Schlafe — ich liebe dich.
Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte auf die Knochen, die nicht dort hätten sein sollen. Genauso wenig wie sie selbst.
Zunächst glaubte sie, dass es sich wieder um ein Schaf handelte, das im See ertrunken war, aber als sie näher kam, sah sie nicht nur den Schädel auf dem Boden des Sees, der halb eingegraben war, sondern auch die Umrisse eines menschlichen Skeletts. Einige Rippen ragten aus dem Sand heraus, und unterhalb davon zeichneten sich die Konturen des Beckens und der Schenkelknochen ab. Das Skelett lag auf der linken Seite, und sie sah die rechte Hälfte des Schädels, die leere Augenhöhle und drei Zähne im Oberkiefer, einer davon mit einer großen Amalgam-Füllung. Am Schläfenbein klaffte ein großes Loch. Ihr erster Gedanke war, ob es wohl von einem Hammer herrührte. Sie bückte sich und starrte auf den Schädel. Zögernd steckte sie einen Finger in das Loch. Es war voll Sand.
Sie wusste nicht, wieso ihr ein Hammer einfiel, und die Vorstellung, dass jemand einen Hammer mit solcher Wucht an den Kopf bekommen hatte, war entsetzlich. Außerdem war das Loch viel zu groß für einen Hammer, es hatte ungefähr die Größe einer Streichholzschachtel. Sie beschloss, das Skelett nicht mehr anzurühren. Sie zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche und wählte die dreistellige Nummer.
Sie überlegte, wie sie sich ausdrücken sollte. Das Ganze war irgendwie unwirklich — ein Skelett so weit draußen im See und halb im sandigen Boden vergraben. Und sie war alles andere als in Topform. Ihr fiel nichts anderes ein als Hämmer und Streichholzschachteln. Sie konnte sich kaum konzentrieren. Die Gedanken schwirrten in ihrem Kopf herum, und sie hatte enorme Probleme, sie zu bändigen.
Es lag bestimmt daran, dass sie so verkatert war. Eigentlich hatte sie vorgehabt, heute zu Hause zu bleiben, dann aber hatte sie sich kurzfristig umentschieden und war zum See gefahren. Sie redete sich ein, dass sie den Wasserstandsanzeiger kontrollieren musste. Sie war Wissenschaftlerin.
Das hatte sie immer werden wollen, und sie wusste, dass es bei solchen Messungen um Genauigkeit ging. Aber sie war einfach furchtbar verkatert und weit davon entfernt, logisch denken zu können. Am Abend vorher hatte die jährliche Betriebsfeier des Energieforschungsinstituts stattgefunden, und sie hatte zu tief ins Glas geschaut. Das kam hin und wieder vor.
Sie dachte an den Mann, der zu Hause bei ihr im Bett lag, und wusste, dass sie sich seinetwegen hierher zum See geschleppt hatte. Sie wollte unter keinen Umständen mit ihm in ihrer Wohnung aufwachen und hoffte inständig, dass er sich verkrümelt haben würde, wenn sie zurückkam.
Er hatte sie von der Feier nach Hause begleitet, war aber ein völlig uninteressanter Typ. Genau wie die anderen, die sie nach der Scheidung kennen gelernt hatte. Er sprach kaum über etwas anderes als seine Plattensammlung, und auch als sie schon längst aufgehört hatte, Interesse dafür vorzutäuschen, fuhr er unbeirrt fort. An diesem Punkt war sie auf dem Sessel im Wohnzimmer eingeschlafen. Als sie aufwachte, sah sie, dass er in ihr Bett gestiegen war und dort mit offenem Mund schnarchte, bekleidet mit einem knappen Slip und schwarzen Socken.
»Notruf«, sagte eine Stimme am Telefon.
»Ja, ich möchte melden, dass ich ein Skelett gefunden habe. Einen Schädel mit einem Loch drin.« Sie zog eine Grimasse. Dieser verfluchte Kater! Wer drückte sich so aus? Ein Schädel mit einem Loch drin. Ihr fielen nur die Witze über dänische Münzen mit Loch ein, war es das Zehn-Öre-Stück, oder waren es 25 Öre? »Wie ist dein Name?«, fragte die neutral klingende Stimme der Notrufzentrale.
