7. Kapitel Der Kranke


Ich verließ das Haus. Fünf Minuten später war ich bei einer vortrefflichen Krankenwärterin, die sich sofort, nachdem ich ihr Instruktionen gegeben, in die Wohnung Henri de Favernes verfügte.

Meinem Versprechen gemäß kehrte ich zur Mittagsstunde zurück. Er schlief noch.

Ich hatte einen Augenblick den Gedanken, erst meine anderen Krankenbesuche zu erledigen und danach wiederzukommen. Doch er hatte der Wärterin so sehr empfohlen, man möchte mich, wenn ich käme, bitten zu warten, bis er erwacht wäre, so daß ich mich in den Salon setzte, auch auf die Gefahr hin, eine halbe Stunde von der einem Arzt stets so kostbaren Zeit zu verlieren.

Während ich dasaß und wartete, warf ich einen Blick umher und versuchte, indem ich die Gegenstände seiner Umgebung betrachtete, mir ein Bild von dem Menschen zu machen, den ich behandelte.

Beim ersten Anblick erweckten alle diese Gegenstände den Anschein von Eleganz; wenn man sie aber genauer betrachtete, erkannte man das Gepräge einer geschmacklosen Kostbarkeit: Die Teppiche waren schreiend bunt und gehörten zu den größten, welche die Magazine von Sallandrouze auf Lager haben, und sie waren auch nicht auf die Farbe der Tapeten und die der Möbel abgestimmt.

Überall herrschte Gold vor. Die Türsimse und die Zimmerdecke waren vergoldet, goldene Fransen hingen an den Vorhängen, und die

Tapete verschwand unter der Menge der goldenen Rahmen, welche die Wände bedeckten und Stiche zu zwanzig Franc oder schlechte Kopien von Meistergemälden enthielten, die man dem Käufer ohne Zweifel als Originale verkauft hatte. Vier Etageren[3] standen in den vier Ecken des Salons; doch mitten unter sehr kostbaren chinesischen Gefäßen spreizten sich geschmacklose Elfenbeinfiguren von Dieppe und moderne Porzellane von so plumper Arbeit, daß man nicht im entferntesten auf den Gedanken gekommen wäre, sie hätten sich hier als wertvolle sächsische Figuren eingeschlichen.

Die Pendeluhr und die Kandelaber waren von demselben Geschmack, und ein Tisch, beladen mit prachtvoll eingebundenen Büchern, vervollständigte den Eindruck; sie ergaben bestimmt einen richtigen Querschnitt von dem, was der Herr des Hauses gewöhnlich las.

Alles war neu und schien vor drei oder vier Monaten gekauft worden zu sein.

Ich vollendete meine prüfende Betrachtung, die mich nichts Neues lehrte, mich wohl aber in der Meinung bestätigte, daß ich mich bei einem erst vor kurzem Reichgewordenen von sehr mangelhaftem Geschmack befand - ich hatte schon viele solcher Wohnungen gesehen -, als die Wärterin eintrat und mir meldete, der Kranke sei soeben erwacht.

Ich ging sogleich aus dem Salon in das Schlafzimmer.

Hier wurde meine ganze Aufmerksamkeit durch den Kranken in Anspruch genommen.

Beim ersten Blick bemerkte ich jedoch, daß sich sein Zustand nicht verschlimmert hatte, sondern daß es ihm eher besser gehen mußte.

Ich beruhigte ihn über seinen Zustand, denn das Fieber, das ihn schüttelte, steigerte seine Angst auf einen Grad, der bei einem Mann schon peinlich war. Wie hatte dieser so schwache Mensch den Mut gehabt, einen Mann zu beleidigen, der wegen der Leichtigkeit, mit der er den Degen handhabte, so bekannt war wie Olivier, und wie kam es, daß er, nachdem er ihn beleidigt hatte, sich auf dem Kampfplatz benahm, wie er es getan?

Es war dies ein Geheimnis, dem entweder äußerste Berechnung oder im Gegenteil ungezügelter Zorn zugrunde liegen mußte. Ich dachte übrigens zuversichtlich, dies alles werde sich eines Tages für mich aufklären, denn einem Arzt bleiben Geheimnisse dieser Art nur selten verborgen.

Minder beunruhigt durch seinen Zustand, konnte ich nun auch seine Person prüfen: Sie bestand wie seine Wohnung aus den widersprüchlichsten Einzelheiten.

Alles, was durch Äußerlichkeiten einen aristokratischen Anstrich bekommen konnte, hatte einen gewissen eleganten Charakter angenommen: seine aschblonden Haare waren nach der Mode geschnitten, sein spärlicher Backenbart war regelmäßig behandelt.

