6. Kapitel Das Manuskript

Man errät nun, wie neugierig ich war, die Ereignisse kennenzulernen, die diesen Menschen, mit dem ich, wie er sagte, in der Gesellschaft zusammengetroffen war, auf die Galeere gebracht hatten.

Ich dachte ganz natürlich an Fabien, der mehr über ihn erfahren haben mußte, denn er hatte ja einige Zeit lang die Wunde behandelt, die ihm Olivier beigebracht hatte.

Bei meiner Rückkehr nach Paris war Fabien deshalb auch der erste, dem mein Besuch galt. Ich hatte mich nicht getäuscht; Fabien, der Tag für Tag das, was er tut, aufzuschreiben pflegt, ging an seinen Sekretär und suchte unter mehreren voneinander getrennten Heften eines, das er mir übergab.

»Nehmen Sie, mein Freund«, sagte er. »Sie finden hierin jede Auskunft, die Sie zu haben wünschen; ich will es Ihnen anvertrauen, machen Sie damit, was Ihnen beliebt, aber verlieren Sie es nicht; dieses Heft gehört zu einem großen Werk, das ich über die moralischen Krankheiten, die ich behandelt habe, abzufassen gedenke.«

»Oh, Teufel, mein Lieber«, erwiderte ich, »darin läge ein Schatz für mich.«

»Seien Sie unbesorgt, teurer Freund, sterbe ich an einer gewissen Pulsadergeschwulst, die mir von Zeit zu Zeit ganz leise in das Herz flüstert, daß ich nur Staub bin und wieder zu Staub zu werden gefaßt sein muß, so sind diese Hefte für Sie bestimmt, und mein Testamentsvollstrecker wird sie Ihnen zustellen.«

»Ich danke für die Absicht, doch ich hoffe, das Geschenk, das Sie mir versprechen, nie zu erhalten; Sie sind höchstens drei bis vier Jahre älter als ich.«

»Sie schmeicheln mir; wenn ich mich nicht täusche, bin ich zwölf oder dreizehn Jahre älter; aber was macht das Alter unter solchen Umständen? Ich kenne einen Greis von siebzig Jahren, der jünger ist als ich.«

»Gehen Sie, Doktor, Sie haben solche Gedanken?«

»Gerade weil ich Arzt bin, habe ich sie. Wollen Sie meine Krankheit sehen? Hier ist sie.«

Er führte mich zu einer Zeichnung, welche die Anatomie des Herzens darstellte.

»Ich habe diese Zeichnung nach meiner Unterweisung und zu meinem Privatgebrauch machen lassen, um meine Lage, wenn ich so sagen darf, materiell zu beurteilen. Sie sehen, es ist eine Pulsadergeschwulst; eines Tages wird dieses Gewebe hier zerbersten; wann? Ich weiß es nicht; vielleicht heute, vielleicht in zwanzig Jahren; es ist nur gewiß, daß es bersten wird: Dann ist in drei Sekunden alles vorbei.

Und an einem schönen Morgen hören Sie sagen: >Ach, der arme Fabien, Sie wissen?<

>Ja?<

>Er ist plötzlich gestorben.<

>Woran denn?<

>Oh, mein Gott, während er einem Kranken den Puls fühlte. Man sah ihn rot werden, erbleichen, und er fiel nieder, ohne nur einen Schrei von sich zu geben; als man ihn aufhob, war er tot.<

>Das ist seltsam!<

Man wird zwei Tage in der Gesellschaft, acht in der Medizinschule, vierzehn im Institut davon sprechen, und alles ist abgetan.«

»Sie sind verrückt, mein Lieber.«

»Es ist, wie ich Ihnen zu sagen die Ehre hatte. - Doch ich bitte tausendmal um Verzeihung, ich muß Sie verlassen, das Hospital erwartet mich; hier ist das Heft, machen Sie eine Abschrift davon, und tun Sie damit, was sie wollen. Gott befohlen.«

Ich drückte Fabien zum Dank noch einmal die Hand und nahm zugleich freudig und betrübt von ihm Abschied, betrübt über das, was er als seine Zukunft betrachtete, erfreut über die Auskunft, die ich durch das Heft erhalten sollte:

Nach Hause zurückgekehrt, befahl ich meinem Bedienten, niemand zu mir zu lassen, zog meinen Schlafrock an, streckte mich in einem großen Lehnstuhl aus, stützte meine Füße auf die Feuerböcke und öffnete mein kostbares Heft.

Ich schreibe buchstäblich ab, ohne an der Abfassung Fabiens das Geringste zu verändern.

