15. Kapitel Bicetre

Sechs Monate waren seit den von mir erzählten Ereignissen vergangen, und mehr als einmal hatte ich mich, sosehr ich mich auch bemühte, sie zu vergessen, in Gedanken mit ihnen beschäftigt, als ich gegen sechs Uhr abends - ich wollte mich eben zu Tisch setzen - folgenden Brief erhielt:

»Mein Herr!

In dem Augenblick, wo er vor dem Thron Gottes erscheinen soll, wohin ihn ein Todesurteil führt, bittet Sie der unglückliche Gabriel Lambert, der eine tiefe Erinnerung für Ihre Güte bewahrt hat, um einen letzten Dienst; er hofft, Sie werden die Gefälligkeit haben, sich vom Präfekten die Erlaubnis, ihn besuchen zu dürfen, geben zu lassen, um noch einmal in seinen Kerker hinabzusteigen. Es ist keine Zeit zu verlieren: Die Hinrichtung findet morgen früh um sechs Uhr statt.

Ich habe die Ehre zu sein

Abbe .

Gefängnispriester.«

Ich hatte einige Gäste zu Tisch.

Ich zeigte ihnen den Brief, erklärte ihnen mit ein paar Worten, worum es ging, und bat einen meiner Gäste, mich als Hausherrn und Gastgeber zu vertreten. Dann stieg ich sogleich in meinen Wagen und fuhr weg.

Wie ich vorausgesehen hatte, machte es mir keine Mühe, in das Gefängnis eingelassen zu werden. Gegen sieben Uhr war ich also in Bicetre.

Es war das erstemal, daß ich über die Schwelle dieses Gefängnisses schritt, das, seitdem die Hinrichtungen nicht mehr auf dem Greve-platz stattfanden, der letzte Aufenthalt der zum Tode Verurteilten geworden war.

Ich hörte auch nicht ohne tiefe Beklemmung, nicht ohne eine gewisse persönliche Angst, von der auch der ehrlichste Mann nicht frei ist, wie sich die mächtigen Türen hinter mir schlossen.

Es war, als wäre hier jedes Wort eine Klage, jedes Geräusch ein Seufzer, man atmete eine andere Luft, und als ich dem Gefängnisdirektor die Erlaubnis, seinen Hausgenossen zu besuchen, vorwies, war ich sicher genauso bleich und zitterte ebenso wie die Gäste, die er gewöhnlich empfängt.

Kaum hatte er meinen Namen gelesen, unterbrach er sich, um mich zum zweitenmal zu begrüßen.

Dann rief er einen Schließer und sagte zu ihm: »Fran^ois, führen Sie den Herrn in die Zelle Gabriel Lamberts, ich habe ihm erlaubt, mit dem Verurteilten allein zu bleiben.«

»In welchem Zustand finde ich den Unglücklichen?« fragte ich.

»Wie ein Kalb, das man auf die Schlachtbank führt, so hat man mir wenigstens gesagt; doch Sie werden es selbst sehen: Er ist so niedergeschlagen, daß man es für unnötig gehalten hat, ihm eine Zwangsjacke anzuziehen.«

Ich seufzte. V. hatte sich in seinen Prophezeiungen nicht getäuscht, und im Angesicht des Todes war Gabriel Lamberts Mut nicht gewachsen.

Nachdem ich dem Direktor zum Dank für sein Entgegenkommen zunickte, folgte ich dem Schließer. Der Direktor setzte seine durch mich unterbrochene Partie Piquet fort.

Wir durchschritten einen kleinen Hof, traten in einen düsteren Gang und stiegen ein paar Stufen hinab.

Wir fanden einen zweiten Gang, in dem Kerkerknechte wachten, die von Minute zu Minute ihr Gesicht an vergitterte Öffnungen drückten.

In diesen Zellen fanden sich die zum Tod Verurteilten, deren letzte Augenblicke man so überwacht, damit sie sich nicht durch Selbstmord dem Schafott entziehen.

Der Schließer öffnete eine von diesen Türen, und ich blieb wie in einem letzten Gefühl des Schreckens unbeweglich stehen.

