12. Kapitel Die Beichte

»Es vergingen acht Tage, bis ich wieder eine Nachricht von Gabriel erhielt; der Morgen des achten Tages brachte mir endlich einen Brief von ihm.

Gabriel war, wie er mir schrieb, in Paris angekommen, bei seinem Bankier eingetreten und wohnte einstweilen in einem kleinen Hotel der Rue des Vieux-Augustins.

Dann kam eine Schilderung von Paris und dem Eindruck, den die Hauptstadt in ihm hervorgerufen hatte.

Er war trunken vor Freude.

Eine Nachschrift kündigte mir an, ich würde in drei Monaten sein Glück teilen.

Statt mich zu beruhigen, erfüllte mich dieser Brief mit tiefer Betrübnis, und zwar ohne daß ich begriff, warum.

Ich fühlte, daß ein Unglück über meinem Haupt schwebte und bereit war, auf mich niederzustürzen.

Ich antwortete ihm indessen, als ob ich mich mit ihm freute, und tat so, als glaubte ich an die Zukunft, die er mir versprach. Eine innere Stimme jedoch sagte mir, daß mir nichts Angenehmes bevorstände.

Vierzehn Tage später erhielt ich einen zweiten Brief. Er ließ mich in Tränen ausbrechen.

Wenn Gabriel sein Versprechen nicht hielt, war ich ein entehrtes Mädchen; ich würde in acht Monaten Mutter werden.

Ich wankte einen Augenblick: Sollte ich Gabriel das mitteilen oder nicht?

Doch ich hatte niemand außer ihm in der Welt, dem ich mich anvertrauen konnte. Überdies hatte er die gleiche Schuld an meinem Fehltritt wie ich, und wenn mich jemand unterstützte, so war es billig, daß er es tat.

Ich schrieb ihm deshalb, er möge unser Wiedersehen so sehr wie möglich beschleunigen, und sagte ihm, in Zukunft ginge es nicht nur um unser Glück, sondern auch um das unseres Kindes.

Ich hoffte umgehend Antwort zu erhalten, oder ich zitterte vielmehr, gar keine mehr zu bekommen, denn es rief mir, wie gesagt, ein dumpfes Vorgefühl zu, alles wäre für mich zu Ende.

Gabriel antwortete in der Tat nicht mir, sondern seinem Vater; er meldete ihm, der Bankier, bei dem er beschäftigt sei, habe bedeutende Geschäfte in Guadeloupe, und da der Bankier bei ihm mehr Geschick erkannt habe als bei seinen Bürogenossen, habe er ihn beauftragt, diese Geschäfte wahrzunehmen, und ihm versprochen, ihn bei seiner Rückkehr am Gewinn zu beteiligen. Demzufolge werde er noch an demselben Tag nach den Antillen abreisen; die Zeit seiner Rückkehr könne er noch nicht bestimmen.

Zugleich schickte er von dem Gelde, das ihm der Bankier zu der Reise gegeben, seinem Vater die fünfhundert Franc zurück, die er für ihn geliehen hatte. Diese Summe bestand in einem FünfhundertFranc-Schein.

Eine Nachschrift sagte seinem Vater, da er keine Zeit mehr habe, mir zu schreiben, bitte er ihn, mich davon zu unterrichten.

Der Schlag war, wie man leicht begreift, furchtbar.

Da ich jedoch noch nie von Gabriel eine Antwort umgehend erhalten hatte, wußte ich nicht, wieviel Tage ein Brief braucht, um nach Paris zu gelangen, und folglich auch nicht, in wieviel Zeit man eine Antwort erhalten konnte.

Ich hoffte also gutgläubig, sein Brief sei wahrscheinlich geschrieben worden, ehe er den meinigen empfangen.

Unter irgendeinem Vorwand ging ich zum Bürgermeister und bat ihn um Auskunft darüber. Er hielt den Geldschein in der Hand, den ihm Vater Thomas gegeben hatte.