... Oktober 18 ...

Heute morgen um ein Uhr wurde ich benachrichtigt, daß ein Duell zwischen Herrn Henri de Faverne und Herrn Olivier d'Hornoy stattfinden sollte, d'Hornoy ließe mich bitten, ihn und seinen Gegner auf den Kampfplatz zu begleiten.

Punkt fünf Uhr begab ich mich zu ihm. Um sechs Uhr waren wir in der Allee de la Muette, wo der Kampf stattfinden sollte. Um sechs Uhr und fünfzehn Minuten stürzte Henri de Faverne durch einen Degenstich verwundet nieder. Ich eilte auf ihn zu, während Olivier und seine Zeugen wieder in den Wagen stiegen und nach Paris zurückkehrten; der Verwundete war ohnmächtig.

Seine Wunde war offenbar, wenn nicht tödlich, so doch wenigstens sehr schwer. Die Spitze des dreieckigen Eisens war in die rechte Seite eingedrungen und mehrere Zoll links hinten wieder herausgekommen. Ich nahm sogleich einen Aderlaß vor.

Dem Kutscher empfahl ich bei der Rückkehr, durch die Allee von Neuilly und über die Champs-Elysees zu fahren, einmal, weil dieser Weg kürzer war, und dann auch, weil der Wagen, der hier kein Pflaster unter den Rädern hatte, nicht so rüttelte und also den Verwundeten schonte.

Als wir den Triumphbogen erreichten, gab Herr de Faverne einige Lebenszeichen von sich; seine Hand bewegte sich, schien den Sitz eines tiefen Schmerzes zu suchen und blieb auf der Brust liegen. Einige erstickte Seufzer, die das Blut aus seiner doppelten Wunde sickern ließen, entwanden sich voller Schmerzen seinem Munde; dann heftete er seinen Blick auf mich, erkannte mich und murmelte mit einer gewissen Anstrengung: »Ach, Sie sind es, Doktor? Ich bitte Sie, verlassen Sie mich nicht, ich glaube, es steht sehr schlimm um mich.«

Erschöpft durch diese Anstrengung, schloß er wieder die Augen, und ein leichter rötlicher Schaum trat ihm auf die Lippen. Die Lunge war offenbar mit getroffen.

»Seien Sie unbesorgt«, erwiderte ich. »Sie sind allerdings schwer verletzt, doch die Wunde ist nicht tödlich.«

Er antwortete mir nicht, öffnete die Augen nicht, aber er drückte mir schwach die Hand, mit der ich ihm den Puls fühlte.

Solange der Wagen auf dem Sandboden fortrollte, ging alles gut; aber als wir auf den Revolutionsplatz kamen, war der Kutscher genötigt, auf dem Pflaster zu fahren, und die Stöße des Wagens schienen dem Kranken solche Schmerzen zu bereiten, daß ich seine Zeugen fragte, ob nicht einer von ihnen in der Nachbarschaft wohnte, damit man dem Verwundeten den weiten Weg bis zur Rue Taitbout ersparen könnte.

Doch bei dieser Frage, die Herr de Faverne trotz seiner geistigen Abwesenheit hörte, rief er: »Nein, nein, zu mir!«

Überzeugt, die psychische Ungeduld könnte nur die körperliche Gefahr vermehren, gab ich meinen ersten Gedanken auf und ließ den Kutscher weiterfahren.

Nach zehn unendlichen Minuten, während deren ich das Gesicht des Verwundeten bei jedem Stoß sich zusammenziehen sah, kamen wir in die Rue Taitbout Nr. 11.

Herr de Faverne wohnte im ersten Stock. Einer von den Zeugen ging voraus, um die Bedienten zu benachrichtigen, die uns ihren Herrn tragen helfen sollten; zwei Bediente in glänzender, mit Tressen und Borten reichlich verzierter Livree kamen herab.

Ich habe die Gewohnheit, die Menschen nicht nur nach ihrer eigenen Person, sondern auch nach ihrer Umgebung zu beurteilen; ich schaute daher diese zwei Diener prüfend an: Weder der eine noch der andere zeigte auch nur die geringste Teilnahme für den Verwundeten.

Sie waren offenbar erst seit kurzer Zeit im Dienst Herrn de Favernes, und dieser Dienst hatte ihnen kein Mitgefühl für ihren Herrn eingeflößt.

