Zweiundzwanzig

Er verfolgte die Berichterstattung über den Skelettfund im Kleifarvatn im Rundfunk, im Fernsehen und in den Zeitungen genau mit und bemerkte, dass immer weniger darüber gemeldet wurde, bis der Fall schließlich völlig in den Hintergrund rückte. Nur noch ganz vereinzelt kam eine Meldung, dass sich in der Ermittlung nichts Neues ergeben habe, und man berief sich dabei auf einen gewissen Sigurður Óli bei der Kriminalpolizei. Ihm war klar, dass es nichts zu bedeuten hatte, wenn auf einmal keine Nachrichten mehr verlautbarten. Die Ermittlungen waren bestimmt noch in vollem Gange, und falls sie gut vorankamen, würden sie eines Tages vor seiner Tür stehen. Vielleicht schon bald. Vielleicht dieser Sigurður Óli. Möglicherweise würden sie aber auch nie herausfinden, was geschehen war. Er musste im Stillen lächeln. Er war sich nicht mehr sicher, ob es das war, was er wollte. Es hatte viel zu lange auf ihm gelastet. Manchmal kam es ihm so vor, als hätten sich sein Leben und seine Existenz ausschließlich um die Angst vor der Vergangenheit gedreht.

Früher hatte er manchmal den unwiderstehlichen Drang verspürt — einen Drang, den er nur schwer unter Kontrolle zu halten vermochte —, von dem, was geschehen war, zu erzählen, sich zu stellen und die Wahrheit zu sagen. Aber er widerstand der Versuchung jedes Mal und beruhigte sich wieder. Mit der Zeit verschwand dieses Bedürfnis, und eine gewisse Taubheit gegenüber dem, was passiert war, nistete sich bei ihm ein. Er bereute nichts. Er hätte es nicht anders haben wollen, so wie die Dinge lagen.

Immer, wenn er zurückdachte, stand ihm Ilonas Antlitz vor Augen, als er sie zum ersten Mal sah. Als sie sich in der Küche des Wohnheims zu ihm setzte und er ihr das Gedicht von Jónas Hallgrímsson erklärte und sie ihn küsste.

Wenn er allein mit seinen Gedanken war und sich den Erinnerungen an das, was ihm so kostbar gewesen war, hingab, glaubte er fast, den weichen Kuss auf seinen Lippen zu spüren.

Er setzte sich auf einen Sessel am Fenster und dachte zurück an den Tag, als seine Welt zusammenbrach.


Im nächsten Sommer fuhr er nicht nach Island, sondern arbeitete eine Zeit lang in einer Braunkohlengrube und bereiste anschließend mit Ilona die DDR. Eigentlich hatten sie nach Ungarn fahren wollen, aber er erhielt keine Reiseerlaubnis. Ihm wurde gesagt, dass es immer schwieriger wurde, solche Genehmigungen zu bekommen, wenn man nicht aus den Ostblockländern stammte. Er hörte ebenfalls, dass die Reisen in die Bundesrepublik stark eingeschränkt worden waren.

Sie reisten mit Zügen und Bussen und wanderten viel. Sie genossen es, nur zu zweit unterwegs zu sein. Manchmal schliefen sie unter freiem Himmel, manchmal in kleinen Pensionen, in Schulgebäuden oder auf Bahnhöfen. Es kam auch vor, dass sie einige Tage in landwirtschaftlichen Betrieben arbeiteten, die am Wege lagen. Sie hielten sich längere Zeit auf einem Hof auf, wo Schafe gezüchtet wurden, und der Bauer war sehr angetan davon, dass ein Isländer bei ihm aufgekreuzt war. Er stellte viele Fragen nach der Insel im Norden, vor allem aber erkundigte er sich nach dem Snæfellsjökull, denn es stellte sich heraus, dass er Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde gelesen hatte.

Sie blieben zwei Wochen dort, und es machte ihnen Spaß, auf dem Hof zu arbeiten. Sie lernten einiges über die Landwirtschaft. Als sie sich von dem Bauern und seiner Familie verabschiedeten, waren ihre Rucksäcke prall gefüllt mit Lebensmitteln.

Sie erzählte ihm von ihrem Elternhaus in Budapest und ihren Eltern, die beide Mediziner waren. Sie hatte ihnen in ihren Briefen von ihm erzählt. Was habt ihr für Pläne?, hatte ihre Mutter in einem Brief gefragt. Sie war die einzige Tochter. Ilona hatte ihr gesagt, dass sie sich keine Sorgen machen solle, aber das nützte nicht viel. Wollt ihr heiraten? Was ist mit dem Studium? Was ist mit der Zukunft? Es waren alles Fragen, über die sie selber auch nachgedacht hatten, sowohl gemeinsam als auch jeder für sich, aber sie brannten ihnen nicht auf der Seele. Nur sie beide in der Gegenwart waren wichtig. Die Zukunft war ein unbekanntes, geheimnisvolles Land, und sie wussten nur eines, dass sie gemeinsam auf dem Weg dorthin waren.

Manchmal erzählte sie ihm abends von ihren Freunden in Ungarn und war sich sicher, dass sie ihn mit offenen Armen empfangen würden. Sie erzählte ihm, wie sie stundenlang in Kneipen und Cafés saßen und über die Veränderungen diskutierten, die geschehen mussten und die bevorstanden. Ilona war voller Begeisterung, wenn sie sich ein freies Ungarn vorstellte. Von der Freiheit, die er selber sein ganzes Leben lang genossen hatte, sprach sie wie von einem unfassbaren und fernen Traumbild. Ilona und ihre Freunde sehnten sich nach etwas, das für ihn eine solche Selbstverständlichkeit war, dass er nie ernsthaft darüber nachgedacht hatte. Sie berichtete von Freunden, die verhaftet wurden und ins Gefängnis kamen, und anderen Leuten, von denen sie gehört hatte, dass sie spurlos verschwunden waren und niemand wusste, was aus ihnen geworden war. Er spürte die Angst in ihrer Stimme, aber auch die Hochstimmung, die damit verbunden war, eine tiefe Überzeugung zu haben und bereit zu sein, für sie zu kämpfen, was für Opfer es auch kosten möge. Er spürte ihre innere Spannung und die Erwartungen, die damit verbunden sind, wenn große Ereignisse bevorstehen.

In diesen Wochen, in denen sie zusammen auf Reisen waren, hatte er viel Zeit zum Nachdenken, und er gelangte zu der Überzeugung, dass der Sozialismus, den er in Leipzig kennen gelernt hatte, auf Lügen aufbaute. Er verstand immer besser, wie Hannes zumute gewesen war. Er war jetzt, genau wie Hannes seinerzeit, zu Verstand gekommen und hatte entdeckt, dass es nicht nur eine Wahrheit, und zwar die sozialistische, gab, sondern dass eine einzige unumstößliche simple Wahrheit nicht existierte. Sein Weltbild war ins Wanken geraten, und er musste sich mit ganz neuen und drängenden Fragen beschäftigen. Die erste und wichtigste war, wie er reagieren sollte. Er befand sich jetzt in der gleichen Situation wie Hannes. Sollte er sein Studium in Leipzig fortsetzen? Sollte er lieber nach Island zurückkehren? Die Voraussetzungen für seinen Studienaufenthalt hatten sich von Grund auf gewandelt. Was sollte er seiner Familie sagen? Aus Island war ihm zu Ohren gekommen, dass Hannes, der früher an der Spitze der Jugendorganisation gestanden hatte, Zeitungsartikel veröffentlichte und Vorträge hielt, in denen er von seinen Erfahrungen in der DDR berichtete und die kommunistischen Denkschablonen kritisierte. Das hatte nicht wenig Aufruhr und Empörung in den Reihen der isländischen Sozialisten verursacht, denn es schwächte die hehre Sache erheblich, nicht zuletzt auch wegen der Ereignisse in Ungarn.

