Nachwort

Wie im »Grafen von Monte Christo«, dem wohl bekanntesten Roman Alexandre Dumas', wird auch in diesem vom Umfang her bescheidenen Bericht über das Schicksal des Galeerensträflings Gabriel Lambert eine Zeit lebendig, die nach der Revolution von 1789 und der Konsolidierung der bürgerlichen Herrschaft durch Napoleon I. zu einer stürmischen wirtschaftlichen Entwicklung und einer tiefgreifenden sozialen Umschichtung führte. Als nach der Schlacht bei Waterloo wieder die Bourbonen mit Ludwig XVIII. die Macht in Frankreich übernahmen, gelang es ihnen zwar, den korrupten Adel zu rehabilitieren und ihm eine Reihe von politischen Ämtern zu übertragen. Die Bourgeoisie ließ sich jedoch aus ihren im Zuge der industriellen Revolution in der Wirtschaft, im Handel und in den Banken eroberten oder gefestigten Positionen nicht mehr verdrängen. Insbesondere die Finanzbourgeoisie entwickelte sich zur führenden Kraft innerhalb der bürgerlichen Klasse und meldete ihren Anspruch auf die politische Herrschaft, der Ablösung der re-staurativen Kräfte und auf Übernahme der Regierung »durch die Bankiers« an. Wie sehr das Geld in dieser Zeit der zwanziger Jahre die Menschen korrumpierte, zeigt Balzac eindrucksvoll in seiner Geschichte vom Wucherer Gobseck, der durch sein Vermögen als »einer der zehn schweigsamen und unbekannten Könige von Paris« in allen Gesellschaftskreisen seinen unheilvollen Einfluß ausüb-te, und für die folgende Zeit in Romanen wie »Eugenie Grandet«, »Vater Goriot« und »Verlorene Illusionen«.

Als Alexandre Dumas im Jahre 1844 seinen »Gabriel Lambert« veröffentlichte, lagen diese Romane Balzacs bereits vor. Sosehr sich bei beiden Schriftstellern die thematischen Voraussetzungen und die literarischen Absichten auch ähneln, so unterschiedlich gehen doch beide in der Auswahl des darzustellenden Wirklichkeitsausschnitts vor. Ging es Balzac um eine wahrheitsgetreue Beschreibung der modernen bürgerlichen Gesellschaft durch die Erfassung aller für sie typischen Charaktere, so versuchte Dumas in Werken wie »Gabriel Lambert« seine Leser durch die Darstellung der außergewöhnlichen Schicksale derer zu gewinnen, die am »Rande der Gesellschaft« lebten, als Außenseiter ihre Zeit bewältigten und am Wohlstand der neureichen Bourgeois teilzuhaben versuchten.

Alexandre Dumas war dafür bekannt, daß er von Kindheit an außerordentlich belesen war, wobei er alles verschlang, was ihm in die Hände kam. So war er in der Zeit, da er in Paris als Schreiber beim Herzog von Orleans arbeitete, auch auf die Aufzeichnungen eines ehemaligen Archivars der Pariser Polizeibehörden gestoßen, die unter dem Titel »Erinnerungen aus den Polizeiarchiven von Paris« im Druck erschienen waren. In diesen Berichten des Jaques Peuchet fand Dumas den Fall des Schuhmachers Picaud, der ihn zu dem Roman über den Grafen von Monte Christo inspirierte, und hier war das Schicksal einer Reihe von jungen Leuten nachzulesen, die versucht hatten, durch Intrigen, Betrug und Verbrechen ebenso zu Reichtum zu gelangen wie die Kaufleute, Fabrikbesitzer und Spekulanten, die gewissenlos, aber mit Hilfe und Billigung des von Napoleon eingeführten, nur nach dem Kriterium des Besitzes rechtsprechenden »Code civil« - des alle feudalen Rechtsvorstellungen aufhebenden neuen Zivilgesetzbuches - ihre Gegner niederkonkurriert, in ihrer gesellschaftlichen Stellung und häufig auch physisch vernichtet hatten. Nachdem der Differenzierungsprozeß zwischen der Finanzoligarchie einerseits und mit mittleren und Kleinbürger-tum andererseits seinen Höhepunkt erreicht hatte, versuchten die Vertreter der Großbourgeoisie mit allen Mitteln zu verhindern, daß sich der Kreis der Privilegierten vergrößerte. Die »leichteste« Art, reich zu werden und damit in die »oberen« Gesellschaftsschichten einzudringen, nämlich die Banknotenfälschung, wurde mit dem Tode bestraft.