Wir gingen durch eine Reihe von Zimmern, die mir kostbar ausgestattet vorkamen, ohne daß ich jedoch prüfen konnte, ob sie tatsächlich so kostbar waren, wie sie schienen, und gelangten in das Schlafzimmer; das Bett war ungemacht, wie es sein Herr verlassen hatte. An der Wand, neben dem Kopfkissen, bequem zu erreichen, hingen ein paar Pistolen und ein türkischer Dolch.

Wir legten den Verwundeten auf sein Bett, die zwei Bedienten und ich, denn die zwei Zeugen, die ihre Gegenwart für unnütz hielten, hatten sich schon entfernt. Als ich sah, daß die Wunde nicht mehr blutete, verband ich ihn richtig. Sobald dies geschehen war, hieß der Verwundete durch ein Zeichen die Bedienten weggehen, und wir blieben allein.

Trotz des geringen Anteils, den ich bis jetzt an Herrn de Faverne, der mir einen gewissen Widerwillen einflößte, genommen hatte, betrübte mich die Vereinsamung, in der ich ihn zurücklassen sollte.

Ich schaute umher, heftete meine Augen auf die Tür und erwartete immer, jemand eintreten zu sehen, aber ich wurde in meiner Erwartung getäuscht.

Doch ich konnte nicht länger bei ihm bleiben, meine täglichen Geschäfte riefen mich; es war halb acht, um acht Uhr mußte ich in der Charite sein.

»Haben Sie denn niemand zu Ihrer Pflege?« fragte ich.

»Niemand«, antwortete er mit dumpfem Ton.

»Haben Sie keinen Vater, keine Mutter, keinen Verwandten?«

»Niemand.«

»Keine Geliebte?«

Er schüttelte seufzend den Kopf, und es kam mir vor, als murmelte er den Namen Luise; doch was er sagte, war so undeutlich, daß ich mir keineswegs sicher war. »Ich kann Sie nicht so verlassen«, sagte ich. »Schicken Sie mir eine Wärterin«, erwiderte der Verwundete. »Sagen Sie ihr, ich werde sie gut bezahlen.« Ich stand auf, um ihn zu verlassen. »Sie gehen schon?« fragte er.

»Ich muß, ich habe meine Kranken; wären es Reiche, so hätte ich vielleicht das Recht, sie warten zu lassen; doch es sind Arme, und ich muß pünktlich sein.« »Sie werden im Verlauf des Tages wiederkommen, nicht wahr?« »Ja, wenn Sie es wünschen.« »Gewiß, und so bald als möglich, nicht wahr?« »So bald als möglich.« »Sie versprechen es mir?« »Ich verspreche es Ihnen.« »Gut.«

Ich ging zwei Schritte zur Tür, der Verwundete machte eine Bewegung, als wollte er mich zurückhalten und den Mund öffnen. »Was wünschen Sie?« fragte ich. Er ließ seinen Kopf wieder sinken, ohne zu antworten. Ich näherte mich ihm.

»Sprechen Sie«, fuhr ich fort. »Wenn es in meiner Macht liegt, Ihnen einen Dienst zu leisten, werde ich es tun.« Er schien einen Entschluß zu fassen. »Sie haben mir gesagt, die Wunde wäre nicht tödlich?« »Ich habe es gesagt.«

»Können Sie mir dafür einstehen?«

»Ich glaube; wenn Sie jedoch irgendeine Anordnung zu treffen haben .«

»Nicht wahr, das heißt, ich könnte jeden Augenblick sterben?«

Und er wurde noch bleicher, kalter Schweiß perlte an seinem Haaransatz.

»Ich habe Ihnen gesagt, die Wunde wäre nicht gefährlich, zu gleicher Zeit bemerkte ich aber auch, sie wäre bedenklich.«

»Mein Herr, nicht wahr, ich darf Vertrauen zu Ihrem Wort haben?«

»Man muß diejenigen, an denen man zweifelt, nicht fragen .«

»Nein, nein, ich zweifle nicht an Ihnen. Nehmen Sie«, fügte er hinzu, indem er mir einen Schlüssel bot, den er von einer um den Hals hängenden Kette löste, »öffnen Sie mit diesem Schlüssel die Schublade jenes Sekretärs dort.«

Ich tat, was er von mir verlangte; er erhob sich auf einen Ellenbogen; alles, was ihm von Leben blieb, schien sich in seinen Augen zusammengedrängt zu haben.

»Sie sehen ein Portefeuille?« sagte er.

»Hier ist es.«

»Es ist voll von Familienpapieren, die nur mich interessieren; Doktor, schwören Sie mir, dieses Portefeuille, wenn ich sterbe, in das Feuer zu werfen.«

»Ich verspreche es Ihnen.«

»Ohne die Papiere zu lesen?«

»Das Portefeuille ist mit einem Schlüssel geschlossen.«

»Ein solches Schloß ist leicht zu öffnen.«

Ich legte das Portefeuille wieder hin. Obgleich das Wort beleidigend war, hatte es mir mehr Ekel als Zorn eingeflößt.