»Treten Sie ein«, sagte er. »Hier ist es. He! Junger Mann«, fügte er hinzu. »Sie haben Glück gehabt, hier ist der Mann, nach dem Sie verlangten.«

»Wer? Der Doktor?« fragte eine Stimme.

»Ja, mein Herr«, antwortete ich eintretend, »ich bin zu Ihnen gekommen.«

Ich konnte nun mit einem Blick die elende, finstere Nacktheit des Kerkers umfassen.

Im Hintergrund stand ein armseliges Bett, über dem dicke Gitterstangen das Vorhandensein eines Luftloches andeuteten.

Die durch die Zeit und den Rauch geschwärzten Wände waren auf allen Seiten mit Namen beschrieben, welche die Bewohner dieses furchtbaren Ortes eingekratzt hatten. Einer von ihnen, der wohl eine beweglichere Phantasie besaß als die übrigen, hatte das Bild einer Guillotine auf die Wand gezeichnet.

An einem durch eine rauchige Lampe beleuchteten Tisch saßen zwei Männer. Der eine war ein Mann von achtundvierzig bis fünfzig Jahren, dem das weiße Haar das Aussehen eines Greises von siebzig verlieh.

Der andere war der Verurteilte.

Als er mich erblickte, stand er auf, doch Gabriels Vater blieb unbeweglich sitzen, als ob er weder sehen noch hören könnte.

»Ah! Doktor«, sagte der Verurteilte, der sich mit der Hand auf den Tisch stützte, um nicht umzufallen, wie mir schien.

»Sie haben es also auf sich genommen, mich zu besuchen? Ich kannte wohl Ihr gutes Herz, und ich gestehe, dennoch zweifelte ich daran, daß Sie mich besuchen würden.«

»Mein Vater, mein Vater«, rief der Verurteilte dann, indem er dem Greis auf die Schultern klopfte, »es ist der Doktor Fabien, von dem ich so oft gesprochen habe. - Entschuldigen Sie ihn«, fuhr der junge Mann fort, der sich nun zu mir zurückwandte und auf Thomas Lambert deutete, »meine Verurteilung hat ihm einen solchen Schlag beigebracht, daß ich glaube, er wird wahnsinnig.«

»Sie haben mich zu sprechen gewünscht, mein Herr, und ich habe mich beeilt, Ihrer Aufforderung zu folgen«, sagte ich. »Ein Arzt hat die Pflicht, solchen Bitten nachzukommen, es ist keine Güte.«

»Nun, Doktor«, erwiderte der Verurteilte, »Sie wissen ... morgen .«

Und er fiel wieder auf seinen Schemel zurück, wischte seine schweißnasse Stirn mit einem durchfeuchteten Taschentuch und setzte ein Glas Wasser an die Lippen, von dem er nur ein paar Tropfen trank; seine Hand zitterte so sehr, daß ich das Glas an seinen Zähnen klirren hörte.

Während des kurzen Stillschweigens, das nun eintrat, schaute ich ihn aufmerksam an.

Nie hatte die schmerzlichste Krankheit eine gräßlichere Veränderung bei einem Menschen hervorgebracht.

War er mir in der Kleidung eines Dandys immer etwas lächerlich erschienen, so war er in der Zuchthaustracht nur noch ein bemitleidenswertes Geschöpf. Stets sehr hager für seine lange Gestalt, war sein Körper noch mehr abgezehrt. Die hohlen Augen schienen in Blut zu schwimmen. Das Gesicht war leichenblaß, und der Schweiß hatte die Haare an die Stirn und an die Schläfen geklebt.

»Mein Vater«, sagte er, den immer noch unbeweglichen, stummen Greis schüttelnd, »mein Vater, es ist der Doktor.«

»Wie?« murmelte der Greis.

»Ich sage Euch, daß es der Doktor ist«, fuhr er, die Stimme hebend, fort, »und ich möchte gern mit ihm allein sprechen. Ei! Mein Gott«, rief er ungeduldig, »wir haben keine Zeit zu verlieren, steht auf und laßt uns allein.«

Dann griff er ihm unter die Achseln und versuchte ihn zum Aufstehen zu bewegen.