>Nun, Marie!< sagte er, als er mich sah, >dein Geliebter ist auf dem besten Weg, sein Glück zu machen.< Ich antwortete ihm nur mit Tränen.

>Wie<, rief er, >es macht dir Kummer, daß Gabriel zu Geld kommt? -Ich habe schon immer gesagt, das Glück dieses Burschen liege in seinen Fingerspitzen.<

>Mein Herr<, erwiderte ich, >Sie täuschen sich in mir; ich werde dem Himmel stets für jedes Glück danken, das Gabriel widerfährt; ich befürchte nur, er wird mich in seinem Glück vergessen.<

>Das könnte schon sein, meine arme Marie<, entgegnete der Bürgermeister, >ich möchte nicht dafür einstehen, und wenn ich dir raten soll, sage ich dir: Komm Gabriel zuvor, sobald sich dir eine Gelegenheit bietet. Du bist ein fleißiges, ordentliches Mädchen, an dem ich nie etwas zu tadeln gehabt habe, trotz deines Verhältnisses mit Gabriel. Nun wohl! Ich würde den ersten hübschen Jungen, der sich zeigt, nehmen und gegen Gabriel tauschen; und höre, Andre Morin, der Fischer, sprach mit mir erst gestern davon.<

Ich unterbrach ihn und sagte: >Herr Bürgermeister, ich werde entweder Gabriels Frau, oder ich bleibe ledig; wir haben uns Treue gelobt, die er vergessen kann, die ich aber nie vergessen werde.<

>Ja, ja<, erwiderte er, >ich kenne das; so richten sich alle die armen, unglücklichen Mädchen zugrunde; mach es, wie du willst, mein Kind, ich habe keine Gewalt über dich, doch wenn ich dein Vater wäre, wüßte ich, was ich tun würde.<

Ich erkundigte mich schließlich noch nach dem, was ich wissen wollte, und kehrte wieder nach Hause zurück. Ich konnte mir leicht ausrechnen: Gabriel hatte an seinen Vater geschrieben, nachdem er meinen Brief erhalten.

Ich wartete vergebens den nächsten Tag, den zweiten Tag, die ganze Woche, den ganzen Monat: Ich erhielt keine Nachricht von Gabriel.

Eine Hoffnung hatte mich aufrechterhalten; da er keine Zeit gehabt, mir von Paris aus zu schreiben, würde er mir wohl von dem Hafen aus schreiben, wo er sich einschiffte, oder wenn er nicht von diesem Hafen aus schreiben konnte, würde er mir wenigstens von Guadeloupe schreiben.

Ich verschaffte mir eine Karte und fragte einen unserer Matrosen, der mehrere Reisen nach Amerika gemacht hatte, welche Route die Schiffe fahren, wenn sie nach Guadeloupe wollen. Er zog mir mit dem Bleistift eine lange Linie, und ich hatte wenigstens den Trost zu sehen, welchen Weg Gabriel verfolgte.

Bevor ich auf Nachricht von ihm hoffen dürfte, würden mindestens drei Monate vergehen. Ich erwartete mit ziemlich viel Ruhe den Ablauf dieser drei Monate, doch es kam nichts, und ich blieb in dem furchtbaren Halbdunkel, das man Zweifel nennt und das noch viel schlimmer ist als die Nacht.

Die Zeit verging indessen; alle Empfindungen, die das Dasein und Wachsen eines Wesens ankündigen, regten sich in mir. Es sind gewiß köstliche Empfindungen, wenn das Kind in eine Familie hineinwächst, aber schmerzliche, bittere und gräßliche Empfindungen, wenn jede Bewegung an den Fehltritt und das Unglück erinnert.

Ich war seit sechs Monaten in anderen Umständen, bis dahin hatte ich meine Schwangerschaft glücklich vor aller Augen verborgen; doch ein furchtbarer Gedanke verfolgte mich: der Gedanke, daß ich, wenn ich fortführe, mich so zusammenzuschnüren, das Leben meines Kindes gefährden könnte.