Der Kranke sah, daß er mich verletzt hatte.

»Verzeihen Sie«, sagte er, »ich bitte Sie tausendmal um Verzeihung; der Aufenthalt in den Kolonien hat mich mißtrauisch gemacht.

Vergeben Sie, nehmen Sie das Portefeuille wieder, und versprechen Sie mir, es zu verbrennen, wenn ich sterbe.«

»Ich verspreche es Ihnen zum zweitenmal.«

»Ich danke.«

»Ist dies alles?«

»Sind in derselben Schublade nicht mehrere Banknoten?«

»Ja, zwei von tausend, drei von fünfhundert.«

»Ich bitte, geben Sie sie mir, Doktor.«

Ich nahm die Geldscheine und gab sie ihm; er zerknitterte sie und machte eine runde Kugel daraus, die er unter sein Kopfkissen steckte.

»Ich danke«, sagte er, erschöpft durch die Anstrengungen. Dann sank er zurück und murmelte: »Ah, Doktor, ich glaube, ich sterbe. Doktor, retten Sie mich, und diese fünf Scheine gehören Ihnen, das Doppelte, das Dreifache, wenn es sein muß ... Ah ...!«

Ich ging auf ihn zu; er war abermals ohnmächtig. Ich läutete einem Bedienten, während ich den Verwundeten an einem Fläschchen mit englischem Salz riechen ließ. Nach einigen Augenblicken fühlte ich an der Bewegung seines Pulses, daß er wieder zu sich kam.

»Diesmal noch nicht«, murmelte er; dann öffnete er die Augen, schaute mich an und fügte hinzu: »Ich danke, Doktor, daß Sie mich nicht verlassen haben.«

»Doch nun muß ich Sie aber wirklich verlassen«, erwiderte ich.

»Bitte kommen Sie bald zurück.«

»Gegen Mittag werde ich hier sein.«

»Was meinen Sie, habe ich bis dahin mit irgendwelchen Gefahren zu rechnen?«

»Ich glaube nicht. Hätte der Degen eine tödliche Wunde geschlagen, wären Sie jetzt schon tot; so aber werden Sie es überstehen.«

»Und Sie schicken mit eine Wärterin?«

»Auf der Stelle; mittlerweile darf Sie jedoch Ihr Bedienter nicht verlassen.« »Gewiß«, sagte der Lakai, »ich kann beim gnädigen Herrn bleiben.«

»Nein, nein«, rief der Verwundete. »Gehen Sie zu Ihrem Kameraden, ich wünsche zu schlafen; wenn Sie dableiben, hindern Sie mich daran.«

Der Lakai ging hinaus.

»Es ist nicht klug, allein zu bleiben«, sagte ich.

»Ist es nicht unklüger, mit einem Burschen zu bleiben, der mich ermorden kann, um mich zu bestehlen?« erwiderte er. »Das Loch ist gemacht«, fügte er mit leiser Stimme hinzu. »Schiebt man einen Degen in die Wunde, läßt sich das Herz finden, das mein Gegner verfehlt hat.«

Ich zitterte bei dem Gedanken, der den Geist dieses Menschen durchzuckt hatte; wer war er denn, daß ihm solche Ideen kamen?

»Nein«, fuhr er fort, »nein, im Gegenteil, schließen Sie mich ein, nehmen Sie den Schlüssel, geben Sie ihn der Wärterin, und empfehlen Sie ihr, mich weder bei Tag noch bei Nacht zu verlassen; nicht wahr, es ist eine ehrliche Frau?«

»Ich bürge für sie.«

»Nun gut, so gehen Sie; auf Wiedersehen - um Mittag.«

Ich ging hinaus und schloß ihn seiner Bitte gemäß ein.

»Doppelt«, rief er, »doppelt.«

Ich drehte den Schlüssel noch einmal um.

»Meinen Dank«, sprach er mit schwacher Stimme. Ich entfernte mich.

»Euer Herr will schlafen«, sagte ich zu den Lakaien, die im Vorzimmer lachten, »und da er fürchtet, ihr könntet bei ihm eintreten, ohne gerufen zu sein, hat er mir den Schlüssel für die Wärterin übergeben, die hierherkommen wird.«

Die Lakaien wechselten einen seltsamen Blick, antworteten aber nichts.

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