14. Kapitel Die Katastrophe

Früh um sieben Uhr trat mein Kammerdiener bei mir ein. »Mein Herr«, sagte er, »ein Bedienter des Herrn Vicomte Henri de Faverne ist da und wartet schon seit einer halben Stunde; doch da der Herr Doktor erst um drei Uhr zu Bett gegangen ist, wollte ich ihn nicht wecken. Ich hätte sogar noch gezögert, wäre nicht ein zweiter gekommen, der noch mehr auf Eile drang als der erste.«

»Was verlangen diese zwei Bedienten denn?«

»Sie kommen, um zu melden, ihr Herr erwarte den Doktor. Es scheint, der Vicomte ist sehr leidend, und er hat sich in dieser Nacht auch nicht zu Bett gelegt.«

»Antworten Sie, ich werde sogleich kommen.«

Ich kleidete mich in aller Eile an und lief zu dem Vicomte.

Er war wirklich, wie die Bedienten sagten, nicht schlafen gegangen, er hatte sich nur, ohne sich auszukleiden, ein Weilchen auf das Bett gelegt.

Ich fand ihn mit Beinkleidern und Stiefeln in einen weiten Schlafrock von Damast gewickelt. Rock und Weste hingen über einem Stuhl, und alles im Zimmer offenbarte die Unordnung einer bewegten, schlaflosen Nacht.

»Sie sind es, Doktor?« rief er. »Man lasse niemand herein!«

Und mit einem Zeichen der Hand entließ er den Bedienten, der mich hereingeführt hatte.

»Verzeihen Sie, daß ich nicht früher gekommen bin«, sagte ich. »Mein Bedienter wollte mich nicht wecken, weil ich mich erst um drei Uhr morgens niedergelegt hatte.«

»Ich muß Sie um Entschuldigung bitten, ich langweile Sie, Doktor, ich ermüde Sie, und das ist mir um so schrecklicher, als ich nicht weiß, wie ich Sie für Ihre Bemühungen entschädigen soll; doch Sie sehen, ich leide wirklich, nicht wahr? Und Sie haben Mitleid mit mir.«

Ich schaute ihn an.

Es ließ sich wohl kaum ein verstörteres Gesicht finden als das seine, und ich bekam wahrhaft Mitleid.

»Ja, Sie leiden; ich begreife, daß das Leben für Sie eine Marter ist.«

»Nämlich, sehen Sie, Doktor, es gibt keine von jenen Waffen, Dolch oder Pistole, die ich nicht zweimal an mein Herz oder an meine Stirn gesetzt habe!«

Er dämpfte seine Stimme und sagte hohnlachend: »Ich bin ein Feigling; ich habe Furcht vor dem Sterben. Glauben Sie das? Sie, Doktor, der Sie gesehen, wie ich mich geschlagen habe? Glauben Sie, daß ich vor dem Sterben zittere?«

»Von Anfang an glaubte ich zu wissen, daß Sie diese Art von Mut nicht besitzen, mein Herr.«

»Wie, Doktor, Sie wagen es, mir das ins Gesicht zu sagen?«

»Ja, ich sage, Sie haben nur den Mut, der mit dem Blut in den Kopf steigt, den Mut, im Affekt zu handeln.«

Er stieß einen Seufzer aus, sank in einen Lehnstuhl und schwieg.

»Aber«, sagte ich nach einem Augenblick, »Sie haben mich doch nicht zu sich gebeten, um mit mir über die verschiedenen Arten von Mut zu sprechen, nicht wahr, sondern um von ihr zu reden?«

»Ja, ja, Sie haben recht, um von ihr zu reden. Nicht wahr, Sie haben sie gesehen?«

»Ja.«

»Nun, was sagen Sie zu ihr?« »Ich sage, daß es ein edles Herz, ein frommes Mädchen ist.«

»Ja, doch mittlerweile wird sie mich ins Verderben stürzen, denn, nicht wahr, sie wollte nichts hören, sie schlägt jede Entschädigung aus, sie will, daß ich sie heirate, oder sie wird es in allen Straßen ausschreien, wer ich bin, und vielleicht auch, was ich bin?«