Er war immer noch Sozialist, und daran würde sich auch nichts ändern, aber der Sozialismus, den er in Leipzig kennen gelernt hatte, war nicht das, was ihm vor Augen schwebte.

Und was würde aus Ilona werden? Er wollte nichts mehr tun ohne sie. Was immer sie von nun an unternahmen, unternahmen sie gemeinsam.

Über all das sprachen sie während der letzten Tage ihrer Reise, und sie kamen zu einem gemeinsamen Ergebnis.

Sie würde weiterstudieren und weiter Untergrundarbeit betreiben, Informationen weitergeben und von der Entwicklung in Ungarn berichten. Er würde ebenfalls weiterstudieren und so tun, als sei nichts vorgefallen. Er dachte an die Strafpredigt, die er Hannes gehalten hatte, als er ihn beschimpfte, die Gastfreundschaft der SED zu missbrauchen. Jetzt hatte er genau dasselbe vor und konnte es nur schlecht vor sich selbst rechtfertigen.

Er fühlte sich unwohl. Noch nie hatte er sich in einer so zwiespältigen Situation befunden. Zuvor war sein Leben viel einfacher und sicherer gewesen. Er musste an seine Freunde daheim denken, was sollte er ihnen sagen? Er hatte den Boden unter den Füßen verloren. Alles, an was er früher so fest geglaubt hatte, war ihm jetzt fremd. Er wusste, dass er auch weiterhin für die sozialistischen Ideale arbeiten würde, für eine gerechtere Verteilung des Reichtums und gegen Ausbeutung und Unterdrückung, doch der Sozialismus, wie er sich ihm in der DDR-Realität offenbarte, war nichts, woran man glauben oder wofür man kämpfen konnte. Sein Gesinnungswechsel hatte sich gerade erst angebahnt. Er würde einige Zeit brauchen, bis er das alles verarbeitet hatte, und in der Zwischenzeit hatte er nicht vor, radikale Entscheidungen zu treffen.

Als sie wieder nach Leipzig zurückkamen, zog er aus der alten Villa aus und bei Ilona ein. Sie schliefen zusammen in ihrem schmalen Bett. Die alte Dame, die ihr das Zimmer vermietete, war zunächst dagegen, denn sie war katholisch und auf Sitte und Anstand bedacht, doch nach einigem Drängen gab sie nach. Er unterhielt sich manchmal mit ihr, und sie erzählte ihm, dass sie ihren Ehemann und ihre beiden Söhne bei der Belagerung von Stalingrad verloren hatte, und zeigte ihm Bilder von ihnen. Er verstand sich gut mit ihr und erledigte manches für sie, reparierte kleinere Sachen in der Wohnung, kaufte das eine oder andere an Lebensmitteln ein und kochte. Seine Freunde aus dem Wohnheim kamen manchmal zu Besuch, aber er spürte, wie er sich mehr und mehr von ihnen entfernte. Sie wiederum spürten, dass er anders war als sonst und nicht mehr so gesprächig wie früher.

Emíl, der ihm am nächsten gestanden hatte, setzte sich einmal in der Unibibliothek zu ihm und brachte das zur Sprache.

»Ist alles in Ordnung bei dir?«, fragte Emíl und zog die Nase hoch. Er hatte eine Erkältung. Der Herbst war nasskalt und düster, und im Wohnheim wurde es nicht richtig warm.

»In Ordnung?«, wiederholte er. »Doch, bei mir ist alles in Ordnung.«

»Ach, es ist nur, weil …«, sagte Emíl, »… oder … wir finden, dass du uns irgendwie aus dem Weg gehst, aber das ist vielleicht Quatsch.« Er sah Emíl an.

»Natürlich ist das Quatsch«, sagte er. »Bei mir hat sich bloß so vieles geändert. Da ist Ilona. Du weißt doch, es hat sich vieles geändert.«

»Ja, ich weiß«, entgegnete Emíl besorgt. »Natürlich, Ilona und so. Weißt du eigentlich irgendetwas über dieses Mädchen?«

»Ich weiß alles über sie«, sagte er lachend. »Es ist schon alles in Ordnung, Emíl. Mach dir keine Gedanken.«

»Lothar hat etwas über sie gesagt.«

»Lothar? Ist er wieder da?«

Er hatte seinen Freunden nicht erzählt, was Ilonas Kameraden über Lothar Weiser gesagt hatten, und seinen Anteil daran verschwiegen, dass Hannes von der Uni geflogen war. Lothar war zu Semesterbeginn nicht aufgetaucht, und erst jetzt hörte er wieder von ihm. Er hatte sich vorgenommen, Lothar und allem, was mit ihm in Verbindung stand, aus dem Weg zu gehen und es zu vermeiden, mit ihm oder über ihn zu sprechen.

»Er hat vorgestern Abend mit uns in der Küche zusammengesessen«, sagte Emíl. »Er brachte Schweinekoteletts mit. Der kommt immer an Essen ran.«

»Was hat er über Ilona gesagt? Weshalb hat er über Ilona gesprochen?«

Er versuchte, seine Erregung zu verbergen, aber darin war er nicht sonderlich geschickt. Er war sehr aufgewühlt und starrte Emíl unverwandt an.

»Nichts, bloß, dass sie Ungarin ist und dass die Ungarn mit Vorsicht zu genießen sind«, sagte Emíl. »Irgendwas in dem Stil. Alle reden darüber, was in Ungarn passiert, aber niemand scheint genau zu wissen, was wirklich los ist. Hast du vielleicht durch Ilona was mitgekriegt? Was passiert da eigentlich in Ungarn?«

»Ich weiß kaum etwas«, sagte er, »bloß dass die Leute über Veränderungen reden. Was hat Lothar genau über Ilona gesagt? Dass sie mit Vorsicht zu genießen ist? Was hat er damit gemeint?«

Emíl spürte seine Erregung und versuchte, sich an das, was Lothar gesagt hatte, zu erinnern.