Ostern stand kurz bevor. Das ist bekanntlich in unseren Dörfern die Zeit der großen Beichte. Auf ein Mädchen, das Ostern nicht wie die anderen feierte, würden alle ihre Kameradinnen mit dem Finger deuten.

Ich war im Grunde meines Herzens zu religiös, als daß ich hätte zum Beichtstuhl gehen können, ohne meinen Fehltritt ganz zu enthüllen; seltsamerweise aber sah ich die Zeit dieser Enthüllung mit einer gewissen Freude nahen, in die sich jedoch auch Furcht mischte.

Unser Geistlicher war ein frommer Greis mit weißem Haar und ruhigem, lächelndem Antlitz, bei dessen Anblick der Schwache, der Unglückliche oder der Schuldige fühlt, Unterstützung zu finden.

Ich war also fest entschlossen, ihm alles zu sagen und mich von seinen Ratschlägen leiten zu lassen.

Am Vorabend des Tages, an dem alle jungen Mädchen zur Beichte zu gehen pflegen, begab ich mich zu ihm.

Ich gestehe, mein Herz krampfte sich zusammen, als ich die Hand nach der Klingel des Pfarrhauses ausstreckte. Ich hatte die Nacht abgewartet, damit mich niemand dort eintreten sah, wohin ich in anderen Zeiten ganz offen zwei- oder dreimal wöchentlich kam; auf der Schwelle verließ mich der Mut, und ich war genötigt, mich an die Mauer zu lehnen, um nicht zu fallen.

Doch ich raffte meine Kräfte zusammen und läutete mit einer ungestümen Bewegung.

Die alte Haushälterin öffnete mir sogleich.

Der Pfarrer war, wie ich es mir gedacht hatte, allein in einem kleinen, abgelegenen Zimmer, wo er beim Schein der Lampe sein Brevier las.

Ich folgte der alten Katherine, die mir die Tür öffnete und mich meldete.

Der Pfarrer hob den Kopf. Sein schönes, ruhiges Antlitz befand sich nun ganz im Licht, und ich begriff: Wenn es in der Welt einen Trost für gewisse unwiderrufliche Unglücksfälle gibt, so ist es der, sein Unglück solchen Menschen zu bekennen.

Ich blieb indessen an der Tür stehen und wagte nicht, weiter ins Zimmer hineinzutreten.

>Es ist gut, Katherine<, sagte der Pfarrer, >lassen Sie uns allein, und wenn jemand kommt und nach mir fragt .. .<

>... werde ich sagen, der Herr Pfarrer sei nicht zu Hause<, erwiderte die alte Haushälterin.

>Nein<, sprach der Pfarrer, >man darf nicht lügen, meine gute Katherine; Sie sagen, ich sei im Gebet begriffen.< >Gut, Herr Pfarrer<, erwiderte Katherine. Und sie ging hinaus und schloß die Tür hinter sich. Ich blieb unbeweglich stehen, ohne ein Wort zu reden. Der Pfarrer suchte mich mit den Augen in der Dunkelheit, die außerhalb des engen Lichtscheins der Lampe herrschte; er streckte mir dann die Hand entgegen und sagte zu mir: >Komm, meine Tochter . ich erwartete dich .<

Ich tat zwei Schritte, nahm seine Hand und fiel vor ihm auf die Knie.

>Sie erwarteten mich, mein Vater?< erwiderte ich. >Sie wissen also, was mich zu Ihnen führt?< >Ich vermute es<, antwortete der würdige Priester. >Oh, mein Vater, ich habe mich sehr strafbar gemacht!< rief ich, in Schluchzen ausbrechend. >Sag unglücklich, mein armes Kind.<

>Aber, mein Vater, vielleicht wissen Sie nicht alles, denn wie hätten Sie erraten können .<

>Höre, meine Tochter, ich will es dir sagen<, entgegnete der Priester. >Ich erspare dir damit ein Geständnis, das dir mir gegenüber peinlich wäre, nicht wahr?<

>Oh, ich fühle nun, daß ich Ihnen alles mitteilen kann; sind Sie nicht der Diener Gottes, der alles weiß?< >Sprich mein Kind<, sagte der Priester. >Sprich, ich höre dich.< >Mein Vater<, rief ich, >mein Vater .. .<

Und die Stimme stockte, ich hatte mir zuviel zugemutet und konnte nun nicht mehr.