»Ich kann Ihnen nicht verbergen, daß sie in dieser Absicht nach Paris gekommen ist.«

»Sollte sie anderen Sinnes geworden sein, Doktor? Sollte es Ihnen gelungen sein, sie zu bewegen, ihre Ansichten zu ändern?«

»Ich habe ihr gesagt, was ich denke: daß es besser wäre, Marie Granger als Frau de Faverne zu sein.«

»Wie soll ich das verstehen, Doktor, wollen Sie etwa sagen ...?«

»Ich will sagen, Herr Lambert«, erwiderte ich kalt, »daß ich, zwischen dem vergangenen Unglück Marie Grangers und dem zukünftigen Unglück Fräulein de Macarties wählend, das Unglück des armen Mädchens, das seinem Kind keinen Namen zu geben hat, vorziehen würde.«

»Doktor, Sie haben recht, mein Name ist ein unseliger Name. Doch sagen Sie mir, lebt mein Vater noch?«

»Ja.«

»Gott sei gelobt, ich habe seit mehr als fünfzehn Monaten keine Nachricht mehr von ihm erhalten.«

»Er war nach Paris gekommen, Sie zu suchen, und erfuhr, Sie wären nicht nach Guadeloupe abgereist.«

»Großer Gott! Und was hat er in Paris gehört?« »Er hat gehört, daß Sie nie bei dem Bankier gewesen sind und daß der Brief, den er von Ihrem angeblichen Beschützer empfangen hatte, nie von diesem geschrieben worden ist.«

Der Unglückliche stieß einen Seufzer aus, der einem Stöhnen glich. Dann fuhr er mit den Händen nach seinen Augen. »Er weiß es«, murmelte er, nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte. »Was soll ich dazu sagen? Dieser Brief war allerdings vorgespiegelt; aber er schadete niemand. Ich wollte nach Paris und wäre verrückt geworden, wenn ich es nicht durchgesetzt hätte. Ich wandte dieses Mittel an, es war das einzige. Hätten Sie an meiner Stelle nicht dasselbe getan, Doktor?«

»Fragen Sie mich das im Ernst, mein Herr?« sprach ich, indem ich ihn fest anschaute.

»Doktor, Sie sind der unbeugsamste Mensch, den ich kenne«, erwiderte der Vicomte, der nun aufstand und mit großen Schritten auf und ab ging. »Sie haben mir immer nur Hartes gesagt, und dennoch - wie kommt das? - sind Sie der einzige Mensch, zu dem ich grenzenloses Zutrauen habe. Wenn ein anderer die Hälfte der Dinge ahnte, die Sie wissen .«

Er näherte sich einer an der Wand hängenden Pistole und legte die Hand an den Kolben mit einem Ausdruck von Wildheit, der mehr einem reißenden Tier als einem Menschen gehörte.

»Ich würde ihn töten!«

In diesem Augenblick trat ein Bedienter ein.

»Was wollen Sie?« fragte der Vicomte unwirsch.

»Ich bitte um Verzeihung, wenn ich den gnädigen Herrn trotz seines Befehles unterbreche, der gnädige Herr hat vor drei Monaten seine Ställe neu besetzt, und es kommt nun ein Kommis der Bank, um den Wechsel einzuziehen, den ihm der gnädige Herr ausgestellt hat.«

»Wie hoch ist der Wechsel?« fragte der Vicomte.

»Viertausend Franc.«

»Es ist gut«, sagte der Vicomte, indem er auf seinen Sekretär zuging und aus der Brieftasche, die er mir zu Beginn unserer Bekanntschaft zum Aufbewahren gegeben hatte, vier Banknoten von je tausend Franc nahm. »Hier sind sie, und bringen Sie mir den Wechsel.«

Aus der Brieftasche Banknoten nehmen und sie seinem Bedienten übergeben war eine ganz einfache Handlung; doch der Vicomte vollzog diese Handlung mit einem sichtbaren Zögern, und sein gewöhnlich bleiches Antlitz wurde leichenfahl, als er unruhig hinter dem Bedienten hersah, der mit den Scheinen wegging.