»Er hat gesagt, dass er nicht wüsste, woran er mit ihr sei«, sagte Emíl schließlich zögernd. »Er hat seine Zweifel daran, ob sie wirklich überzeugte Sozialistin ist, und außerdem meinte er, dass sie einen schlechten Einfluss auf die Leute in ihrer Umgebung hat. Sie würde hinter dem Rücken von Leuten schlecht über sie reden, auch über uns, die wir sie kennen, und über dich. Er hat gesagt, sie würde schlecht über uns reden, das hätte sie in seinem Beisein gemacht.«

»Warum sagt er so was? Was weiß er schon über Ilona? Sie kennen sich doch so gut wie gar nicht. Sie hat sich nie mit ihm unterhalten.«

»Ich weiß nicht«, sagte Emíl, »das hat er vielleicht nur so dahergeredet, meinst du nicht?« Er schwieg tief in Gedanken versunken.

»Tómas«, sagte Emíl. »Hat er das nicht nur so dahergeredet?«

»Natürlich ist das dummes Gerede«, antwortete er. »Er kennt Ilona überhaupt nicht. Sie hat nie schlecht über euch geredet. Das ist eine verdammte Lüge! Lothar ist …« Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte Emíl erzählt, was er über Lothar erfahren hatte, aber plötzlich wurde ihm klar, dass er das nicht durfte. Er spürte, dass er Emíl nicht trauen konnte. Seinem Freund. Es gab keinen besonderen Grund dafür, ihm zu misstrauen, aber sein Leben drehte sich nur noch darum, zu überlegen, wem er trauen konnte und wem nicht. Mit wem er sich über das, was ihm auf dem Herzen lag, unterhalten konnte und mit wem nicht. Nicht weil die anderen hinterhältig waren und ihm in den Rücken fallen würden, sondern weil sie unvorsichtige Äußerungen anderen gegenüber machen konnten, so wie er sich unvorsichtig über Hannes ausgelassen hatte. Das galt für alle seine Freunde im Wohnheim, Emíl, Hrafnhildur und Karl. Er hatte ihnen seinerzeit davon erzählt, was er bei Ilona und ihren Freunden im Keller erlebt hatte und wieso Ilona und Hannes sich kannten. Dass alles sehr spannend sei und sogar gefährlich. So würde er in Zukunft nie wieder reden können.

Besonders vor Lothar musste er sich in Acht nehmen. Er zerbrach sich den Kopf darüber, weshalb Lothar vor seinen Freunden so über Ilona redete. Er überlegte krampfhaft, ob der Deutsche irgendwann einmal so über Hannes gesprochen hatte, aber er konnte sich nicht erinnern. Vielleicht war das eine Botschaft an ihn und Ilona. Sie wussten so gut wie nichts über diesen Lothar. Sie wussten nicht einmal genau, für wen er arbeitete. Ilona teilte die Meinung ihrer Freunde, die davon ausgingen, dass er für die Stasi arbeitete.

Vielleicht gehörte das zu den Methoden des Staatssicherheitsdienstes, Personen innerhalb eines kleinen Freundeskreises zu denunzieren und Zwietracht zu säen.

»Tómas?« Emíl versuchte, seine Aufmerksamkeit wiederzuerlangen.

»Was ist mit Lothar?«

»Entschuldige«, sagte er, »ich habe nachgedacht.«

»Du wolltest gerade was über Lothar sagen.«

»Nein«, sagte er, »das war nichts.«

»Was ist mit dir und Ilona?«, fragte Emíl.

»Mit uns? Wieso?«, sagte er.

»Wollt ihr zusammenbleiben?«, fragte Emíl zögernd.

»Was soll denn das? Selbstverständlich. Warum fragst du danach?«

»Du solltest dich in Acht nehmen«, entgegnete Emíl.

»Was meinst du denn damit?«

»Nichts. Nur, nachdem Hannes von der Uni geflogen ist, weiß man nicht, was passieren kann.«

Er erzählte Ilona von seinem Gespräch mit Emíl und versuchte, so gut es ging, es herunterzuspielen. Er sah ihr jedoch sofort an, dass sie beunruhigt war, sie fragte ihn in allen Einzelheiten danach, wie Emíl sich ausgedrückt hatte. Sie versuchten sich klar zu machen, was Lothar damit bezweckte. Er hatte offensichtlich angefangen, sie bei den anderen Studenten und bei denen, die Umgang mit ihr hatten, nämlich seinen Freunden, zu verleumden. War das womöglich nur der Anfang? Konnte es sein, dass Lothar sie ganz speziell observierte? Konnte es sein, dass er über die geheimen Treffen Bescheid wusste? Sie beschlossen, sich in den nächsten Wochen bedeckt zu halten.

»Im schlimmsten Fall schieben sie uns einfach ab«, sagte sie und versuchte zu lächeln. »Was können sie sonst schon tun? Wir machen dann dasselbe durch wie Hannes. Was Schlimmeres bestimmt nicht.«

»Nein«, sagte er tröstend, »Schlimmeres bestimmt nicht.«

»Sie können mich wegen Verrat am Arbeiter- und Bauernstaat festnehmen«, sagte sie, »wegen demagogischer Umtriebe gegen die SED. Worte haben sie genug dafür.«

»Kannst du nicht damit aufhören? Zumindest für eine Weile? Eine Zeit lang abwarten, was wird?« Sie schaute ihn an.

»Was meinst du damit?«, sagte sie. »Ich lass mir doch von so einem Idioten wie Lothar keine Vorschriften machen.«

»Ilona!«

»Ich sage meine Meinung«, erklärte sie. »Immer. Ich sage allen, die es wissen wollen, was in Ungarn passiert, was die Menschen für Veränderungen wollen. Das habe ich immer gemacht, wie du weißt. Ich habe nicht vor, damit aufzuhören.«

Sie schwiegen beide sorgenvoll.

»Was ist das Schlimmste, das sie tun können?«

»Dich nach Hause schicken.«

»Sie schicken mich nach Hause.« Sie blickten einander in die Augen.

»Wir müssen uns in Acht nehmen«, sagte er. »Du musst vorsichtig sein. Versprich es mir.«

Wochen und Monate vergingen. Ilona machte weiter wie bisher, war aber vorsichtiger als je zuvor. Er ging seinem Studium nach, aber seine Sorgen um Ilona mehrten sich, und er bat sie immer wieder, Vorsicht an den Tag zu legen.

Dann lief ihm eines Tages Lothar über den Weg. Er hatte ihn lange Zeit nicht gesehen. Er dachte an das, was im Anschluss an jene letzte Begegnung passiert war, und ihm wurde klar, dass es kein zufälliges Treffen sein konnte. Er kam aus einem Seminar und war auf dem Weg in die Stadt, um Ilona bei der Thomaskirche zu treffen, als Lothar um die Ecke bog. Er lief ihm direkt in die Arme. Lothar lächelte und begrüßte ihn herzlich. Er erwiderte den Gruß nicht und wollte weitergehen, als Lothar ihn am Arm packte.

»Grüßt du einen nicht mehr?«

Er riss sich los und ging weiter. Er war schon ein Stockwerk tiefer, als er sich wieder am Arm gepackt fühlte.

»Wir sollten miteinander reden«, sagte Lothar, als er sich umdrehte.

»Wir haben nichts miteinander zu bereden«, sagte er.

Lothar hatte zwar wieder sein Lächeln aufgesetzt, aber es erreichte nicht seine Augen.