Der Bauernjunge, von dem uns Marie rückblickend berichtet, ist zunächst unser Autor selbst. Keineswegs in autobiographischer Absicht geschrieben, vermittelt uns diese Erzählung doch eine Reihe von Erfahrungen, die Dumas als junger Mensch im Umgang mit seinen Zeitgenossen gemacht hat. Die schöne Handschrift ist beiden eigen; von Dumas wird berichtet, daß er einen sehr mittelmäßigen Schulmeister für Mathematik hatte, der ihm dafür aber seine großartigen Schreibkünste beibrachte. Beide, der junge Alexandre und der junge Gabriel, glauben dieses Talent nur in der Hauptstadt Paris gebührend auswerten zu können. Doch während Gabriel zum Verbrecher wird, erhält unser Autor im Jahre 1823 auf Empfehlung eines Freundes seines verstorbenen Vaters, des Generals Foy, eine Anstellung als Schreibgehilfe im Sekretariat des Herzogs von Orleans. Hier in Paris unterhält Dumas bald Beziehungen zu den verschiedensten Vertretern des kulturellen Lebens; die Comedie Fran^aise wird auf ihn aufmerksam und inszeniert seine Werke: historische Stücke wie die Geschichte um das Leben der Königin Christina von Schweden oder das Prosadrama »Heinrich III. und sein Hof«. Diese romantischen Stücke machen ihn mit einem Schlage bekannt. Sie leiten eine literarische Produktion ein, die wegen ihres gewaltigen Umfangs von Kritikern oft als »Fließbandarbeit« bezeichnet wurde. So entstehen in den vierziger Jahren im Durchschnitt zwei bis drei Theaterstücke und drei bis vier Romane jährlich, dazu kommen Chroniken, umfangreiche Reiseberichte, literarische und historische Studien.

Tatsächlich hat es Alexandre Dumas wie kaum ein anderer seiner Zeit verstanden, die technischen Möglichkeiten unter den Bedin-gungen der von Napoleon eingeleiteten industriellen Revolution für die Produktion von Literatur auszunützen: Seine Romane waren in kürzester Zeit ausgedruckt, erschienen serienweise und in hoher Auflage. Daß das Geschäftsprinzip und das Streben nach schnellem, maximalem Gewinn an erster Stelle stand, hatte Konsequenzen für die Qualität. Dumas »schrieb sich reich«, baute sich ein luxuriöses Schloß, das er nach seinem Helden »Monte Christo« nannte, und träumte von einem Theater, das nur seine Stücke spielte. So leicht, wie er das Geld verdiente, floß es ihm wieder aus den Händen. Ihm blieb der zweifelhafte Ruhm eines Schriftstellers, dessen Werke man zwar gern las (neben dem »Monte Christo« die »Drei Musketiere«, »Zwanzig Jahre später«, »Die Königin Margot« und viele andere), der aber im Vergleich mit seinen literarischen Zeitgenossen Chateaubriand, Victor Hugo, Charles Nodier, Honore de Balzac, Alfred de Musset, Prosper Merimee und vielen anderen immer nur naserümpfend, mit Distanz und manchmal gar mit etwas Verachtung genannt wurde.

In den letzten Jahren haben sich auch die marxistischen Literaturwissenschaftler in Frankreich um die Aufwertung und um eine echte Einordnung Alexandre Dumas' in die Geschichte und Literaturgeschichte seiner Zeit bemüht. Die bekannte kulturpolitische Monatsschrift »Europe« veröffentlichte im Jahre 1970, zum hundertsten Todestage des Schriftstellers, ein umfangreiches Sonderheft »Alexandre Dumas«, und 1973 legte der Marxist Maurice Bouvier-Ajam eine Studie mit dem Titel »Alexandre Dumas oder hundert Jahre später« vor.