Einen Augenblick lang herrschte düsteres Stillschweigen; der Vicomte bewegte zwei- oder dreimal die Lippen, um zu sprechen, doch jedesmal erstarben die Worte in seinem Mund.

Der Bediente öffnete abermals die Tür.

»Nun, was gibt es noch?« fragte der Vicomte mit lebhafter Ungeduld.

»Der Kommis wünscht ein Wort mit dem gnädigen Herrn zu sprechen.«

»Dieser Mensch hat nichts mit mir zu sprechen«, rief der Vicomte, »er hat sein Geld und soll gehen.«

Der Kommis erschien hinter dem Bedienten und schlüpfte zwischen ihn und die Tür.

»Verzeihen Sie«, sprach er, »verzeihen Sie, Sie täuschen sich, mein Herr, ich habe Ihnen etwas zu sagen.«

Dann machte er einen Sprung, packte den Vicomte am Kragen und rief: »Ich habe Ihnen zu sagen, daß Sie ein Fälscher sind und daß ich Sie im Namen des Gesetzes verhafte.«

Der Vicomte stieß einen Schreckensschrei aus und verfärbte sich noch mehr.

»Zu Hilfe!« murmelte er. »Zu Hilfe, Doktor! Joseph, ruf meine Leute. Zu Hilfe, zu Hilfe!«

»Zu Hilfe!« rief, aber mit viel stärkerer Stimme, auch der angebliche Kommis. »Herbei, ihr Leute!«

Auf diesen Hilferuf hin öffnete sich die Tür einer Geheimtreppe, und zwei Männer stürzten in das Zimmer des Vicomte.

Es waren zwei Agenten der Sicherheitspolizei.

»Aber wer sind Sie denn?« rief der Vicomte, sich sträubend. »Wer sind Sie, und was wollen Sie von mir?«

»Herr Vicomte, ich bin V.«, sagte der falsche Kommis. »Und Sie sind gefangen; machen Sie keinen Lärm, keinen Skandal, sondern folgen Sie uns gutwillig.«

Der Name V. war so bekannt, daß ich erschauerte.

»Ihnen folgen«, fuhr der Vicomte fort, der sich immer noch sträubte. »Ihnen folgen, und wohin Ihnen folgen?«

»Bei Gott! Wohin man die Leute Ihrer Art führt, Sie brauchen sich nicht zu erkundigen, Sie dürften das doch wissen: zur Polizeipräfektur!«

»Nie!« rief der Gefangene. »Nie!«

Und mit einer heftigen Anstrengung machte er sich von den beiden Männern, die ihn hielten, los, stürzte zu seinem Bett und ergriff einen türkischen Dolch.

In demselben Augenblick zog der falsche Kommis mit einer Bewegung, die schnell war wie der Gedanke, zwei Taschenpistolen hervor und richtete sie auf den Vicomte.

Aber er hatte sich in der Absicht de Favernes getäuscht, denn de Faverne wandte die Waffe gegen sich selbst. Die zwei Agenten wollten auf ihn stürzen und sie ihm entreißen.

»Unnötig«, sagte V., »unnötig! Seien Sie unbesorgt, er wird sich nicht töten; ich kenne die Herren Fälscher seit langem: Es sind Burschen, welche die größte Achtung vor ihrer eigenen Person haben. Immerzu, mein Freund, immerzu«, fuhr er fort, indem er die Arme verschränkte und es dem Unglücklichen freistellte, sich zu erstechen. »Genieren Sie sich nicht unsretwegen; tun Sie es, tun Sie es nur.«

Der Vicomte schien den falschen Kommis, der eine so seltsame Aufforderung ergehen ließ, Lügen strafen zu wollen, er stieß zu und stürzte, einen Schrei ausstoßend, nieder. Sein Hemd bedeckte sich mit Blut.