»Ganz im Gegenteil«, sagte Lothar, »wir haben sehr, sehr viel miteinander zu bereden.«

»Lass mich in Ruhe«, sagte er, ging weiter die Treppe hinunter und gelangte auf die Etage, wo sich die Kaffeestube befand. Er blickte sich nicht um und hoffte, dass Lothar aufgegeben hätte, aber der Wunsch ging nicht in Erfüllung.

Lothar hielt ihn wieder an und sah sich um. Er wollte kein Aufsehen erregen.

»Was soll denn das eigentlich?«, sagte er böse zu Lothar.

»Ich habe nichts mit dir zu bereden, kapier das doch. Lass mich in Ruhe!«

Er versuchte, an ihm vorbeizukommen, aber Lothar verhinderte das.

»Was ist los?«, fragte Lothar.

Er schwieg und starrte ihm in die Augen. »Was ist los?«, wiederholte Lothar. »Nichts«, sagte er. »Lass mich in Frieden.«

»Sag mir, warum du nicht mit mir reden willst. Ich dachte, wir wären Freunde.«

»Nein, wir sind keine Freunde«, sagte er. »Hannes war mein Freund.«

»Hannes?«

»Ja, Hannes.«

»Ist es wegen Hannes?«, fragte Lothar. »Benimmst du dich seinetwegen so komisch?«

»Lass mich«, sagte er.

»Was habe ich mit Hannes zu tun?«

»Du …«

Er verstummte abrupt. Was hatte Lothar mit Hannes zu tun? Er hatte Lothar nicht gesehen, seit Hannes relegiert worden war. Lothar war danach wie vom Erdboden verschluckt gewesen. In der Zwischenzeit hatte er aber von Ilona und ihren Freunden erfahren, dass Lothar im Auftrag der Stasi arbeitete, er war ein Informant und Denunziant, ein Mann, der versuchte, die Leute dazu zu bringen, ihre Freunde auszuhorchen, was sie dachten und was sie sagten. Lothar wusste nichts von diesem Verdacht. Er war im Begriff gewesen, ihm alles zu sagen, ihm das zu sagen, was Ilona über ihn erzählt hatte. Aber plötzlich durchzuckte es ihn wie ein Blitz: Wenn es irgendetwas gab, was er unter gar keinen Umständen tun durfte, dann war es, Lothar Vorhaltungen zu machen und ihm zu verstehen zu geben, dass er etwas über ihn wusste. Er merkte, wie weit er noch davon entfernt war, das Spiel, auf das er sich eingelassen hatte, zu beherrschen, nicht nur Lothar, sondern auch seinen Landsleuten gegenüber, und im Grunde genommen allen, mit denen er in Berührung kam, außer Ilona.

»Was ist mit mir?«, fragte Lothar beharrlich.

»Nichts«, sagte er.

»Hannes gehörte hier nicht mehr hin«, sagte Lothar. »Er hatte hier nichts mehr zu suchen, das hast du selber gesagt. Du hast es zu mir gesagt, du bist zu mir gekommen, und wir haben darüber geredet. Wir saßen in der Kneipe, und du hast dich darüber aufgeregt, wie beschissen du sein Verhalten fandest. Hannes und du, ihr wart keine Freunde.«

»Nein, das ist richtig«, sagte er und hatte dabei einen ekelhaften Geschmack im Mund. »Wir waren keine Freunde.« Er fand, dass er das sagen musste. Er war sich nicht vollständig darüber im Klaren, über wen oder was er einen Schutzschild hielt. Er wusste nicht mehr genau, wo er selber stand. Warum sagte er nicht unverblümt seine Meinung, wie es immer seine Art gewesen war? Das hier war ein Blindekuh-Spiel, das er nicht begriff. Er war gezwungen, sich blind vorzutasten. Vielleicht fehlte es ihm an Mut. Vielleicht war er feige. Er dachte an Ilona. Sie hätte genau gewusst, was sie Lothar sagen sollte.

»Ich habe aber nie gesagt, dass er von der Uni verwiesen werden müsste.«

»Mir kommt es aber so vor, als hättest du doch etwas in der Richtung geäußert«, entgegnete Lothar.

»Das habe ich nicht gemacht«, sagte er und erhob die Stimme. »Das ist eine Lüge!«

Lothar lächelte. »Immer ruhig Blut«, sagte er.

»Lass mich in Frieden.«

Er wollte weitergehen, aber Lothar ließ ihn nicht vorbei. Er wurde drohender, packte ihn fester am Arm, zog ihn zu sich heran und flüsterte ihm ins Ohr. »Wir müssen miteinander reden.«

»Wir haben nichts miteinander zu bereden«, erwiderte er und versuchte, sich loszureißen, aber Lothar hielt ihn am Arm gepackt.

»Wir müssen uns einmal über deine Ilona unterhalten«, sagte Lothar.

Es durchzuckte ihn siedend heiß. Seine Muskeln erschlafften, und Lothar merkte, wie sein Arm für einen Augenblick völlig kraftlos wurde.

»Wovon redest du eigentlich?«, fragte er und versuchte, normal zu klingen.

»Ich bin der Meinung, dass du dich in keiner guten Gesellschaft befindest«, sagte Lothar, »und jetzt spreche ich als dein Betreuer und Genosse zu dir. Du entschuldigst, wenn ich mich da einmische.«

»Wovon redest du eigentlich?«, wiederholte er. »Nicht in guter Gesellschaft? Ich glaube, es geht dich nichts an, in was für …«

»Ich glaube, dass sie sich mit ganz anderen Leuten abgibt als uns beiden«, unterbrach Lothar ihn. »Ich fürchte, dass sie dich mit in den Dreck zieht.«

Er starrte Lothar sprachlos an. »Von was in aller Welt redest du eigentlich?«, fragte er ein drittes Mal, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte.

Ihm fiel nichts ein. Er konnte an nichts anderes denken als an Ilona.

»Wir wissen, dass sie geheime Treffen organisiert«, sagte Lothar. »Wir wissen, welche Leute da zusammenkommen. Wir wissen auch, dass du daran teilgenommen hast. Wir wissen von den Propagandaschriften, die sie verteilt.«

Er traute seinen Ohren nicht.

»Lass dir doch von uns helfen«, sagte Lothar.

Er starrte Lothar an, der ihm mit ernster Miene in die Augen schaute. Lothar hatte die Maske abgelegt. Das falsche Lächeln war verschwunden. Er konnte nur noch unbeugsame Härte aus seiner Miene herauslesen.

»Von euch? Wer seid ihr? Was meinst du eigentlich?«

»Komm mit«, sagte Lothar. »Ich möchte dir etwas zeigen.«

»Ich komme nicht mit«, sagte er. »Ich brauche nicht mitzukommen!«

»Du wirst es nicht bereuen«, sagte Lothar seelenruhig wie zuvor. »Ich versuche, dir zu helfen. Versuch, das zu verstehen. Lass mich dir etwas zeigen. Damit du begreifst, wovon ich rede.«

»Was kannst du mir zeigen?«, sagte er.