Es gelang ihr, ihre flatterigen Gedanken zur Ordnung zu rufen, und sie nannte ihren Namen.
»Und wo ist das?«
»Am Kleifarvatn. An der Nordseite.«
»Hast du es mit dem Netz eingefangen?«
»Nein, es liegt auf dem Seeboden.«
»Bist du da getaucht?«
»Nein. Es ragt aus dem Seeboden heraus. Die Rippen und der Schädel.«
»Aus dem Seeboden heraus?«
»Ja.«
»Und wieso kannst du es sehen?«
»Ich stehe direkt daneben, und es liegt vor mir.«
»Hast du es ans Ufer gebracht?«
»Nein, ich habe nichts angerührt«, log sie.
Die Leitung blieb eine Weile stumm. »Was soll denn der Blödsinn?«, erklärte die Stimme auf einmal ärgerlich. »Soll das vielleicht ein Witz sein? Weißt du, was dich so ein blöder Scherz kosten kann?«
»Kein Scherz. Ich stehe direkt daneben und sehe es.«
»Also mit anderen Worten, du bist imstande, auf dem Wasser zu wandeln?«
»Der See ist weg«, sagte sie. »Hier ist kein Wasser mehr, nur trockener Seeboden. Da, wo das Skelett liegt.«
»Was meinst du damit, der See ist weg?«
»Nicht der ganze See, aber da, wo ich stehe, ist kein Wasser mehr. Ich bin Hydrologin und arbeite am Energieforschungsinstitut. Ich habe den Wasserstand kontrolliert und das Skelett gefunden. Es hat ein Loch im Schädel und ist größtenteils im Sand vergraben. Ich habe zuerst gedacht, es handelte es sich um ein Schaf.«
»Ein Schaf?«
»Wir haben neulich schon mal eins gefunden, das vor langer Zeit im See ertrunken ist. Als er noch größer war.« Wieder Schweigen in der Leitung.
»Bleib da, wo du bist«, sagte die Stimme zögernd. »Ich schicke einen Wagen vorbei.«
Nachdem sie eine Weile unbeweglich bei dem Skelett gestanden hatte, ging sie in Richtung Wasser und maß die Entfernung. Sie war sich sicher, dass die Knochen noch nicht zum Vorschein gekommen waren, als sie vor zwei Wochen den Wasserstand abgelesen hatte. Sie wären ihr bestimmt aufgefallen. Die Wasseroberfläche war also in dieser Zeit um einen weiteren Meter gesunken.
Dieses Rätsel hatte die Experten am Energieforschungsinstitut beschäftigt, seitdem feststand, dass sich der Wasserspiegel so rasch senkte. Das Institut hatte dort bereits 1964 ein Gerät aufgestellt, das den Wasserstand fortlaufend aufzeichnete, und eine der Aufgaben der Hydrologen bestand darin, die Messungen zu kontrollieren. Im Sommer 2000 schien das Messgerät auf einmal kaputt zu sein. Unglaubliche Mengen von Wasser gingen Tag für Tag verloren, doppelt so viel wie normalerweise.
Sie kehrte wieder zu dem Skelett zurück. Sie hatte größte Lust, es näher zu untersuchen, den Sand wegzuschaufeln und es freizulegen. Aber ihr war klar, dass die Polizei nicht sehr erfreut darüber sein würde. Sie überlegte, ob es ein Mann oder eine Frau war, denn sie erinnerte sich, irgendwann einmal gelesen zu haben, wahrscheinlich in einem Krimi, dass es bis auf die Beckenknochen praktisch keinen Unterschied zwischen dem Skelett eines Mannes und dem einer Frau gibt. Gleichzeitig fiel ihr aber ein, dass jemand anderes ihr gesagt hatte, man solle nichts darauf geben, was in Kriminalromanen steht. Das Becken selbst sah sie nicht, es war von Sand bedeckt, und sie dachte, dass sie den Unterschied sowieso nicht erkennen könnte.
