13. Kapitel Das Blumenmädchen

»Drei Tage später reiste ich ab; mein Vater glaubte, ich führe nach Caen, und Thomas Lambert und der Pfarrer wußten allein, daß ich mich nach Paris begab.

Ich kam durch das Dorf, wo mein Kind lebte, und nahm es zu mir.

Ich arme Närrin bedachte nicht, daß ich mit mir schon genug zu tun hatte.

Nach drei Tagen war ich in Paris.

Ich stieg in der Rue des Vieux-Augustins im Hotel de Venise ab: Es war das einzige Hotel, dessen Namen ich kannte, es war dasjenige, wo er abgestiegen und wohin ich ihm geschrieben hatte.

Hier zog ich Erkundigungen über ihn ein; man erinnerte sich seiner sehr gut: Er hatte stets in seinem Zimmer eingeschlossen gelebt und unablässig mit einem Kupferstecher gearbeitet, ohne daß man wußte, woran.

Man erinnerte sich auch, daß einige Zeit, nachdem er das Hotel verlassen hatte, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mit dem Aussehen eines Bauern, im Hotel erschienen war und dieselben Fragen gestellt hatte.

Ich erkundigte mich, wo die Oper wäre. Man erklärte mir den Weg, und ich wagte mich zum erstenmal in die Straßen von Paris.

Ich hatte folgenden Plan: Gabriel kommt in die Oper, ich erwarte vor dem Opernhaus alle Wagen, die anhalten. Steigt Gabriel aus einem der Wagen aus, frage ich den Bedienten nach seiner Adresse und schreibe ihm am anderen Tag, ich sei in Paris und wünsche ihn zu sehen.

Schon am Abend meiner Ankunft führte ich meinen Plan aus. Das war Dienstag vor acht Tagen. Ich wußte nicht, daß nur montags, donnerstags und sonnabends Vorstellungen in der Oper sind. Vergebens wartete ich auf die Öffnung. Ich erkundigte mich nach der Ursache dieser Stille und Dunkelheit. Man sagte mir, eine Vorstellung finde erst am nächsten Tag wieder statt. Den ganzen anderen Tag blieb ich mit meinem armen Kind im Hotel.

Der Abend kam, und ich ging abermals aus.

Ich glaubte, ich könnte unter der Säulenhalle warten, doch die Polizisten erlaubten es mir nicht.

Ich sah einige Frauen ungehindert umhergehen und fragte, warum man ihnen gestattete, was mir nicht erlaubt wäre; man antwortete mir, es wären Blumenmädchen.

Während ich in der größten Unruhe wartete, kamen viele Wagen; aber ich konnte die Leute, die ausstiegen, nicht recht erkennen; vielleicht war Gabriel schon unter ihnen.

Es war ein verlorener Abend, und ich mußte wieder zwei Tage warten; doch ich fügte mich darein und kehrte mit einem neuen Plan in mein Hotel zurück.

Dieser Plan bestand darin, daß ich in jede Hand einen Strauß nehmen und mich für ein Blumenmädchen ausgeben wollte.

Ich kaufte Blumen, machte zwei Sträuße und begab mich auf meinen Posten; diesmal ließ man mich frei umhergehen.

Ich näherte mich allen haltenden Wagen und prüfte aufmerksam die aussteigenden Personen.

Es war ungefähr neun Uhr, und alles schien schon angekommen zu sein, als noch ein Wagen anführ, der sich verspätet haben mußte. Als der Schlag geöffnet wurde, glaubte ich Gabriel zu erkennen.

Ich wurde von einem solchen Zittern befallen, daß ich mich auf einen Prellstein stützte, um nicht niederzusinken. Ein junger Mann, der Gabriel glich, sprang heraus; ich tat einen Schritt, um auf ihn zuzugehen, doch ich fühlte, daß ich auf das Pflaster stürzen würde.

>Um wieviel Uhr?< fragte der Kutscher.

>Um halb zwölf<, antwortete er, die Treppe hinaufsteigend.

Und er verschwand unter dem Säulengang, während sich der Wagen im Galopp entfernte.

Es war sein Gesicht, es war seine Stimme; doch wie konnte dieser elegante junge Mann mit den ungezwungenen Manieren der arme Gabriel sein? Die Verwandlung schien mir völlig unmöglich.

Und dennoch, aus der Erschütterung, die sich meiner bemächtigte, begriff ich, daß es durchaus kein anderer sein konnte.

Ich wartete.

Es schlug halb zwölf. Die ersten Besucher verließen die Oper, die Wagen fuhren einer nach dem andern vor.

Eine Gruppe, die aus einem Mann von ungefähr fünfzig Jahren, aus einem jüngeren Mann und zwei Frauen bestand, näherte sich einem Wagen; der junge Mann war Gabriel; er gab der älteren der zwei Frauen den Arm; die andere war eine reizende junge Dame.

Er stieg jedoch nicht mit ihnen in den Wagen, sondern begleitete sie nur bis zum Wagenschlag; nachdem er sich vor ihnen verbeugt hatte, trat er ein paar Schritte zurück und wartete dann, bis sein Wagen ihn abholte.

Ich hatte genügend Zeit, ihn prüfend zu betrachten, und es bestand kein Zweifel mehr, er war es; er gab laute Zeichen der Ungeduld von sich, und als der Kutscher vorfuhr, beschimpfte er ihn, daß er ihn hatte fünf Minuten warten lassen.

Ist das der demütige, schüchterne Gabriel, das Kind, das ich vor den anderen Kindern beschützt hatte?