»Sie sehen«, sagte ich, indem ich auf den Vicomte zueilte, »der Unglückliche hat sich getötet.«

V. lachte.

»Getötet - der! Ach, er ist nicht so dumm. Öffnen Sie das Hemd, Doktor.«

»Doktor?« versetzte ich erstaunt.

»Natürlich«, sprach V., »ich kenne Sie, Sie sind der Doktor Fabien. Öffnen Sie das Hemd, und wenn Sie eine einzige Wunde finden, die mehr als vier oder fünf Linien Tiefe hat, verlange ich statt seiner guillotiniert zu werden.«

Ich war mir jedoch nicht so sicher wie V., denn der Unglückliche war wirklich ohnmächtig geworden.

Ich öffnete das Hemd und betrachtete die Wunde.

Es war wirklich nur, wie V. vorhergesagt hatte, ein Nadelstich.

Ich entfernte mich voll Ekel.

»Nun«, sagte V., »bin ich ein guter Psychologe, Herr Doktor? Vorwärts, vorwärts«, fuhr er fort, »legt diesem Burschen Handschellen an, sonst wird er auf dem ganzen Weg zappeln.«

»Nein, nein, meine Herren!« rief der Vicomte, den diese Drohung aus der Ohnmacht riß. »Nein, wenn man mich im Wagen fahren läßt, werde ich kein Wort sagen, keinen Versuch machen zu entweichen, darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort.«

»Hört ihr, meine Kinder, er gibt sein Ehrenwort; das ist beruhigend, wie? Was sagt ihr zu dem Ehrenwort des Herrn?«

Die zwei Agenten lachten und gingen mit den Handschellen auf den Vicomte zu.

Ich fühlte bei dieser Szene ein Mißbehagen, das ich nicht beschreiben kann, und wollte mich entfernen. »Nein! Nein!« rief er, indem er sich an meinen Arm klammerte.

»Nein, nein, gehen Sie nicht; wenn Sie gehen, werden diese Leute kein Mitleid mehr mit mir haben und mich wie einen Verbrecher durch die Straßen schleppen.«

»Womit kann ich Ihnen dienen, mein Herr?« fragte ich. »Ich habe keinen Einfluß auf diese Herren.«

»Doch, doch, Sie haben, Doktor, täuschen Sie sich nicht«, sagte er mit halber Stimme. »Ein ehrlicher Mann hat immer Einfluß auf diese Leute. Verlangen Sie, mich bis zur Polizei zu begleiten, und Sie werden sehen, daß sie mich in einem Wagen fahren lassen und nicht fesseln.«

Ein Gefühl tiefen Mitleids schnürte mir das Herz zusammen und trug den Sieg über die Verachtung davon.

»Herr V.«, sagte ich zu dem Anführer der Polizisten, »dieser Unglückliche bittet mich, zu seinen Gunsten zu vermitteln; er ist bekannt, man hat ihn in die Gesellschaft aufgenommen ... kurz, ich ersuche Sie, ersparen Sie ihm unnötige Demütigungen.«

»Herr Doktor Fabien«, erwiderte V. mit der größten Höflichkeit, »einem Mann wie Ihnen habe ich nichts abzuschlagen. Ich hörte, daß dieser Mensch Sie bat, ihn bis zur Polizei zu begleiten. Gut, wenn Sie einwilligen, steige ich mit Ihnen in den Wagen, und die Dinge gehen ganz sanft ab.«

»Doktor, ich flehe Sie an«, sprach der Vicomte.

»Gut, es sei«, sagte ich, »ich werde Ihrem Wunsch entsprechen. Herr V., haben Sie die Güte, einen Wagen holen zu lassen.«

»Und lassen Sie ihn vor die Tür fahren, die zur Rue du Helder geht«, rief der Vicomte.

V. gebot einem seiner Untergebenen, einen Wagen zu besorgen.

»Mittlerweile«, sprach V., »werde ich mit der Erlaubnis des Herrn Vicomte seinen Sekretär ein wenig durchsuchen.«

Der Vicomte machte eine Bewegung zum Sekretär hin.