Der Kater verschlimmerte sich, und sie setzte sich neben dem Skelett in den Sand. Es war ein Sonntagmorgen, und vereinzelt fuhren Autos am See entlang. Sie stellte sich eine Familie auf einem Sonntagsausflug nach Herdisarvik und Selvogur vor. Eine populäre Sonntagstour durch Lavafelder und Berglandschaft, und dann am Kleifarvatn entlang zur Küste. Sie dachte an die Familien in den Autos.
Ihr Mann hatte sie verlassen, als sich herausgestellt hatte, dass sie keine Kinder bekommen konnte. Kurze Zeit später heiratete er wieder und war inzwischen Vater von zwei reizenden Kindern. Er hatte das Glück gefunden.
Das Einzige, was sie dagegen gefunden hatte, war einen Mann, den sie kaum kannte und der mit Socken bei ihr im Bett lag. Je mehr Zeit verstrich, desto schwieriger wurde es, anständige Männer zu finden. Die meisten waren geschieden wie sie selbst, oder — was noch schlimmer war — sie hatten keine Frau abgekriegt.
Sie fühlte sich elend und war den Tränen nahe, während sie auf das Skelett im Sand starrte.
Etwa eine Stunde später näherte sich ein Streifenwagen aus Hafnarfjörður. Die Polizeibeamten schienen es nicht eilig zu haben, sondern fuhren ganz gemächlich die Straße entlang, die zum See führte. Es war Mai, die Sonne stand hoch am Himmel und spiegelte sich auf der glatten Wasseroberfläche. Sie saß im Sand, behielt die Straße im Auge, und als das Auto näher kam, winkte sie. Das Auto fuhr an den Straßenrand und stoppte. Zwei Polizisten stiegen aus, blickten in ihre Richtung und setzten sich dann in Bewegung.
Sie betrachteten das Skelett geraume Zeit, ohne ein Wort zu sagen. Dann stieß der eine mit der Fußspitze gegen eine Rippe.
»Ob der wohl hier geangelt hat?«, sagte er zu seinem Begleiter.
»Du meinst von einem Boot auf dem Wasser aus?«, sagte der Kollege.
»Oder er ist bis hierher gewatet.«
»Da ist ein Loch«, sagte sie und schaute von einem zum anderen. »Im Schädel.« Einer der beiden beugte sich hinunter.
»Nanu«, sagte er.
»Er kann gefallen sein und sich den Schädel aufgeschlagen haben«, sagte sein Kollege.
»Der Schädel ist voller Sand«, sagte derjenige, der zuerst gesprochen hatte.
»Sollten wir vielleicht den Kollegen von der Kripo Bescheid sagen?«, fragte der andere nachdenklich.
»Sind nicht die meisten von denen gerade in Amerika?«, fragte sein Kollege zurück und blickte zum Himmel. »Auf so einer internationalen Konferenz über Kriminalität.« Der andere Polizist nickte zustimmend. Die beiden standen wieder eine ganze Weile schweigend neben dem Skelett, bis der eine sich an sie wandte.
»Wo ist eigentlich das ganze Wasser hin?«, fragte er. »Darüber gibt es die verschiedensten Theorien«, antwortete sie. »Was wollt ihr jetzt machen? Kann ich vielleicht nach Hause fahren?«
Sie blickten einander an, notierten dann ihren Namen und bedankten sich bei ihr, entschuldigten sich jedoch nicht, dass sie so lange hatte warten müssen. Ihr war es egal. Sie hatte keine Eile. Es war ein schöner Tag am See, sie hätte ihren Kater hier nur wesentlich besser auskurieren können, wenn sie nicht auf das Skelett gestoßen wäre. Sie überlegte, ob der Mann mit den schwarzen Socken wohl das Weite gesucht hatte, und hoffte es inständig. Sie freute sich darauf, ein Video auszuleihen und sich am Abend vor dem Fernseher unter eine Decke zu kuscheln.
Sie warf einen letzten Blick auf die Knochen und das Loch im Schädel.
Vielleicht wäre ein guter Krimi angebracht.