>Ich vermute alles schon seit dem Tag der Abreise Gabriels<, sagte der Priester. >An diesem Tag, mein armes Kind, habe ich dich gesehen, ohne daß du mich sahst. Ich war in der Nacht gerufen worden, um die Beichte eines Sterbenden zu empfangen, und begegnete,

als ich morgens um vier Uhr zurückkam, Gabriel, von dem jeder glaubte, er wäre am Abend zuvor abgereist. Als er mich erblickte, versteckte er sich hinter einer Hecke, und ich stellte mich, als sähe ich ihn nicht; hundert Schritt weiter fand ich ein junges Mädchen, das, den Kopf in den Händen, an einem Grabenrand saß; ich erkannte dich, doch du schautest nicht empor.<

>Ich hörte Sie nicht, mein Vater<, erwiderte ich. >Denn ich war ganz in den Schmerz über die Trennung von Gabriel versunken!<

>Ich ging also vorüber. Obwohl ich zunächst stehenbleiben wollte, um mit dir zu sprechen, hielt mich doch der Gedanke zurück, du könntest dich, genau wie Gabriel, verbergen wollen; ich ging also meines Wegs. Als ich dann die offene Tür eures Hauses sah, begriff ich alles: Gabriel hatte die Nacht bei dir zugebracht.< >Ja, mein Vater, so ist es.<

>Als du dann nicht mehr in das Pfarrhaus kamst, wie du es früher getan, sagte ich zu mir: Die Arme, sie kommt nicht, weil sie in mir den Richter zu finden fürchtet.< Mein Schluchzen verdoppelte sich.

>Nun wohl!< sagte der Pfarrer. >Was kann ich für dich tun? Sprich, mein Kind.<

>Mein Vater<, sagte ich, >ich möchte wissen, ob Gabriel wirklich abgereist ist oder ob er sich noch in Paris befindet.< >Wie, du zweifelst?<

>Mein Vater, es ist mir ein furchtbarer Gedanke durch den Kopf gegangen: der Gedanke, Gabriel habe, nur um sich meiner zu entledigen, vorgegeben, er reise ab.<

>Und wie bist du auf diesen Gedanken gekommen?< fragte der Priester.

>Einmal sein Stillschweigen: so überstürzt die Abreise auch hätte sein können: soviel Zeit, mir wenigstens ein Wort zu schreiben, wäre immer gewesen. Und wenn nicht von Paris, so von dem Ort, wo er sich einschiffte oder wo er angekommen wäre. Hätte er mir nicht Nachricht geben müssen? Weiß er nicht, daß ein Brief von ihm mein Leben und vielleicht das Leben meines Kindes bedeutet?< Der Pfarrer seufzte.

>Ja, ja<, murmelte er, >der Mensch ist im allgemeinen selbstsüchtig, und ich will niemand verleumden; doch Gabriel, Gabriel! Ich möchte das nicht von ihm glauben. - Du sagst also, du möchtest wissen .<

>Ob Gabriel wirklich von Paris abgereist ist.< >Das ist leicht zu erfahren ... mir scheint, durch seinen Vater. Höre, ermächtigst du mich, seinem Vater alles zu sagen?<

>Ich habe mein Leben und meine Ehre in Ihre Hände gelegt, mein Vater; tun Sie, was Sie für richtig halten.< >Erwarte mich, meine Tochter<, sprach der Priester. >Ich gehe zu Thomas Lambert.< Und er entfernte sich.