»Was gibt es? Was gibt es?« fragte der Greis. »Kommen sie schon, dich zu holen? Es ist noch nicht Zeit, erst morgen früh um sechs Uhr.«

Der Verurteilte fiel auf seinen Schemel zurück und stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Hören Sie, Doktor«, sprach er, »bringen Sie ihn zur Vernunft, sagen Sie ihm, daß ich mit Ihnen allein zu sein wünsche.«

Und er schluchzte, streckte die Arme aus und legte das Gesicht auf den Tisch.

Ich bedeutete dem Schließer durch ein Zeichen, er möge mir helfen. Er näherte sich mit mir dem Greis.

»Mein Herr«, sagte ich, »ich bin ein alter Bekannter Ihres Sohnes. Er will mir ein Geständnis anvertrauen; haben Sie die Güte, uns allein zu lassen.«

Zu gleicher Zeit hoben wir ihn auf, jeder an einem Arm, um ihn in den Gang zu führen.

»Das ist es nicht, was man mir versprochen hat«, rief er. »Man hat mir versprochen, ich könnte bis zum letzten Augenblick bei ihm bleiben. Ich habe die Erlaubnis erhalten, warum will man mich wegführen?«

Und durch das Übermaß des Schmerzes wieder zu sich gekommen, warf sich der Greis auf den halb auf dem Tisch liegenden jungen Mann.

»Er wird nicht gehen«, murmelte dieser, »und er muß doch einsehen, daß jede Minute für mich kostbarer ist als ein Jahr in dem Leben eines anderen.« »Verstehen Sie wohl, man will Ihnen Ihren Sohn nicht entreißen, mein Herr«, sagte ich. »Ihr Sohn wünscht nur einen Augenblick mit mir allein zu bleiben.«

»Ist das wahr, Gabriel?« fragte der Greis.

»Ei, mein Gott, ja, ich wiederhole es Euch seit einer Stunde.«

»Dann ist es gut, ich gehe; doch ich will ganz in der Nähe seines Kerkers bleiben.«

»Sie können sich hier im Gang aufhalten.«

»Und ich kann zurückkehren?«

»Sobald es Ihr Sohn verlangt.«

»Sie wollen mich nicht täuschen, Doktor? Einen Vater zu hintergehen wäre gräßlich.«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß Sie in einem Augenblick zurückkehren können.«

»Dann verlasse ich Sie«, sagte der Greis; er drückte die Hände auf die Augen und ging hinaus.

Der Wärter ging gleichzeitig mit ihm hinaus und schloß die Tür.

Ich setzte mich auf den Platz, den der Greis verlassen hatte.

»Nun, Herr Lambert«, sagte ich, »wir sind allein, was kann ich für Sie tun? Sprechen Sie.«

Er hob langsam den Kopf, stützte sich auf die Hände, schaute mit irren Augen umher und heftete dann auf mich einen Blick, der immer starrer wurde.

»Sie können mich retten«, sagte er.

»Ich«, rief ich bebend, »wie denn?«

Er griff nach meiner Hand.

»Still«, sagte er, »und hören Sie mich.«

»Ich höre.«

»Erinnern Sie sich, daß wir eines Tages in der Rue Taitbout saßen, wie wir hier sitzen, und daß ich Ihnen, auf eine Banknote geschrieben, die Worte zeigte: Das Gesetz bestraft den Fälscher mit dem Tod.«

»Ja.«

»Erinnern Sie sich, daß ich mich damals über die Härte des Gesetzes beklagte und daß Sie mir sagten, der König beabsichtige den Kammern eine Verwandlung der Strafe vorzuschlagen.«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Nun ja! Ich bin zum Tode verurteilt, vorgestern ist mein Gesuch, das Urteil zu revidieren, verworfen worden; es bleibt mir keine Hoffnung mehr als die auf ein Gnadengesuch, das ich an den König geschickt habe.«

»Ich verstehe.«

»Sie sind noch immer einer der Ärzte am Hofe des Königs?«

»Ja, und ich habe sogar heute Dienst.«

»Nun, mein lieber Doktor, als Arzt des Königs können Sie diesen in jeder Stunde sehen; ich bitte Sie, begeben Sie sich zu ihm, Sie kennen mich, haben Sie den Mut, und verlangen Sie meine Begnadigung von ihm; ich flehe Sie im Namen des Himmels darum an.«