»Komm«, sagte Lothar und schob ihn regelrecht vor sich her. »Ich versuche, dir zu helfen. Glaub mir.«

Er sträubte sich zunächst, aber dann gewannen Angst und Neugier die Oberhand, und er gab nach. Falls Lothar ihm etwas zu zeigen hatte, war es vielleicht besser, sich das anzusehen, als sich ihm zu verweigern. Sie verließen das Universitätsgebäude und überquerten den Karl-Marx-Platz. Er sah bald, dass Lothar auf das Eckhaus am Dittrichring 24 zusteuerte, wo sich die Stasizentrale in Leipzig befand. Er verlangsamte seinen Schritt und blieb stehen, als Lothar sich anschickte, die Treppen zum Eingang hinaufzugehen.

»Und was sollen wir hier?«, fragte er.

»Komm«, sagte Lothar. »Wir müssen mit dir reden. Mach es nicht komplizierter für dich als unbedingt nötig.«

»Komplizierter? Du kriegst mich da nicht rein!«

»Entweder kommst du jetzt freiwillig mit, oder sie werden dich einfach holen«, sagte Lothar. »Es ist besser, so mitzukommen.«

Er stand immer noch da und rührte sich nicht von der Stelle. Am liebsten wäre er weggerannt. Was wollte die Stasi von ihm? Er hatte nichts getan. Er sah sich an der Straßenecke um. Würde jemand sehen, wie er da hineinging? »Was meinst du damit?«, fragte er leise. Er hatte es mit der Angst bekommen.

»Komm«, sagte Lothar und öffnete die Tür.

Zögernd stieg er die Treppe hoch und folgte Lothar in das Gebäude. Sie kamen in einen kleinen Eingangsbereich mit grauen Steinstufen und rostrotem Marmor an den Wänden. Oben angekommen, führte eine Tür nach links in ein Anmeldezimmer. Das Linoleum und die Wände waren dreckig, und es roch nach Rauch, Schweiß und Angst. Lothar nickte dem Mann am Schreibtisch zu und öffnete die Tür zu einem langen Korridor mit grün gestrichenen Türen zu beiden Seiten. In der Mitte des Korridors war eine Nische, in der die Tür zu einem Büro offen stand. Daneben befand sich eine schmale Stahltür. Lothar betrat das Büro, in dem ein müde wirkender Mann mittleren Alters am Schreibtisch saß. Er schaute hoch und begrüßte Lothar mit einem Kopfnicken.

»Das hat ja vielleicht gedauert«, sagte der Mann zu Lothar.

Tómas beachtete er gar nicht.

Der Mann rauchte übel riechende, unförmige Zigaretten.

Seine Finger waren gelblich braun, und der Aschenbecher quoll über von winzigen Stummeln. Er hatte einen buschigen Schnauzbart, und um den Mund herum waren die Haare von Zigarettenglut angesengt worden. Er war ein dunkler Typ und an den Schläfen leicht ergraut. Er zog eine Schublade auf, entnahm ihr eine Mappe und öffnete sie. In der Mappe waren einige Blätter und Schwarzweißfotos.

Der Mann nahm die Fotos zur Hand, betrachtete sie und warf sie ihm dann hin.

»Bist du nicht auch da drauf?«, fragte er.

Er griff nach den Fotos. Er brauchte geraume Zeit, um zu erkennen, was darauf zu sehen war. Sie waren abends gemacht worden und aus ziemlich großer Entfernung; Leute kamen aus einem Häuserblock heraus. Über der Tür war eine Außenlampe, die die Gruppe beleuchtete. Er starrte intensiv auf das Foto und erkannte auf einmal Ilona und einen Mann, der auf den geheimen Treffen gewesen war, und auch eine Frau aus der Gruppe, und dann erkannte er sich selbst. Er ging die Bilder durch. Einige waren Vergrößerungen von den Gesichtern, auch von ihm und Ilona.

Der Mann mit dem buschigen Schnauzbart hatte sich eine neue Zigarette angesteckt und lehnte sich zurück. Lothar saß in einer Ecke des Büros auf einem Stuhl. An einer Wand hingen ein riesengroßer Stadtplan von Leipzig und ein Foto von Ulbricht. An den anderen Wänden standen drei imposante Stahlschränke mit Aktenordnern.

Er wandte sich an Lothar und versuchte, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken.

»Was ist das?«, fragte er.

»Das solltest du uns doch wohl eher sagen können«, gab Lothar zurück.

»Wer hat diese Fotos gemacht?«

»Findest du, dass das eine Rolle spielt?«, fragte Lothar.

»Werde ich beschattet?«

Lothar und der Mann mit dem angesengten Schnauzbart warfen sich Blicke zu. Lothar fing an zu lachen.

»Was willst du?«, fragte er und richtete seine Worte an Lothar. »Warum habt ihr diese Fotos gemacht?«

»Weißt du, was das für Leute sind?«, fragte Lothar.

»Ich kenne die Leute nicht«, erwiderte er, was nicht gelogen war. »Natürlich mit Ausnahme von Ilona. Warum habt ihr diese Aufnahmen gemacht?«

»Nein, selbstverständlich kennst du diese Leute nicht«, sagte Lothar. »Nur die schöne, schöne Ilona. Die kennst du. Kennst sie sogar besser als viele andere. Kennst sie sogar besser als Hannes, dein Freund.«

Er wusste nicht, worauf Lothar hinauswollte. Er blickte hinüber zu dem Mann mit dem Schnauzbart und schaute anschließend auf den Gang, wo die Stahltür war. An ihr befand sich ein kleiner Spion mit einer Klappe davor. Er überlegte, ob jemand drinnen war. Ob sie jemanden verhaftet hatten. Er wollte raus aus diesem Büro, um jeden Preis. Er fühlte sich wie ein in die Enge gedrängtes Tier, das in Panik nach einem Fluchtweg sucht.

»Wollt ihr, dass ich nicht mehr zu solchen Versammlungen gehe?«, fragte er zögernd. »Kein Problem. Auf vielen bin ich gar nicht gewesen.«

Er starrte hinaus auf die Stahltür. Seine Angst war in diesem Augenblick stärker als alles andere. Er hatte sofort einen Rückzieher gemacht, hatte Besserung gelobt, auch wenn er nicht genau wusste, was er verbrochen hatte, was er tun konnte, um ihnen zu Gefallen zu sein. Er war bereit, alles zu tun, nur um aus diesem Büro herauszukommen.

»Nicht mehr hingehen?«, sagte der Schnauzbart. »Auf gar keinen Fall. Niemand verlangt von dir, damit aufzuhören. Ganz im Gegenteil. Wir hätten sehr gern, wenn du weitere solcher Treffen besuchst. Die müssen ja sehr interessant sein. Was bezweckt man mit diesen Treffen?«

»Nichts«, sagte er und spürte, wie schwierig es war, mutig zu sein. Das konnten sie ihm bestimmt ansehen. »Niemand bezweckt etwas damit. Wir reden über das Studium. Über Musik und Bücher und alles Mögliche.« Der Schnauzbart grinste. Der wusste wohl ganz genau, wie Angst aussah. Und seine Angst musste ihm ins Gesicht geschrieben stehen. Er war auch noch nie ein geschickter Lügner gewesen.