Ich blieb auf den Knien und stützte meinen Kopf auf den Arm des Lehnstuhls, ohne zu beten, ohne zu weinen, in meine Gedanken versunken.

Nach einer Viertelstunde öffnete sich die Tür ein weiteres Mal. Ich hörte Tritte, die sich mir näherten, und eine Stimme sprach zu mir: >Steh auf, meine Tochter, und komm in meine Arme.< Ich hob den Kopf und sah mich Gabriels Vater gegenüber. Er war ein Mann von fünfundvierzig Jahren, bekannt durch seine Redlichkeit, einer von den Menschen, die nur eines kennen: das gegebene Wort zu erfüllen.

>Hat dir mein Sohn je gesagt, er würde dich heiraten?< fragte er mich. >Laß hören, antworte mir, wie du Gott antworten würdest.< >Nehmt<, sagte ich und reichte ihm Gabriels Brief, in dem er mir versprach, mich in drei Monaten zu sich kommen zu lassen, und in dem er mich seine Frau nannte.

>Und in der Überzeugung, er würde dein Gatte werden, hast du ihm nachgegeben?<

>Ich habe ihm nachgegeben, weil er abreisen wollte und weil ich ihn liebte.<

>Gut geantwortet^ sprach der Priester und nickte billigend mit dem Kopf. >Gut geantwortet, mein Kind.<

>Ja, Sie haben recht, Herr Pfarrer<, sagte Thomas Lambert, >Marie<, fuhr er fort, >du bist meine Tochter, und dein Kind ist mein Kind; in acht Tagen werden wir erfahren, wo Gabriel ist.< >Wie das?< fragte ich.

>Ich muß nach Paris fahren, um einige wichtige Dinge mit meinem Gutsherrn persönlich zu ordnen. Morgen reise ich ab. In Paris gehe ich zu dem Bankier, und ich schreibe dann an Gabriel, wo er auch sein mag, und ich werde ihn auffordern, sein Wort zu halten.<

>Gut<, versetzte der Pfarrer, >gut, Thomas; und ich füge Eurem Brief einen von mir bei, in dem ich im Namen der Religion mit ihm sprechen werde.<

Ich dankte beiden von ganzem Herzen, und der Priester begleitete mich ein Stück, als ich nach Hause ging. >Morgen<, sagte er zu mir.

>Oh, mein Vater<, entgegnete ich, >ich darf mich also mit meinen Kameradinnen noch in der Kirche zeigen?<

>Für wen sollte denn die Kirche ihre Tröstungen bereithalten, wenn nicht für die Unglücklichen?< erwiderte der Priester. Am nächsten Tag beichtete ich und erhielt die Absolution. Am darauffolgenden Tag, am Ostertag, nahm ich das Abendmahl mit meinen Kameradinnen.

Thomas Lambert war, wie er es gesagt hatte, am Abend zuvor nach Paris gereist.

Es vergingen acht Tage, während welcher ich jeden Morgen den Pfarrer besuchte, um ihn zu fragen, ob er Nachricht vom Vater Thomas erhalten hätte; während dieser acht Tage kam kein Brief.

Am Abend des Sonntags, der auf das Osterfest folgte, sah ich gegen sieben Uhr die alte Katherine eintreten, sie wollte mich im Auftrag ihres Herrn holen.

Ich stand auf, am ganzen Leib zitternd, und folgte ihr eiligst, und ich hatte nicht die Ruhe, mit meiner Frage nach dem Ergebnis von Vater Thomas' Reise nach Paris zu warten, bis ich beim Pfarrer war.

Sie sagte mir, der Vater Thomas sei soeben von Paris zurückgekehrt. Weiter zu fragen, hatte ich aber dann doch nicht mehr die Kraft.

Als ich in das Pfarrhaus kam, saßen beide in dem kleinen Kabinett, in dem ich vor Ostern gewesen war. Der Pfarrer war traurig und Vater Thomas ernst und düster.