»Doch diese Begnadigung«, entgegnete ich, »vorausgesetzt, ich würde darum bitten, wird immer nur eine Strafverwandlung sein.«

»Ich weiß es wohl.«

»Und täuschen Sie sich nicht, diese Strafverwandlung wird darin bestehen, daß Sie auf Lebenszeit zu den Galeeren verdammt werden.«

»Was wollen Sie?« murmelte der Verurteilte mit einem Seufzer. »Das ist immer noch besser als der Tod.«

Ich fühlte nun, wie auch mir der kalte Schweiß auf der Stirn perlte.

»Ja«, sprach Gabriel, »ja, ich begreife, was in Ihnen vorgeht; Sie verachten mich, Sie finden mich feig, Sie sagen, es sei hundertmal besser zu sterben, als sein Leben lang, besonders wenn man erst sechsundzwanzig Jahre alt ist, die schändliche Kettenkugel zu schleppen.

Aber was wollen Sie, seitdem dieser Spruch gefällt worden ist, habe ich nicht eine Stunde geschlafen: Schauen Sie meine Haare an . die Hälfte ist weiß geworden . Ja, ich habe Angst vor dem Tod. Warum soll gerade ich sterben. Was habe ich denn getan? Ich habe Banknoten gefälscht, nun gut. Ich wollte reich werden - ich wollte auch reich werden, ich wollte auch ein Haus haben, Wagen und Pferde und einen Platz in der Oper. Und deshalb soll ich sterben? Wie sind denn alle die anderen reich geworden, die Bankiers, der Abgeordnete, der mir Versprechungen gemacht, der Richter, der mich verurteilt hat. Sie sind auch nur von dort hergekommen, wo ich hergekommen bin, sie waren ein Nichts wie ich und sind jetzt große Leute. Sie verachten mich, weil ich Geld gemacht habe - und was haben sie getan? Sie haben spekuliert, sie haben gestohlen, geraubt, gemordet; aber einer deckt den anderen, daß nichts laut wird von ihren Verbrechen. Bin ich nicht genausoviel wert wie sie, habe ich nicht das gleiche Recht wie sie? Oder sind sie nur schlauer gewesen als ich und haben jetzt Angst, daß ihnen ihre Plätze streitig gemacht werden sollen? - Doktor, retten Sie mich vor dem Tod, das ist alles, was ich von Ihnen erbitte, sie mögen dann mit mir machen, was sie wollen.«

»Ich werde mich bemühen«, erwiderte ich.

»Ah, Doktor, Doktor!« rief der Unglückliche, indem er meine Hand ergriff und die Lippen darauf drückte, ehe ich Zeit hatte, sie zurückzuziehen. »Doktor, ich wußte wohl, daß Sie meine einzige, meine letzte Hoffnung sind.

Und nun verlieren Sie keine Minute mehr, gehen Sie, gehen Sie; sollte sich ein Zufall Ihrem Wunsch, den König zu sehen, widersetzen, so seien Sie im Namen des Himmels beharrlich; bedenken Sie, daß mein Leben an Ihren Worten hängt, bedenken Sie, daß es neun Uhr abends ist und daß es morgen früh um sechs geschehen soll. Neun Stunden zu leben, mein Gott! Wenn Sie mich nicht retten, nur noch neun Stunden zu leben!«

»Um elf werde ich in den Tuilerien sein.«

»Und warum erst um elf Uhr? Warum nicht auf der Stelle? Sie verlieren zwei Stunden, wie mir scheint.«

»Weil sich der König gewöhnlich um elf zurückzieht, um zu arbeiten, und weil er bis zu dieser Stunde im Empfangssalon weilt.« »Ja, und es finden sich dort hundert Personen, die plaudern, lachen und des andern Tages sicher sind, die nichts davon wissen, daß es einen Menschen ihresgleichen gibt, der sich in seinem Todeskampf zerarbeitet, in einem Kerker, bei dem Schein dieser Lampe, im Angesicht dieser Mauern, die bedeckt sind mit Namen von Leuten, die gelebt haben, wie er in diesem Augenblick lebt, und dann am anderen Tag tot waren. Sie wissen das alles nicht, diese Leute, sagen Sie ihnen, daß es so ist, damit sie Mitleid haben.«