»Was hast du da über Hannes gesagt?«, fragte er zögernd, indem er zu Lothar hinüberblickte. »Dass ich Ilona besser als Hannes kenne? Was meinst du damit?«

»Hast du das nicht gewusst?«, sagte Lothar mit gespielter Verwunderung. »Die beiden waren zusammen, genau wie du und Ilona jetzt. Bevor du aufgetaucht bist. Hat sie dir nichts davon erzählt?« Er schwieg und starrte Lothar an.

»Warum sie dir wohl nichts davon erzählt hat?«, fuhr Lothar mit demselben scheinheiligen Tonfall der Verwunderung fort. »Sie scheint ganz besonders auf Isländer zu stehen. Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, dass Hannes ihr nicht helfen konnte.«

»Helfen konnte?«

»Sie möchte irgendeinen von euch heiraten, um nach Island ausreisen zu können«, sagte Lothar. »Mit Hannes hat es nicht geklappt. Vielleicht kannst du ihr helfen. Sie wollte schon immer aus Ungarn raus. Hat sie dir das nie gesagt? Sie hat große Anstrengungen unternommen, um rauszukommen.«

»Nimm Platz«, sagte der Schnauzbärtige und steckte sich die nächste Zigarette an.

»Ich habe eigentlich gar keine Zeit«, sagte er und versuchte, sich einen Ruck zu geben. »Ich muss weiter. Vielen Dank, dass ihr mir das gesagt habt. Wir sprechen uns später, Lothar.«

Er ging zögernd ein paar Schritte zur Tür. Der Mann mit dem Schnauzbart wechselte einen Blick mit Lothar, der mit den Achseln zuckte.

»Setz dich, du dämlicher Idiot!«, brüllte der Mann und sprang hoch.

Er blieb in der Tür stehen, als hätte er einen Schlag bekommen, und drehte sich um.

»Wir dulden keine antikommunistische Unterwanderung«, brüllte der Schnauzbärtige ihn an. »Und erst recht nicht von irgendwelchen verfluchten Ausländern, die unter falscher Flagge segeln, um hier zu studieren, so wie du. Setz dich, du verdammter Idiot! Mach die Tür zu und setz dich!«

Er schloss die Tür, ging zum Schreibtisch und setzte sich auf einen Stuhl, der davor stand.

»Jetzt hast du ihn wütend gemacht«, sagte Lothar kopfschüttelnd.


Er sehnte sich danach, nach Island zurückzukehren und alles zu vergessen. Er beneidete Hannes darum, diesem Albtraum entronnen zu sein. Das war das Erste, was er dachte, als sie ihm endlich gestatteten, zu gehen. Sie hatten ihm verboten, das Land zu verlassen. Er musste noch am gleichen Tag seinen Pass abliefern. Dann dachte er an Ilona. Er wusste, dass er sie nie verlassen könnte, und als die Angst sich etwas gelegt hatte, wollte er das auch nicht.

Er war nicht imstande, Ilona zu verlassen. Mit Ilona hatten sie ihn unter Druck gesetzt und ihm gedroht. Falls er nicht nach ihrer Pfeife tanzte, könnte ihr etwas zustoßen. Die Drohung war eindeutig genug, obwohl sie nicht konkret ausgesprochen worden war. Falls er ihr sagen würde, was zwischen ihnen besprochen worden war, könnte ihr etwas zustoßen. Sie sagten nicht, was. Die Drohung schwebte in der Luft, damit er sich das Schlimmste ausmalte.

Es war, als hätten sie ihn lange im Visier gehabt. Sie wussten präzise, was sie vorhatten und was sie von ihm wollten.

Da wurden keine spontanen Entscheidungen getroffen. Er sollte ihr Informant an der Universität werden. Er sollte ihnen Bericht erstatten, sollte gesellschaftsfeindliche Aktivitäten observieren und seine Kommilitonen denunzieren. Er wusste, dass er ab jetzt unter Beobachtung stehen würde, das hatten sie ihm klar gemacht. Am meisten interessierte sie das, was Ilona und ihre Leute in Leipzig und an vielen anderen Orten in der DDR trieben. Sie wollten wissen, was auf diesen Versammlungen geredet wurde.

Wer die Rädelsführer waren. Was für Gedankengut hier verbreitet wurde. Ob es Verbindungen zu Ungarn oder anderen osteuropäischen Ländern gab. Wie verbreitet der Widerstand war. Was über Ulbricht und die SED gesagt wurde. Sie zählten noch weitere Punkte auf, aber er hatte schon längst aufgehört, ihnen zuzuhören. Ihm schwirrte der Kopf.

»Was ist, wenn ich mich weigere?«, fragte er auf Isländisch.

»Hier wird Deutsch gesprochen!«, befahl der Schnauzbärtige wütend.

»Du weigerst dich nicht«, sagte Lothar.

Der Mann klärte ihn darüber auf, was passieren würde, wenn er sich weigerte. Er würde nicht abgeschoben. Er würde nicht so billig davonkommen wie Hannes. Er war ihnen im Grunde genommen völlig egal. Falls er nicht genau das tat, was sie von ihm verlangten, würde er Ilona verlieren.

»Aber wenn ich alles an euch weitertrage, habe ich sie sowieso verloren«, sagte er.

»Nicht so, wie wir das arrangiert haben«, sagte der Mann mit dem buschigen Schnauzbart und zündete mit einer Zigarette die nächste Zigarette an.

Nicht so, wie wir das arrangiert haben.

Dieser Satz begleitete ihn aus der Stasizentrale und hämmerte ihm die gesamte Strecke vom Dittrichplatz bis nach Hause im Kopf.

Nicht so, wie wir das arrangiert haben.

Er hatte Lothar angestarrt. Sie hatten etwas für Ilona arrangiert. Jetzt schon. Es wartete nur darauf, ausgeführt zu werden. Falls er nicht das tat, was sie ihm sagten.

»Was bist du eigentlich?«, fragte er Lothar noch und erhob sich langsam und zögernd von seinem Stuhl.

»Setzen!«, brüllte der Schnauzbart und stand selbst auf.

Lothar schaute ihn an, und ein schwaches Lächeln spielte um seine Lippen.

»Wie kann man nur so ein Mensch sein?« Lothar gab ihm keine Antwort darauf.

»Und was ist, wenn ich Ilona davon erzähle?«

»Das solltest du lieber nicht tun«, sagte Lothar. »Aber jetzt sag mir mal, wie es ihr gelungen ist, dich rumzukriegen. Unseren Informationen zufolge gab es kaum einen überzeugteren Kommunisten als dich. Was ist passiert? Wie hat sie es geschafft, dich rumzukriegen?« Er ging auf Lothar zu und sammelte Mut, um ihm das zu sagen, was er sagen wollte. Der Schnauzbart war hinter seinem Schreibtisch hervorgetreten und stand hinter ihm.

»Nicht sie war es, die das bewirkt hat«, sagte er auf Isländisch. »Du warst es. Das, wofür du stehst, hat mich auf einen anderen Kurs gebracht. Die Menschenverachtung.