Ich blieb an der Tür stehen, denn ich fühlte, daß meine Sache entschieden und verloren war.

>Mut, mein Kind<, sprach der Priester, >Vater Thomas bringt uns schlimme Nachrichten.<

>Gabriel liebt mich nicht mehr!< rief ich.

>Man weiß nicht, was aus Gabriel geworden ist<, erwiderte der Pfarrer.

>Wieso?< rief ich. >Ist das Schiff, auf dem er sich befand, verlorengegangen? Ist Gabriel tot?<

>Gefiele es dem Himmel, und entspräche die ganze Geschichte, die er uns erzählt hat, der Wahrheit!< sagte der Vater.

>Welche Geschichte?< fragte ich erschrocken, und ich sah alles nur noch wie durch einen Schleier.

>Ja<, sagte der Vater, >ich ging zu dem Bankier, doch er wußte nicht, was ich wollte, denn er hat nie einen Kommis namens Gabriel Lambert, er hat nie Geschäfte in Guadeloupe gehabt.<

>O mein Gott, dann hättet Ihr zu dem gehen müssen, der ihm die Stelle verschafft hat, zu dem Kandidaten, Ihr wißt.<

>Ich bin bei ihm gewesen<, erwiderte der Vater. >Nun?<

>Er hat nie an mich oder meinen Sohn geschrieben.< >Aber der Brief!<

>Den Brief hatte ich bei mir, ich zeigte ihm ihn, er erkannte auch seine Handschrift, doch er hat ihn nicht geschriebene Ich ließ meinen Kopf sinken.

Thomas Lambert fuhr fort: >Von da ging ich in die Rue des Vieux-Augustins, in das Hotel de Venise.< >Habt Ihr dort eine Spur von ihm gefunden?< >Er hat sechs Wochen in diesem Hotel gewohnt und hat es, nachdem er seine Rechnung bezahlt, verlassen, und man weiß nicht, was aus ihm geworden ist.< >O mein Gott!< rief ich. >Was soll das alles bedeuten?< >Das soll bedeuten<, murmelte Thomas Lambert, >daß von uns beiden, mein armes Kind, ich wahrscheinlich am unglücklichsten bin.<

>Ihr wißt also durchaus nicht, was aus ihm geworden ist?< >Ich weiß es nicht.<

>Aber auf der Polizei hättet Ihr vielleicht erfahren können ...<, sagte der Pfarrer.

>Ich dachte wohl daran<, murmelte Thomas Lambert, >doch ich befürchtete, auf der Polizei zuviel zu erfahren<. Wir erschauerten, und ich besonders. >Und was ist nun zu tun?< fragte der Pfarrer. >Wir müssen warten<, antwortete Thomas Lambert. >Doch sie<, versetzte der Priester, indem er auf mich deutete, >sie kann nicht warten.<

>Das ist wahr!< sprach Thomas Lambert. >Sie soll bei mir wohnen, denn ist sie nicht meine Tochter?<

>Ja; aber da sie nicht die Frau Eures Sohnes ist, wird sie in drei Monaten entehrt sein.< >Und mein Vater<, rief ich, >mein Vater, der über diese Nachricht vor Kummer sterben wird?<

>Man stirbt nicht vor Kummer<, erwiderte Thomas Lambert, >doch man leidet sehr, und es ist unnötig, diesen armen Mann leiden zu lassen; unter irgendeinem Vorwand wird sich Marie einen Monat bei meiner Schwester aufhalten, die in Caen wohnt, und ihr Vater erfährt nichts von dem, was während dieser Zeit vorfällt.<

Alles geschah, wie es verabredet wurde.

Ich brachte einen Monat bei Thomas Lamberts Schwester zu; während dieses Monats gebar ich das Kind, das dort im Lehnstuhl schläft.

Mein Vater wußte nichts von dem, was mir begegnet war, und das Geheimnis wurde so gut bewahrt, daß es ihm wie jedem andern unbekannt blieb.