Doch die Hand, die er mir reichte, damit ich den Puls fühlte, war plump und derb; die Sorge, die er seit einiger Zeit darauf verwandt zu haben schien, hatte davon noch nichts genommen; seine Nägel waren schlecht geformt und zernagt, und die Stiefel, die vor seinem Bett standen, zeigten, daß die Füße genauso plump wie die Hände waren.

Der Verwundete, wie gesagt, fieberte, aber dennoch verlieh nicht dieses Fieber seinen Augen einen ganz bestimmten Ausdruck; sie hefteten sich, wie ich bemerkte, nie unmittelbar auf einen Menschen oder auf eine Sache. Dagegen war seine Rede außerordentlich heftig und schnell.

»Sie hier, mein lieber Doktor«, sagte er. »Nun, Sie sehen, ich bin noch nicht tot, und Sie sind ein großer Prophet; doch bin ich außer Gefahr? Dieser verfluchte Degenstich! Er hat gut getroffen. Er bringt also sein Leben mit Fechten zu, dieser Raufer, dieser Verleumder, dieser elende Olivier!«

Ich unterbrach ihn.

»Verzeihen Sie«, sagte ich, »ich bin der Arzt und der Freund von Herrn d'Hornoy, ihm folgte ich auf den Kampfplatz und nicht Ihnen.

Ich kenne Sie erst seit heute morgen, mein Herr, und d'Hornoy kenne ich seit zehn Jahren. Sie werden also begreifen: Wenn Sie weiter fortfahren, ihn anzugreifen, muß ich Sie bitten, sich an einen meiner Kollegen zu wenden.«

»Wie, Doktor«, rief der Verwundete, »Sie würden mich in dem Zustand, in dem ich mich befinde, verlassen? Das wäre gräßlich. Abgesehen davon, daß Sie wenige Kunden finden dürften, die Sie bezahlen werden wie ich.«

»Mein Herr!«

»O ja, ich weiß, ihr gebt euch alle den Anschein der Uneigennützigkeit; doch dann kommt der gewisse Punkt, und ihr wißt eure Rechnung gut aufzusetzen.«

»Es ist möglich, mein Herr, daß man einigen meiner Kollegen diesen Vorwurf machen kann; doch ich, was mich betrifft, werde Ihnen, indem ich meine Besuche nicht über das Nötige ausdehne, beweisen, daß die Habgier, die Sie meinen Kollegen vorwerfen, nicht mir vorzuwerfen ist.«

»Doktor, Sie ärgern sich!«

»Nein, ich erwidere nur auf das, was Sie mir sagen.«

»Sie müssen das nicht auf die Goldwaage legen, was ich sage; Sie wissen, wir Edelleute haben zuweilen ein zu leichtes Wort; verzeihen Sie mir also.«

Ich verbeugte mich, er reichte mir die Hand.

»Ich habe schon Ihren Puls gefühlt«, sagte ich, »er ist so gut, wie er nur immer sein kann.«

»Sie grollen mir, weil ich Böses über Herrn Olivier gesagt habe; es ist ihr Freund, und ich hatte unrecht. Doch ist es nicht verständlich, wenn ich auf ihn erbost bin, abgesehen von dem Degenstich, den er mir gegeben?«

»Den Sie auf eine Weise suchten, daß er Ihnen die Antwort nicht verweigern konnte, das werden Sie zugestehen.«

»Ja, ich habe ihn beleidigt; doch ich wollte mich mit ihm schlagen, und wenn man sich mit den Leuten schlagen will, muß man sie wohl beleidigen. - Verzeihen Sie, Doktor, wollen Sie mir den Gefallen erweisen zu läuten?«

Ich zog an der Klingelschnur, einer der Bedienten trat ein.

»Hat man sich im Auftrag von Herrn de Macartie nach meinem Befinden erkundigt?«

»Nein, Herr Baron«, antwortete der Lakai.

»Das ist sonderbar«, murmelte der Kranke, sichtbar ärgerlich über diesen Mangel an Teilnahme.

Es trat einen Augenblick Stillschweigen ein; ich machte eine Bewegung, um meinen Stock zu nehmen.