Der Hass. Die Machtgier. All das, was du bist, hat mich rumgekriegt.«

»Es ist doch so einfach«, sagte Lothar, »entweder ist man ein Sozialist, oder man ist keiner.«

»Nein«, sagte er, »das begreifst du nicht, Lothar. Entweder ist man ein Mensch, oder man ist keiner.« Er eilte im Laufschritt nach Hause und dachte die ganze Zeit an Ilona. Er musste ihr sagen, was geschehen war, egal, was sie von ihm verlangten und was sie arrangiert hatten.

Sie musste die Stadt verlassen. Vielleicht würden sie zusammen nach Island gehen können. Auf einmal kam es ihm so vor, als sei Island unendlich weit weg. Vielleicht könnte sie von Ungarn aus nach Island fahren. Oder vielleicht nach Westdeutschland gehen. In Berlin über die Grenze. Die Kontrollen waren nicht so streng. Er würde ihnen alles sagen, was sie hören wollten, aber in der Zwischenzeit musste Ilona ihre Flucht vorbereiten. Sie musste aus diesem Land heraus.

Was sollten diese Andeutungen in Bezug auf Hannes? Was hatte Lothar über Ilona und Hannes gesagt? Waren sie ein Paar gewesen? Das hatte Ilona ihm nie gesagt. Nur, dass sie Freunde gewesen waren und sich auf diesen Geheimversammlungen kennen gelernt hatten. Konnte es sein, dass Lothar versuchte, ihn damit zu verunsichern? Oder wollte Ilona ihn benutzen, um in den Westen zu gelangen? Zum Schluss rannte er. Menschliche Wesen sausten an ihm vorbei, ohne dass er sie wahrnahm. Wie benommen überquerte er eine Straße nach der anderen, und wirre Gedankenfetzen und Bilder schossen ihm durch den Kopf, Gedanken über Ilona, über sich selbst, über Lothar und die Stasi und die Stahltür mit dem Spion. Über den Mann mit dem Schnauzbart. Ihm gegenüber würde man keine Nachsicht zeigen, so viel wusste er. Isländer oder nicht Isländer, das spielte für diese Leute keine Rolle. Isländer konnten genauso gut wie andere einfach verschwinden. Sie wollten, dass er für sie spionierte. Ihnen Berichte ablieferte über das, was auf Ilonas Geheimversammlungen diskutiert wurde.

Berichte über das, was ihm in der Universität zu Ohren kam, was die Isländer unter sich redeten und die anderen Ausländer dachten. Sie wussten, dass sie ihn in die Enge getrieben hatten. Und falls er sich weigerte, würde er nicht so glimpflich davonkommen wie Hannes.

Sie hatten Ilona.

Er war den Tränen nahe, als er endlich nach Hause kam und Ilona stumm umarmte. Sie hatte sich Sorgen gemacht und sagte, dass sie lange bei der Thomaskirche auf ihn gewartet hätte, aber als er nicht auftauchte, sei sie nach Hause gegangen. Er berichtete ihr von dem, was passiert war, obwohl ihm eingeschärft worden war, dass er ihr nichts sagen durfte. Ilona lauschte seinen Worten schweigend, und als er geendet hatte, begann sie, ihn nach Einzelheiten auszufragen. Er antwortete so präzise wie möglich. Ihre erste Frage galt den Leipzigern, ihren Freunden, ob man alle auf den Fotos erkennen könne. Er sagte, dass seiner Meinung nach die Stasi über jeden Einzelnen von ihnen Bescheid wusste.

»Großer Gott«, stöhnte Ilona, »wir müssen sie warnen. Wie haben sie das herausgekriegt? Sie müssen uns beschattet haben. Irgendjemand hat uns verraten, jemand, der von diesen Treffen gewusst hat. Wer? Wer hat uns verraten? Wir sind so vorsichtig vorgegangen. Niemand wusste von diesen Versammlungen.«

»Ich weiß es nicht«, sagte er.

»Ich muss mich mit ihnen in Verbindung setzen«, sagte sie, während sie in dem kleinen Zimmer auf und ab ging. Sie blieb am Fenster stehen und spähte auf die Straße. »Beschatten sie uns wirklich?«, fragte sie. »Jetzt?«

»Ich weiß es nicht«, sagte er.

»Großer Gott«, stöhnte Ilona noch einmal.

»Sie haben gesagt, dass Hannes und du … dass ihr zusammen gewesen seid«, sagte er. »Lothar hat das gesagt.«

»Das ist gelogen«, sagte sie. »Alles, was sie sagen, ist gelogen. Das müsstest du doch wissen. Sie spielen mit dir Katz und Maus, mit uns beiden. Wir müssen eine Entscheidung treffen, was jetzt zu tun ist. Ich muss diese Leute warnen.«

»Sie haben gesagt, dass du dich an die Isländer hältst, um in den Westen zu kommen, um nach Island zu kommen.«

»Tómas, natürlich sagen sie so etwas. Was sollten sie denn sonst sagen? Hör auf mit diesem Unsinn.«

»Sie haben verlangt, dass ich dir nichts davon sage, deswegen müssen wir schrecklich vorsichtig sein«, sagte er.

Er wusste, dass sie Recht hatte. Alles, was sie sagten, war gelogen. Alles. »Du bist in großer Gefahr«, sagte er, »das haben sie mir zu verstehen gegeben. Wir dürfen keine Fehler machen.«

Sie schauten sich verzweifelt an.

»In was sind wir da hineingeraten?«, stöhnte er.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie und umarmte ihn. Sie schien sich dabei etwas zu beruhigen.

»Sie wollen hier kein zweites Ungarn. Da sind wir hineingeraten.«


Drei Tage später verschwand Ilona spurlos.

Karl war bei ihr, als sie anrückten und Ilona festnahmen, und er rannte anschließend die ganze Strecke bis zur Universität, um ihm Bescheid zu sagen. Karl war gekommen, um ein Buch bei ihr abzuholen, das sie ihm ausleihen wollte. Urplötzlich erschienen die Vopos. Er selber wurde an die Wand gedrückt. Das Zimmer wurde auf den Kopf gestellt. Ilona wurde abgeführt.

Karl berichtete immer noch, als er schon loslief. Sie hatten sich so in Acht genommen. Ilona hatte ihre Freunde benachrichtigt, und sie hatten Vorbereitungen getroffen, Leipzig zu verlassen. Sie wollte zurück nach Ungarn, um bei ihrer Familie zu sein, und er beabsichtigte, zunächst nach Island zu fahren und später nach Budapest zu kommen. Das Studium spielte keine Rolle mehr, es ging nur noch um Ilona.

Seine Lungen waren dem Platzen nah, als er nach Hause kam. Die Haustür stand offen, und er rannte in die Wohnung und zu ihrem Zimmer, wo ein heilloses Chaos herrschte. Bücher, Zeitschriften, Decken lagen wild durcheinander auf dem Fußboden, der Schreibtisch war umgekippt worden, und das Bett lag auf der Seite. Nichts war verschont geblieben, einiges kaputtgegangen. Er trat gegen die Schreibmaschine, die auf den Boden gefallen war.