»Ich werde tun, was ich kann, seien Sie unbesorgt.«

»Und sollte der König zögern, so wenden Sie sich an die Königin; sie ist eine fromme Frau, sie muß gegen die Todesstrafe sein! Wenden Sie sich an den Herzog von Orleans, jeder spricht von seinem guten Herzen. Er sagte eines Tages, wie man mir versichert hat, wenn er den Thron bestiege, sollte nicht eine einzige Hinrichtung mehr stattfinden. Wenn Sie sich an ihn wenden würden statt an den König?«

»Beruhigen Sie sich, ich werde tun, was nur immer zu tun ist.«

»Aber haben Sie denn wenigstens Hoffnung?«

»Die Gnade des Königs ist groß, ich hoffe auf sie.«

»Gott höre Sie«, rief er, die Hände faltend. »Oh, mein Gott! Rühren Sie das Herz desjenigen, der mich mit einem Wort töten oder begnadigen kann.«

»Gott befohlen mein Herr.«

»Gott befohlen? Was sagen Sie da? Werden Sie nicht wiederkommen?«

»Ich werde wiederkommen, wenn es mir gelungen ist.«

»Oh, daß ich Sie in dem einen oder dem anderen Fall wiedersehen würde! Mein Gott, wie schrecklich wäre es, sollte ich Sie nicht mehr sehen. Bis zum Fuß des Schafotts würde ich Sie erwarten, und welch eine Marter ist dieser Zweifel! Kommen Sie zurück, ich flehe Sie an!«

»Ich werde zurückkommen.«

»Gut«, sagte der Verurteilte, den seine Kräfte von dem Augenblick an, wo er dieses Versprechen von mir verlangt hatte, zu verlassen schienen. »Gut, ich erwarte Sie!« Und er sank schwerfällig auf seinen Stuhl nieder. Ich ging zur Tür.

»Hören Sie«, rief er, »schicken Sie mir meinen Vater, ich will nicht allein bleiben; die Einsamkeit ist der Anfang vom Tod.«

»Ich werde tun, was Sie verlangen.«

»Warten Sie; bis wann, glauben Sie, werden Sie zurück sein?«

»Ich weiß es nicht, doch ich hoffe, gegen ein Uhr morgens.«

»Soeben hat es halb zehn geschlagen, es ist unglaublich, wie schnell die Stunden vorübergehen, seit zwei Tagen besonders! In drei Stunden also, nicht wahr?«

»Ja.«

»Gehen Sie, gehen Sie; oh, ich würde Sie am liebsten zugleich bei mir behalten und gehen sehen ... Auf Wiedersehen, Doktor, auf Wiedersehen. Ich bitte Sie, schicken Sie mir meinen Vater.«

Die Empfehlung war unnötig: Sobald mich der arme Greis an der Tür erscheinen sah, stand er auch schon auf.

Der Wärter, der mich herausließ, ließ ihn hinein, und die Tür schloß sich wieder hinter ihm.

Ehe ich mich aus dem Gefängnis entfernte, sagte ich dem Direktor, ich würde wahrscheinlich im Verlauf der Nacht zurückkehren.

Mein Wagen erwartete mich vor der Tür; ich fuhr nach Hause, fand meine Freunde immer noch lustig beieinander und erinnerte mich der Worte des Unglücklichen: »Es gibt in diesem Augenblick Menschen, die lachen und nicht daran denken, daß sich einer ihresgleichen im Todeskampf zerarbeitet.«

Ich war so bleich, daß sie, als sie mich erblickten, einen Schrei des Erstaunens, beinahe des Schreckens ausstießen und mich fragten, ob mir ein Unfall zugestoßen wäre.

Ich erzählte ihnen, was vorgefallen war, und am Ende meiner Erzählung waren sie beinahe so bleich wie ich.