»Denn Sie wissen, was er mir getan hat, Ihr Freund Olivier?«

»Nein. Ich habe von ein paar Worten sprechen hören, die im Club gesagt worden sein sollen, ist es das?«

»Er erreichte oder wollte vielmehr erreichen, daß eine für mich glänzende Heirat scheiterte: eine junge Dame von achtzehn Jahren, schön wie die Liebesgötter, und fünfzigtausend Franc Rente.«

»Und wie hat er das erreicht?«

»Durch seine Verleumdung, Doktor. Er hat behauptet, er kenne niemand meines Namens auf Guadeloupe; mein Vater aber, der Graf de Faverne, hat dort zwei Quadratmeilen Land und ein prachtvolles Wohnhaus und außerdem dreihundert Schwarze. Doch ich habe an Herrn de Malpas, den Gouverneur, geschrieben, und in zwei Monaten werden die erforderlichen Papiere hier sein; dann wird man sehen, wer von uns beiden gelogen hat.«

»Olivier kann sich täuschen, mein Herr; er wird jedoch nicht gelogen haben.«

»Aber er ist schuld, daß der, welcher mein Schwiegervater werden sollte, sich nicht einmal nach mir erkundigt.«

»Er weiß vielleicht nicht, daß Sie sich geschlagen haben?«

»Er weiß es; denn ich habe es ihm gestern gesagt.«

»Sie haben es ihm gesagt?«

»Gewiß. Als er mir gestern hinterbrachte, was Herr Olivier von mir gesprochen hatte, sagte ich zu ihm: >Ah, so ist es! Nun wohl, ich werde noch heute abend mit dem schönen Herrn Olivier Streit suchen, und man soll sehen, ob ich Angst habe.<«

Ich begann den Mut meines Kranken zu begreifen. Es war zu hundert Prozent angelegtes Geld; ein Duell konnte ihm eine hübsche Frau und fünfzigtausend Franc Rente einbringen. Das war der Grund dafür, warum er das Duell herausgefordert hatte. Es sollte ihm den Aufstieg in die Gesellschaft sichern.

Ich stand auf.

»Wann werde ich Sie wiedersehen, Doktor?«

»Morgen komme ich, um den Verband abzunehmen.«

»Ich hoffe, wenn man von diesem Duell in Ihrer Gegenwart spricht, werden Sie sagen, ich habe mich gut benommen.«

Wieder spürte ich ganz deutlich, daß ich einen Menschen vor mir hatte, der glaubte, einen Weg zu Reichtum und gesellschaftlichem Aufstieg gefunden zu haben, der diesen Weg ging, ohne rechts und links zu blicken, einen Weg, wie ihn so viele gingen.

»Ich werde sagen, was ich gesehen habe, mein Herr.«

»Dieser elende Olivier«, murmelte der Verwundete, »ich hätte hunderttausend Franc gegeben, wäre ich imstande gewesen, ihn auf der Stelle zu töten.«

»Wenn Sie reich genug sind, mit hunderttausend Franc den Tod eines Menschen zu bezahlen«, erwiderte ich, »haben Sie den Verlust dieser Heirat doch nicht so sehr zu beklagen, denn sie hätte Ihrem Vermögen ja nur eine Rente von fünfzigtausend Franc hinzugefügt.«

»Sie haben recht, aber an dieser Heirat lag mir sehr viel, denn sie hätte mir erlaubt, gewagte Geschäfte aufzugeben; ein junger Mann, geboren mit aristokratischem Geschmack, ist übrigens nie reich genug. Außerdem spekuliere ich an der Börse; es ist wahr, ich habe Glück; im vergangenen Monat habe ich mehr als dreißigtausend Franc gewonnen.«

»Ich mache Ihnen ein Kompliment, mein Herr; morgen also.«

»Warten Sie doch ... Ich glaube, es hat geläutet!« »Ja.«

»Es kommt jemand?«

»Ja.«

Ein Bedienter trat ein.

Zum erstenmal sah ich die Augen des Barons auf einen Menschen geheftet.

»Nun?« fragte er, ohne daß er dem Bedienten Zeit ließ zu sprechen.

»Herr Vicomte«, sagte der Lakai, »es ist der Herr Graf de Macartie, der sich nach Ihnen erkundigt.«

»Er selbst?«

»Nein, er schickt seinen Kammerdiener.«

»Ah!« machte der Kranke. »Und was haben Sie geantwortet?«

»Der Herr Vicomte sei schwer verwundet, doch der Doktor bürge für seine Genesung.«

»Ist es wahr, Doktor, tun Sie das?«

»Ja, tausendmal ja«, erwiderte ich, »das heißt, wenn Sie keine Unklugheit begehen.«

»Da seien Sie unbesorgt. Sagen Sie, Doktor: daß der Graf de Macartie sich nach mir erkundigen läßt, beweist, daß er nicht an die Worte von Herrn Olivier glaubt?«

»Ohne Zweifel.«

»Nun, so heilen Sie mich rasch, und Sie werden bei der Hochzeit sein.«

»Ich werde mein Bestes tun, um das zu erreichen.«

Ich grüßte und ging hinaus.

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