>Wohin fährt der gnädige Herr?< fragte der Lakai, während er den Schlag schloß.

>Nach Hause<, antwortete er.

Der Wagen fuhr sogleich ab, erreichte den Boulevard und wandte sich nach rechts.

Ich kehrte in das Hotel zurück und wußte nicht, ob ich schlief oder wachte. Zuweilen kam es mir vor, als ob alles, was ich gesehen hatte, ein Traum wäre.

Zwei Tage später geschah dasselbe, nur mit dem Unterschied, daß ich diesmal, statt die Abfahrt des Wagens am Operneingang zu erwarten, mich an der Ecke de Rue Lepeletier aufstellte; der Wagen kam ein paar Minuten vor Mitternacht vorbei; er fuhr ein ganzes Stück den Boulevard entlang und bog dann in die zweite Straße rechts.

Ich ging bis zu dieser Straße, um zu erfahren, wie sie hieß; es war die Rue Taitbout.

Wiederum zwei Tage später wartete ich an der Ecke der Rue Taitbout. Einmal mußte ich ja auf diese Weise zum Ziel gelangen.

Der Wagen hielt vor der Nummer elf; hier mußte Gabriel also wohnen.

Ich langte gerade in dem Augenblick vor der Tür an, als der Portier die beiden Flügel schloß.

>Wohnt hier nicht<, fragte ich mit einer Stimme, der ich vergebens Festigkeit zu verleihen suchte, >wohnt hier nicht Herr Gabriel Lambert?<

>Gabriel Lambert?< versetzte der Portier. >Ich kenne diesen Namen nicht; es ist niemand dieses Namens im Haus.<

>Und der Herr, der eben zurückgekehrt ist — wie nennen Sie ihn?<

>Wen?<

>Denjenigen, dessen Wagen hier steht.<

>Das ist der Vicomte Henri de Faverne und nicht Gabriel Lambert; wenn es das ist, was Sie wissen wollten, mein schönes Kind, so sind Sie nun auf dem laufenden.<

Und er schloß die Tür vor mir.

Ich kam in das Hotel zurück, ungewiß über das, was ich tun sollte.

Wohl war es Gabriel, darüber gab es keinen Zweifel mehr; doch es war ein Gabriel, der reich geworden war, der seinen Namen verbarg und dem folglich mein Besuch doppelt unangenehm sein mußte.

Ich schrieb ihm. Aber ich adressierte: An den Herrn Vicomte Henri de Faverne, zur Übergabe an Herrn Gabriel Lambert.

Ich bat ihn um eine Zusammenkunft und unterzeichnete: Marie Granger.

Am nächsten Morgen schickte ich den Brief durch einen Boten ab, dem ich auf eine Antwort zu warten auftrug. Der Bote kam bald zurück und sagte mir, der Vicomte wäre nicht zu Hause.

Einen Tag darauf ging ich selbst; ohne Zweifel war die Tür für mich verschlossen, denn die Bedienten behaupteten, der Vicomte wäre nicht zu sprechen.

Am dritten Tag war ich abermals dort. Die Bedienten sagten, der Herr Vicomte habe geantwortet, er kenne mich nicht und verbiete, mich ferner zu empfangen.

Da nahm ich mein Kind in die Arme und setzte mich auf den Prellstein der Tür gegenüber.

Ich war entschlossen zu bleiben, bis er ausgehen würde. Ich blieb den ganzen Tag, dann kam die Nacht. Um zwei Uhr zog eine Patrouille vorüber und fragte mich, wer ich wäre und was ich hier machte.

Ich sagte, ich warte.

Der Anführer der Patrouille befahl mir, ihm zu folgen.

Ich folgte ihm, ohne zu wissen, wohin er mich führte.

Da kamen Sie und nahmen sich meiner an.

Und nun, mein Herr, wissen Sie alles; sie kamen im Auftrag von ihm, ich habe keine andere Stütze in Paris als Sie. Sie scheinen gut zu sein; was soll ich tun? Sprechen Sie, raten Sie mir.«

»Heute abend kann ich Ihnen nichts mehr sagen«, erwiderte ich, »Doch ich werde morgen früh sehen, was ich für Sie tun kann.«

»Und haben Sie einige Hoffnung, mein Herr?«

»Ja, ich habe die Hoffnung, daß er Sie nicht wird wiedersehen wollen.«

»O mein Gott! Was wollen Sie damit sagen?«

»Nach dem, was Sie mir erzählt haben, mein liebes Kind, wird es besser sein, die arme Marie Granger zu bleiben, als die Frau Henri de Favernes zu werden.«

»Sie glauben also wie ich, daß er ...«

»Ich glaube, daß er auf so gewaltsame Art und Weise reich geworden ist, daß es kein gutes Ende mit ihm nehmen wird - und ich glaube mich nicht zu täuschen.«

»Ach, meine Tochter, meine Tochter!« sprach die arme Mutter, indem sie sich vor dem Lehnstuhl, in dem ihr Kind schlief, auf die Knie warf und es mit beiden Armen bedeckte, als wollte sie es gegen die Zukunft, die seiner harrte, beschützen.

Es war inzwischen zu spät für sie geworden, noch in die Rue des Vieux-Augustins zurückzukehren.

Ich rief meine Helferin und übergab ihr die Mutter und das Kind.

Dann schickte ich einen meiner Dienstboten zur Besitzerin des Hotels de Venise und ließ ihr sagen, Mademoiselle Marie Granger sei bei dem Doktor Fabien, wo sie zu Mittag gespeist habe; es sei ihr unwohl geworden, und sie könne erst morgen zurückkehren.

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