Diese intensive Beschäftigung mit unserem Autor kam einer Neuentdeckung und Neubewertung seines Lebens und seines literarischen Werkes gleich. Wird es auch niemandem einfallen, die durch die vordergründige Orientierung und die Beschränkung auf das außergewöhnliche Abenteuer gesteckten Grenzen dieses Schriftstellers zu übersehen, so ist doch nicht von der Hand zu weisen, daß Dumas seine Zeit sehr kritisch gesehen und immer an der politischen

Entwicklung seiner Heimat teilgenommen hat. Wenige Wochen nach der Julirevolution 1830 bescheinigte man ihm, daß er sich als »hervorragender Patriot von Paris« ausgezeichnet habe. 1848 versuchte er auf die politische Bühne zurückzukehren. Als Napoleon III. nach seinem Staatsstreich an der Macht ist, zieht es Dumas vor, im Ausland zu leben. Ein echtes Interesse am gesellschaftlichen Fortschritt verbindet sich bei ihm mit einer liberalen und - wie er immer wieder betont - republikanischen Grundhaltung. Deshalb gelingt ihm auch in einigen Werken der Durchbruch zu einer kritisch-realistischen Gestaltung, die etwa im »Gabriel Lambert« im Ansatz zu erkennen ist.

Auch diese Geschichte stellt wieder einen Außenseiter, ein merkwürdiges Schicksal in den Mittelpunkt. Der Autor wird zur Darstellung einer Reihe sonderbarer, ungewöhnlicher Konstellationen verleitet - doch entsteht hier das Bild einer im Umbruch begriffenen Gesellschaft, wie es deutlicher und instruktiver kaum zu entwerfen ist. Die verzweifelte Anklage, mit der sich Gabriel angesichts des Todes an seine Richter wendet, trifft alle unehrenhaften, durch Betrug und Spekulation an die Macht gekommenen Bourgeois: »Ich wollte reich werden - ich wollte auch reich werden, ich wollte auch ein Haus haben, Wagen und Pferde und einen Platz in der Oper. Und deshalb soll ich sterben. Wie sind denn alle die anderen reich geworden, die Bankiers, der Abgeordnete, der mir Versprechungen gemacht, der Richter, der mich verurteilt hat ... Sie verachten mich, weil ich Geld gemacht habe - und was haben sie getan? Sie haben spekuliert, sie haben gestohlen, geraubt, gemordet; aber einer deckt den anderen, daß nichts laut wird von ihren Verbrechen.« Durch die gesellschaftlichen Umstände selbst zum Verbrechen verleitet, wird Gabriel das Opfer einer Entwicklung, die wie ihn damals Hunderttausende Franzosen ruinierte: Das Wolfsgesetz »jeder gegen jeden« betraf nicht nur die »oberen Kreise« im Kapitalismus der »freien Konkurrenz«, sondern wirkte sich in allen Kreisen der Bevölkerung aus.