Es vergingen fünf oder sechs Monate, ohne daß ich irgend etwas von Gabriel hörte; doch endlich eines Morgens verbreitete sich das Gerücht, der Bürgermeister sei in Paris gewesen und Lambert begegnet.

Man erzählte in diesem Zusammenhang so seltsame Dinge, daß man an ihrer Wahrheit zweifeln mußte.

Ich ging zu Thomas Lambert, um mich zu erkundigen, was wohl an den Gerüchten, die bis zu mir gedrungen, Wahres sein könnte; doch ich war kaum fünfzig Schritt vom Hause, als ich den Bürgermeister selbst traf.

>Nun, meine Schöne<, sagte er, >ich wundere mich nicht mehr, daß dein Liebhaber zu schreiben aufgehört hat; es scheint, er hat sein Glück gemacht; ich habe also damals mit meiner Prophezeiung recht gehabt.<

>Mein Gott, was ist denn?< fragte ich.

>Wie? Ich weiß es nicht; doch soviel ist wahr, als ich von Courbevoie zurückkam, wo ich bei meinem Schwiegersohn zu Mittag gespeist hatte, begegnete ich einem schönen Herrn zu Pferde, einem Elegant,

einem Dandy, dem ein Bedienter, ebenfalls zu Pferd, folgte. Rate, wer es war!< >Wie soll ich das erraten?<

>Es war Meister Gabriel. Ich erkannte ihn und lehnte mich halb aus meinem Wagen, ihn zu rufen, und ohne Zweifel erkannte er mich ebenfalls. Doch ehe ich Zeit gehabt hatte, seinen Namen auszusprechen, gab er seinem Pferde die Sporen und sprengte im Galopp davon.< >Sie werden sich getäuscht haben<, entgegnete ich. >Ich glaubte es wie du<, antwortete er. >Doch der Zufall fügte es, daß ich am Abend in die Oper ging - in das Parterre, wohlverstanden. Ich bin ein Bauer, und das Parterre ist gut genug für mich; er aber, da er ein vornehmer Herr geworden ist, wie es scheint, war in den ersten Logen, und zwar in einer der schönsten, zwischen zwei Säulen, und plauderte und machte den Süßen gegen die Damen und hatte am Knopfloch eine Kamelie so groß wie meine Hand.< >Das ist unmögliche murmelte ich.

>Es ist so; denn ich zweifelte immer noch und wollte Gewißheit haben. Deshalb ging ich im Zwischenakt hinaus und stellte mich in die Nähe der Loge; die Tür wurde halb geöffnet, und unser Held ging an mir vorüber.< >Gabriel<, sagte ich mit halblauter Stimme. >Er wandte sich rasch nach mir um und erblickte mich; da wurde er scharlachrot und stürzte mit solcher Eile zur Treppe, daß er beinahe einen Herrn und eine Dame, die seinen Weg kreuzten, niedergeworfen hätte. Ich folgte ihm, doch als ich unter den Säulengang kam, sah ich ihn in einen äußerst zierlichen Wagen steigen, ein Bedienter in Livree schloß den Schlag hinter ihm, und der Wagen fuhr im Galopp davon.<

>Wie soll er einen Wagen und Bediente in Livree besitzen?< fragte ich. >Sie werden sich getäuscht haben, sicherlich war es gar nicht Gabriel.<

>Ich sage dir, ich habe ihn gesehen, wie ich dich sehe, und ich weiß sicher, daß er es war; ich muß ihn doch wohl kennen, da ich ihn drei Jahre als Schreiber in meiner Bürgermeisterei gehabt habe.< >Haben Sie das außer mir noch anderen erzählt?< >Bei Gott, ich habe es jedem gesagt, der es hören wollte. Er hat mich nicht um Geheimhaltung gebeten, er hat mir ja nicht einmal die Ehre erwiesen, mich zu erkennen.< >Aber sein Vater?< sagte ich mit halber Stimme. >Sein Vater kann nur entzückt sein, denn was beweist das anderes, als daß sein Sohn sein Glück gemacht hat?< Ich seufzte und ging zu Thomas Lambert. Ich fand ihn, den Kopf in die Hände gestützt, an seinem Tisch sitzend, er hörte mich nicht die Tür öffnen, er hörte nicht, wie ich mich ihm näherte. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter; er erschauerte und wandte sich um. >Du weißt alles?<

