungen zu beschleunigen, kreuzte sich sein Degen mit dem seines Gegners, ja, Olivier kam ihm manchmal sogar zuvor, als hätte er gewußt, welche Stöße de Faverne führen wollte.

Er besaß in der Tat, wie er selbst sagte, eine furchtbare Kaltblütigkeit.

Der Schweiß der Ohnmacht und der Müdigkeit floß von der Stirn de Favernes; Hals- und Armmuskeln schwollen an wie Stricke; seine Hand ermattete sichtbar, und es war sicher, daß sein Degen, wenn er nicht durch das seidene Tuch am Handgelenk befestigt gewesen wäre, bei dem ersten, etwas lebhafteren Angriff seines Gegners aus der Hand fallen würde.

Olivier dagegen schien mit seinem Degen immer noch zu spielen.

Wir schauten schweigend diesem furchtbaren Spiel zu, dessen Ausgang sich leicht erraten ließ. Wir waren uns dessen gewiß, daß de Faverne ein verlorener Mann war.

Nach einem Augenblick wurde ein noch bezeichnenderes Lächeln auf den Lippen Oliviers sichtbar. Er machte ein paar Scheinstöße, dann zuckte ein Blitz in seinen Augen; er fiel weit aus und stieß de Faverne den Degen durch den Leib.

Statt die in solchen Fällen gewöhnliche Vorsichtsmaßregel zu gebrauchen, das heißt, statt sich einen Schritt rückwärts zu werfen, senkte Olivier seinen blutigen Degen und wartete.

Herr de Faverne stieß einen Schrei aus, fuhr mit seiner linken Hand nach der Wunde, schüttelte die rechte Hand, um sie vom Degen zu befreien, der ihn, an sein Handgelenk gebunden, wie eine Keule belastete, wurde völlig leichenblaß, wankte einen Augenblick und fiel ohnmächtig nieder.

Ohne ihn ganz aus dem Auge zu verlieren, wandte sich Olivier zu Fabien um und sagte mit gewöhnlichem Ton, in dem sich nicht die geringste Aufregung erkennen ließ: »Nun Doktor, das übrige geht, glaube ich, Sie an.«

Fabien war schon bei dem Verwundeten. Der Degen war ihm nicht nur durch den Leib gedrungen, sondern er hatte auch das Hemd im Rücken durchlöchert, so tief war der Stich gewesen; das Blut haftete auf mehr als zehn Zoll an der Klinge.

»Hier, mein Lieber«, sagte Olivier zu mir, »hier ist Ihr Degen; es ist erstaunlich, wie gut er mir in der Hand liegt. Bei wem haben sie ihn gekauft?«

»Bei Devismes.«

»Haben Sie die Güte, mir einen ähnlichen zu bestellen?«

»Behalten Sie diesen; Sie bedienen sich seiner zu gut, als daß ich ihn wieder von Ihnen zurücknehmen sollte.«

»Ich danke, es wird mir Vergnügen machen, ihn zu besitzen.« Dann, sich gegen den Verwundeten umwendend: »Ich glaube, ich habe ihn getötet, das würde mir leid tun; ich weiß nicht, warum es mir vorkommt, als müßte dieser Unglückliche nicht durch die Hand eines ehrlichen Mannes sterben.«

Da wir nun nichts mehr hier zu tun hatten, da auch Herr de Faverne in den Händen Fabiens, das heißt eines der geschicktesten Ärzte von Paris war, stiegen wir wieder in unseren Wagen, während man den Verwundeten in den seinen brachte. Zwei Stunden später erhielt ich eine herrliche türkische Pfeife, die mir Olivier als Gegengeschenk für meinen Degen schickte.

Am Abend erkundigte ich mich persönlich nach Herrn de Faverne; am anderen Tag schickte ich meinen Bedienten, am dritten Tag meine Karte; als ich an diesem dritten Tag erfuhr, daß er durch die Sorge Fabiens außer Gefahr war, hörte ich auf, mich um ihn zu kümmern.

Zwei Monate danach empfing ich meinerseits seine Karte. Dann unternahm ich eine Reise, und ich sah ihn nicht mehr bis zu dem Tag, an dem ich ihn im Bagno fand. Olivier hatte sich über die Zukunft dieses Menschen nicht getäuscht.

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