Bei Dumas spiegelt sich wie bei vielen seiner Zeitgenossen eine Ideologie wider, die auf Veränderungen und Reformen im Rahmen der bestehenden kapitalistischen Ordnung hoffte: Dumas läßt auf Grund seiner Erfahrungen in der Schreibkanzlei des nach der Julirevolution von 1830 inthronisierten Bürgerkönigs Louis-Philippe, derzeit noch Herzog von Orleans, seinen Helden Gabriel alle Hoffnungen auf ihn setzen. Wenn der König ihn nicht begnadigte, würde es sicher der Herzog tun. »Jeder spricht von seinem guten Herzen«, heißt es bei Dumas. In der Tat erschien nicht nur der die politische Herrschaft anstrebenden Finanzoligarchie die Dynastie Orleans, die zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie bereit war, als die einzig mögliche Alternative zur Restauration der Bourbonen. Auch große Teile des Volkes setzten ihre Hoffnungen auf einen politischen Wandel, durch den die Macht der Bourbonen gebrochen werden sollte. Nach dem Machtantritt Ludwigs XVIII. im Jahre 1815 und unter seinem Bruder Karl X. war ein ganzes System von Unterdrückungsorganen geschaffen worden, deren Aufgabe es war, jede Art von Opposition im Volk auszuschalten. 1817 wird die »brigade surete«, die berüchtigte Sicherheitspolizei, geschaffen, deren Allmacht im Staat fast unumschränkt war und die unter anderem Jean Valjean, den großen Helden aus Victor Hugos Roman »Die Elenden«, zu einem ständig Gehetzten und Gejagten machte. An der Spitze dieser Geheimpolizei stand der vom Staat begnadigte und wegen seiner Brutalität und rücksichtslosen Verfolgung aller demokratischen Elemente in den zwanziger Jahren mit einem traurigen Ruhm in die französische Geschichte eingegangene Zuchthäusler Vidocq, und der V. unseres Buches steht ihm in nichts nach. Gibt doch der Erzähler selbst zu, daß er schon bei der Nennung dieses Namens erschauerte. Die Arbeit als Bagnosträfling war in der Zeit der Restauration einer Verurteilung zu völliger Rechtlosigkeit, als Abwürdigung zum Dasein eines Sklaven, der Willkür der Aufseher und Arbeitgeber ausgeliefert, gleichzusetzen. Die »zur Strafe der Kette« verurteilten Schwerverbrecher wurden gezwungen, im Inte-resse des Staates die schwersten und schmutzigsten Arbeiten in den Häfen, in den Bergwerken und bei der Trockenlegung von Sümpfen durchzuführen. Seit 1818 werden sie indes auch als billige Profitquelle an Kaufleute, Fabrikanten und Handwerker ausgeliehen. Seit 1819 ist der größte Teil der zum Bagno Verurteilten im Hafen von Toulon konzentriert; um sie maximal ausbeuten zu können, wird sogar eine Art Berufsausbildung (zu Zimmerleuten, Schmieden, Tischlern) in den Strafanstalten eingeführt.

Hier in Toulon erkennt auch der Erzähler in einem Bagnosträfling seinen alten Bekannten Gabriel Lambert wieder. Dieses merkwürdige Wiedersehen im Jahre 1835 geschieht nun zu einer Zeit, als für die Bagnohaft sich wesentlich leichtere Bedingungen eingebürgert hatten. Durch Nachlässigkeit und Desinteresse der Justizbehörden konnten die Sträflinge in der Zeit der Julimonarchie eine Reihe von Vergünstigungen für sich durchsetzen; sie stellten für Besucher der Strafanstalten Gebrauchsgegenstände her, die als »Touristensouvenirs« reißenden Absatz fanden: Hüte, Sandalen, Etuis, holzgeschnitzte Zigarrenspitzen. Die große zeitgenössische Enzyklopädie des Pierre Larousse berichtet, daß sich bestimmte Strafanstalten dadurch in Basare mit einem beachtlichen Umsatz für die Gefangenen verwandelt hatten!

Auch Dumas schildert uns die Gruppe der Galeerensträflinge als einen fast »gemütlichen« Verein von Gefangenen, die zwar angekettet sind, denen es aber möglich ist, selbst auf die Art ihrer Arbeit Einfluß zu nehmen, Briefe zu schreiben und unerlaubt mit dem Erzähler Kontakt aufzunehmen. Gabriel Lambert verbüßt seine Strafe unter erträglicheren Bedingungen als seine Leidensgenossen zehn Jahre zuvor. Doch im Widerspruch zwischen dem milderen Strafvollzug und der Tatsache, daß Gabriel an dieser Justiz zerbricht, liegt die tiefe Tragik seines Schicksals begründet. Die Todesstrafe hätte seine Schuld gesühnt. Die Begnadigung reut ihn schließlich, weil er erkennt, daß er für sein Leben gebrandmarkt, aus der Gesellschaft ausgestoßen wurde. Das Bagno ist für ihn keine mildere Strafe, weil es als Strafinstrument der Bourgeoisie keine Gelegenheit zur Wiedergutmachung seiner Schuld bietet. So ist »Gabriel Lambert« bei aller Abenteuerlichkeit der Handlung die tragische Geschichte eines jungen Mannes, der den Charakter seiner Epoche verkannt hat und auf Menschlichkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit noch dort hofft, wo sie von der Großbourgeoisie längst verspielt wurden.

Wenn der Leser diesen kleinen Band aus der Hand legt, hat er nicht den »typischen« Dumas, aber doch gewiß etwas vom Besten seiner umfangreichen literarischen Produktion kennengelernt.

Berlin, im Juni 1975

Dr. Hans-Jürgen Hartmann


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