»Oh, bemühen Sie sich nicht, Herr Vicomte«, sagte V., den Arm ausstreckend, »wenn sich einige Scheine darin finden, so wäre das nicht mehr und nicht weniger; wir haben schon wenigstens hundert, die aus Ihrer Fabrik hervorgegangen sind.«

Der Gefangene sank auf einen Stuhl nieder, und V. begann den Sekretär zu durchsuchen.

»Ich kenne diese Sekretäre, sie sind aus der Werkstatt Barthelemys. Betrachten wir zuerst die Schubladen und dann die Geheimfächer.«

Und er durchwühlte alle Schubladen, in denen sich außer dem erwähnten Portefeuille nichts fand als Briefe.

»Nun die Geheimfächer«, sagte er.

Der Vicomte erbleichte und errötete abwechselnd, während er V. mit den Augen folgte.

Ich bewunderte die Geschicklichkeit dieses Mannes. Es waren in dem Sekretär vier verschiedene Geheimfächer, und es entging ihm nicht nur keines davon, sondern er entdeckte den Mechanismus auf der Stelle, ohne erst suchen zu müssen.

»Hier ist der Rosentopf«, sagte er, indem er etwa hundert Banknoten von fünfhundert und tausend Franc zusammenpackte.

»Pest! Herr Vicomte, Sie sind nicht mit einer toten Hand zu Werk gegangen; vier Burschen wie Sie, und im Verlauf eines Jahres wäre die Bank gesprengt.«

Der Vicomte antwortete nur durch einen tiefen Seufzer und indem er den Kopf in den Händen verbarg.

In diesem Augenblick kam der von V. weggeschickte Polizist zurück.

»Meine Herren, der Wagen steht vor der Tür«, meldete er.

»Dann vorwärts«, sprach V.

»Aber Sie sehen«, unterbrach ich ihn, »der Herr ist im Schlafrock, und Sie können ihn so nicht mitnehmen.«

»Ja, ja«, rief der Vicomte, »ich muß mich ankleiden.«

»Kleiden Sie sich also an, und beeilen Sie sich. Ich hoffe, wir sind artig, wie? Es ist wahr, wir tun es nicht Ihretwegen, sondern dem Herrn Doktor zuliebe.«

Und er wandte sich zu mir und verbeugte sich.

Doch statt die ihm gegebene Erlaubnis zu benutzen, blieb der Vicomte unbeweglich auf seinem Stuhl sitzen.

»Nun, nun! Rühren wir uns ein wenig, und zwar rascher. Wir haben um neun Uhr einen anderen Herrn einzufangen, und des einen wegen darf der andere nicht verfehlt werden.«

Gabriel öffnete den Schrank, in dem seine Röcke hingen; doch er nahm fünf oder sechs herab, ohne sich zu einem zu entschließen.

»Mit der Erlaubnis des Herrn Vicomte werden wir ihm als Kammerdiener zur Seite stehen«, sagte V., und er machte den Polizisten ein Zeichen, worauf diese aus einer Kommode eine Weste und eine

Halsbinde nahmen, während er selbst im Schrank einen Oberrock wählte.

Dann begann die seltsamste Toilette, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Auf seinen Beinen wankend, ließ der Gefangene mit sich machen, was man wollte, und heftete nur erstaunte Blicke auf jeden von uns.

Man band ihm sein Halstuch um, man zog ihm seine Weste und seinen Rock an, als wäre er eine Gliederpuppe, dann setzte man ihm den Hut auf den Kopf und schob ihm ein Stöckchen mit goldenem Knopf in die Hand. Man hätte glauben sollen, er müßte niederfallen, wenn man ihn nicht stützte.

Die zwei Polizisten nahmen ihn jeder unter einer Achsel, und jetzt erst schien er zu erwachen.