Dann trat ich in mein Kabinett und kleidete mich um.

Als ich herauskam, war das Spiel zu Ende.

Sie standen und sprachen miteinander; es hatte sich ein großer Streit über die Todesstrafe erhoben.

Es schlug Mitternacht, als ich wieder nach Bicetre kam; der König hatte an den Rand des Gesuches geschrieben: »Ich verwandle die Todesstrafe in lebenslängliche Zwangsarbeit.«

Der Direktor saß noch immer bei seiner Partie Piquet.

Ich sah, daß ihm die Störung, die ich ihm verursachte, sehr lästig war.

»Ich bin es«, sagte ich. »Sie haben mir zu dem Verurteilten zurückzukehren erlaubt, und ich mache Gebrauch von dieser Erlaubnis.«

»Tun Sie es«, erwiderte er. »Fran^ois, führen Sie den Herrn.«

Dann wandte er sich mit einem Lächeln tiefer Befriedigung zu seinem Mitspieler um und sagte zu ihm: »Vierzehn Damen und sieben Piques, was sagen Sie dazu?«

»Bei Gott!« antwortete der andere mit einer äußerst ärgerlichen Miene, »ich glaube, ich habe nur fünf Carreaux.«

Mehr hörte ich nicht.

Es ist unglaublich, wieviel verschiedenartige Gemütsbewegungen ein und dieselbe Stunde und ein und derselbe Ort einschließen.

Ich stieg so rasch wie möglich die Treppe hinab.

»Ich bin es!« rief ich, als ich vor der Tür stand. »Ich bin es.«

Ein Schrei antwortete auf den meinen.

Die Tür öffnete sich.

Gabriel Lambert war von seinem Sitz aufgesprungen.

Er stand mitten in seinem Kerker, bleich, die Haare gesträubt, die Augen starr, die Lippen zitterten, und er wagte es nicht, mich nach dem Erfolg zu fragen.

»Nun, wie steht es?« murmelte er endlich.

»Ich habe den König gesehen, er schenkt Ihnen das Leben.«

Gabriel gab einen zweiten Schrei von sich, griff mit den Armen umher, als wollte er eine Stütze suchen, und fiel ohnmächtig vor seinem Vater nieder, der ebenfalls aufgestanden war und nicht einmal die Arme ausstreckte, um ihn zu halten.

Ich bückte mich, um dem Unglücklichen beizustehen.

»Einen Augenblick«, sagte der Greis, indem er mich zurückhielt, »unter welcher Bedingung?«

»Wie? Unter welcher Bedingung?«

»Sie haben gesagt, der König schenke ihm das Leben, doch unter welcher Bedingung begnadigt er ihn?«

Ich suchte eine Ausflucht.

»Lügen Sie nicht, mein Herr«, sprach der Greis.

»Unter welcher Bedingung?«

»Die Todesstrafe ist in lebenslängliche Zwangsarbeit verwandelt.«

Thomas Lambert richtete sich in seiner ganzen Größe auf und ging festen Schrittes auf seinen Stock zu, der in einer Ecke stand.

»Was machen Sie?« fragte ich.

»Er bedarf meiner nicht mehr. Ich war gekommen, um ihn sterben, nicht ihn brandmarken zu sehen.

Das Schafott hätte ihn gereinigt, aber er hat das Bagno vorgezogen.«

»Mein Herr«, sagte ich.

»Lassen Sie mich gehen«, sprach der Greis mit so würdevoller Miene, daß ich zur Seite trat und ihn nicht durch ein einziges Wort zurückzuhalten versuchte.

Er entfernte sich ernsten, langsamen Schrittes und verschwand in dem Gang, ohne den Kopf noch ein einziges Mal nach seinem Sohn umzuwenden.

Es ist wahr, als Gabriel Lambert wieder zu sich kam, fragte er nicht einmal, wo sein Vater wäre.

Zwei Tage später las ich in der Zeitung von der Strafverwandlung.

Dann hörte ich nicht mehr von ihm sprechen, und ich weiß nicht, in welches Bagno man ihn gebracht hat.

Hier endete der Bericht Fabiens.

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