>Der Herr Bürgermeister erzählte mir soeben, er sei Gabriel zu Pferd und in der Oper begegnet; doch er kann sich getäuscht ha-ben.<

>Wie soll er sich getäuscht haben? Kennt er ihn nicht so gut wie wir? O nein, das alles ist die reine Wahrheit.<

>Wenn er sein Glück gemacht hat<, erwiderte ich schüchtern, >müs-sen wir uns darüber freuen, wenigstens wird er glücklich sein.<

>Glück gemacht!< rief Vater Thomas. >Und auf welche Weise soll er sein Glück gemacht haben? Ist das ehrenhaft, ist das mit rechten Dingen zugegangen, wie so viele Leute in dieser Zeit zu Reichtum und Ansehen, zu Wagen und Pferden, zu einem vornehmen Namen gekommen sind, die noch vor kurzer Zeit nichts waren und nichts hatten. Gabriel war nicht schlecht, das weißt du, mein Kind, aber er hat gesehen, was andere gemacht haben, und er hat es ihnen nachgemacht. Oder nennst du das ehrenhaft, wenn sich der Sohn vor seinem Vater versteckt und das Versprechen vergißt, das er seiner Braut gegeben hat, die ihm nun nicht mehr gut genug ist?< >Sie begreifen wohl, daß ich seiner nicht mehr würdig bin, wenn er so reich ist.<

>Marie, Marie<, sprach der Vater, den Kopf schüttelnd, >ich befürchte vielmehr, daß er deiner nicht mehr würdig ist.< Und er ging auf den kleinen Rahmen zu, der die Federzeichnung enthielt, die Gabriel einst angefertigt hatte, zerbrach ihn in Stücke, zerriß die Zeichnung und warf sie ins Feuer.

Ich ließ ihn gewähren, ohne ihn zurückzuhalten, denn ich dachte an das Bruchstück einer Banknote, das am Morgen seiner Abreise die kleine Schäferin aufgehoben hatte, ein Bruchstück, das ich aufbewahrt hatte und auf dem die Worte standen: >Das Gesetz bestraft den Fälscher mit dem Tode.<

>Was sollen wir tun?< fragte ich.

>Wir müssen ihn in sein Verderben rennen lassen, wenn er es nicht schon getan hat.<

>Bitte<, sprach ich, >versucht von meinem Vater die Erlaubnis zu erhalten, daß ich noch einmal vierzehn Tage bei Eurer Schwester zubringen darf.<

>Warum?<

>Ich werde nach Paris fahren.<

Er schüttelte den Kopf und murmelte: >Ein unnötiger Gang, glaube mir, ein unnötiger Gang.<

>Vielleicht.<

>Denkst du, wenn ich noch Hoffnung hätte, ich ginge nicht selbst? Übrigens wissen wir seine Adresse nicht; wie sollen wir ihn finden, ohne uns bei der Polizei zu erkundigen, und wer weiß, was geschehen wird, wenn wir uns bei der Polizei erkundigen?<

>Ich habe ein Mittel<, erwiderte ich.

>Ihn zu finden?<

>Ja.<

>So geh! Vielleicht richtest du wirklich etwas aus. Brauchst du etwas?<

>Nur die Erlaubnis meines Vaters.<

Ich erhielt sie noch an demselben Tag, aber mit mehr Schwierigkeit als beim erstenmal. Seit einiger Zeit war mein Vater leidend, und ich fühlte selbst, daß die Stunde, ihn zu verlassen, schlecht gewählt war; doch etwas Stärkeres als mein Wille trieb mich fort.«

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