»Nein, nein!« rief er, sich an meinen Arm klammernd. »Sie haben es mir versprochen, Doktor.«

»Ja«, versetzte ich, »kommen Sie.«

»Herr Vicomte«, sprach V., »ich sage Ihnen im voraus, wenn Sie eine Bewegung machen, um zu fliehen, zerschmettere ich Ihnen die Hirnschale.«

»Habe ich Ihnen nicht mein Ehrenwort gegeben, daß ich nicht entweichen werde?« sagte er, indem er seine Feigheit unter einem Gefühl ehrenhaften Anscheins zu verdecken suchte.

»Ah, es ist wahr«, versetzte V., während er seine Pistolen spannte, »ich hatte es vergessen. Vorwärts!«

Wir gingen die Treppe hinab, der Unglückliche stützte sich jetzt auf meinen Arm, und V. folgte mit seinen zwei Polizisten.

Als wir in den Hof kamen, eilte einer von ihnen auf den Wagen zu und öffnete den Schlag.

Ehe er einstieg, warf der Gefangene einen scheuen Blick nach rechts und links, als wollte er sehen, ob keine Flucht möglich wäre.

Doch in diesem Augenblick fühlte er, daß man ihm etwas zwischen die Schultern setzte; er wandte sich um: Es war der Lauf der Pistole.

Mit einem Sprung stürzte er in den Wagen.

V. bedeutete mir durch ein Zeichen, ich möge einsteigen und den Hintersitz einnehmen.

Es war nicht die geeignete Zeit, Zeremonien zu machen. Ich setzte mich auf den Platz, der mir angewiesen war.

V. sagte auf Rotwelsch ein paar Worte zu seinen Polizisten, die ich nicht verstand, stieg ebenfalls ein und setzte sich auf den Vordersitz.

Der Kutscher schloß den Schlag und fragte: »Zur Polizeipräfektur, nicht wahr, mein Herr?«

»Ja«, antwortete V., »doch woher wissen Sie, wohin wir wollen, mein Freund?«

»Nun, ich habe Sie erkannt«, sagte der Kutscher, »es ist schon das drittemal, daß ich Sie fahre, und stets in Gesellschaft.«

»Da baue man noch auf ein Inkognito«, versetzte V.

Der Wagen rollte den Boulevard entlang, dann die Rue de Richelieu, erreichte den Pont-Neuf, folgte dem Quai des Orfevres, wandte sich nach rechts, fuhr unter ein Gewölbe, drang in eine Art von Gäßchen und hielt vor einer Tür.

Jetzt erst schien der Gefangene aus seiner Erstarrung zu erwachen, auf dem ganzen Weg hatte er kein Wort gesprochen. »Wie«, rief er, »schon da!«

»Ja, Herr Vicomte«, sagte V., »das ist Ihre provisorische Wohnung, sie ist weniger elegant als die in der Rue Taitbout, doch in Ihrem Gewerbe muß man mit Veränderungen rechnen und Philosoph sein.«

Nun öffnete er den Schlag und sprang aus dem Wagen.

»Haben Sie mir noch einen Auftrag zu geben, ehe ich Sie verlasse?« fragte ich den Gefangenen.

»Ja, ja«, erwiderte er, »sie soll nicht erfahren, was vorgefallen ist.«

»Wer, sie?«

»Marie.«

»Die arme Frau! Ich hatte sie vergessen. Seien Sie unbesorgt, ich werde tun, was ich kann, um ihr die Wahrheit zu verbergen.«

»Ich danke, ich danke Ihnen, Doktor. Ach, ich wußte wohl, daß Sie mein einziger Freund sind.«

»Ich warte«, sagte V.

Gabriel seufzte, schüttelte traurig den Kopf und schickte sich an auszusteigen.

Scheinbar um ihm zu helfen, nahm ihn V. beim Arm; beide näherten sich der unseligen Pforte, die sich von selbst öffnete, als hätte sie ihren großen Lieferanten erkannt.

Der Gefangene warf mir einen letzten trübseligen Blick zu, und die Pforte schloß sich hinter ihnen mit einem dumpfen Geräusch.

An demselben Tag verließ Marie Paris und kehrte nach Trouville zurück. Ich sagte ihr nichts, wie ich es dem Vicomte versprochen hatte, doch sie vermutete alles.

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