Dann rannte er wieder los, diesmal in Richtung Stasizentrale. Als er dort eintraf, fiel ihm plötzlich ein, dass er nicht einmal wusste, wie der Mann mit dem Schnauzbart hieß, und im Anmelderaum wollte ihn niemand verstehen. Er bat darum, in den Gang gehen und den Mann selbst suchen zu dürfen, doch der Stasibeamte schüttelte den Kopf.

Er warf sich gegen die Tür, die zu diesem Korridor führte, aber sie war verschlossen. Er schrie nach Lothar. Der Mann in der Anmeldung war hinter dem Tisch hervorgetreten. Er hatte um Verstärkung gebeten, und drei Männer tauchten auf, die ihn von der Tür wegzogen. Im gleichen Augenblick öffnete sie sich, und der Schnauzbart betrat den Anmelderaum.

»Was habt ihr mit ihr gemacht?«, brüllte er den Mann an.

»Lasst mich zu ihr!« Und er schrie in den Gang hinein: »Ilona! Ilona!«

Der Schnauzbart warf die Tür hinter sich ins Schloss und bellte den anderen Männern Befehle zu. Sie packten ihn und setzten ihn auf die Straße. Er hämmerte gegen die schwere Außentür und rief nach Ilona, aber es führte zu nichts. Er war seiner Sinne nicht mehr mächtig. Er war überzeugt davon, dass sie Ilona in diesem Gebäude festhielten. Er musste sie sehen, er musste ihr zu Hilfe kommen, er musste sie da herausholen. Er war bereit, alles dafür zu tun. Seine Verzweiflung war grenzenlos.

Da fiel ihm auf einmal ein, dass er frühmorgens Lothar in der Universität begegnet war. Er rannte los. Er erwischte eine Straßenbahn, die in Richtung Universität fuhr. Vor der Universität sprang er während der Fahrt ab, suchte nach Lothar und fand ihn schließlich ganz allein an einem Tisch in der Kaffeestube. Nur wenige Leute waren dort, und er setzte sich keuchend und schnaufend zu Lothar an den Tisch, das Gesicht feuerrot vor Anstrengung, Sorge und Angst.

»Stimmt was nicht?«, fragte Lothar.

»Ich tu alles für dich, für euch, wenn ihr sie freilasst.« Lothar schaute ihn lange an und schien mit wissenschaftlichem Interesse seine Qualen zu studieren.

»Wer ist diese Sie?«, fragte er dann.

»Ilona, du weißt ganz genau, von wem ich spreche. Ich tu alles, was ihr wollt, wenn ihr sie freilasst.«

»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wovon du redest«, sagte Lothar.

»Ihr habt heute Mittag Ilona verhaftet.«

»Wir?«, fragte Lothar. »Wer sind denn ›wir‹?«

»Die Stasi«, sagte er. »Ilona ist verhaftet worden. Karl war bei ihr, als sie gekommen sind. Kannst du nicht mit ihnen reden? Kannst du ihnen nicht sagen, dass ich alles, alles für sie mache, wenn sie Ilona freilassen?«

»Ich denke eher, dass du jetzt völlig uninteressant für sie bist«, sagte Lothar.

»Hilf mir doch«, sagte er. »Kannst du nicht mit denen reden?«

»Wenn sie festgenommen worden ist, kann ich leider gar nichts mehr tun. Dann ist es zu spät. Leider.«

»Was kann ich tun?«, sagte er mit tränenerstickter Stimme.

»Sag mir doch, was ich tun kann.« Lothar betrachtete ihn lange.

»Geh nach Hause«, sagte er, »geh in die Poechestraße und hoff das Beste.«

»Was bist du bloß für ein Mensch?«, sagte er und spürte, wie der Zorn wieder in ihm hochstieg. »Was bist du für ein teuflischer Mensch? Was bringt dich dazu, dich wie ein Scheusal zu verhalten, was ist das eigentlich? Woher kommen diese Machtgier und die Menschenverachtung, die Bösartigkeit und Niedertracht?«

Lothar blickte sich um und sah nur ein paar Gestalten, die an den anderen Tischen saßen. Dann lächelte er.

»Leute, die mit dem Feuer spielen, können sich verbrennen, aber sie sind immer wieder gleichermaßen erstaunt, wenn es passiert. Immer sind sie verflucht unschuldig und erstaunt, wenn sie sich verbrennen.« Lothar stand auf und beugte sich zu ihm hinunter.

»Geh nach Hause«, sagte er. »Hoff das Beste. Ich werde mit ihnen reden, aber ich kann nichts versprechen.« Dann schlenderte Lothar so gelassen zum Ausgang, als ginge ihn nichts von alledem etwas an. Er blieb zurück und schlug die Hände vors Gesicht. Seine Gedanken waren unablässig bei Ilona; in seiner Verzweiflung begann er, sich harmlose Szenarien und Erklärungen einzureden. Dass sie nur zur Vernehmung abgeführt worden war und bald wieder freigelassen würde. Vielleicht ging es jetzt darum, ihr Angst zu machen, genau wie sie ihm vor einigen Tagen Angst gemacht hatten. Sie machten sich die Angst der Menschen zunutze. Vielleicht war sie sogar schon wieder zu Hause. Er stand auf und verließ die Kaffeestube.

Als er hinaustrat, schaute er sich um und fand es seltsam, dass alles genau wie immer zu sein schien. Die Leute benahmen sich wie sonst — als ob nichts passiert wäre. Sie hasteten über die Bürgersteige oder standen zusammen und hielten ein Schwätzchen. Seine Welt war zusammengebrochen, aber alles war wie gehabt, alles schien in Ordnung zu sein. Er wollte nach Hause und dort auf sie warten.

Vielleicht war sie sogar schon zu Hause. Vielleicht würde sie etwas später kommen. Sie musste einfach wiederkommen.

Aus welchem Grund konnten sie sie festhalten? Weil sie sich mit Leuten getroffen und mit ihnen geredet hatte? Auf dem Weg nach Hause wusste er nicht, wo ihm der Kopf stand, er war wie von Sinnen. Es war erst so kurz her, dass sie dicht beieinander lagen und sie ihm sagte, dass es jetzt sicher sei, was sie seit einiger Zeit vermutet hatte.

Sie flüsterte es ihm ins Ohr. Wahrscheinlich war es gegen Ende des Sommers geschehen.

Er lag wie gelähmt da und starrte zur Decke, weil er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte. Aber dann umarmte er sie und sagte, dass er sein ganzes Leben mit ihr verbringen wollte.

»Mit uns beiden«, flüsterte sie.

»Ja, mit euch beiden«, sagte er und legte den Kopf auf ihren Bauch.


Er kam wieder zu sich, als seine Hand zu schmerzen begann. Wenn er an die damaligen Ereignisse zurückdachte, ballte er oft unwillkürlich die Faust, bis sie zu schmerzen anfing. Die Muskeln entkrampften sich, er saß auf seinem Sessel und dachte wie immer darüber nach, ob er es hätte verhindern können. Ob er etwas anderes hätte tun können.

Etwas, das den Lauf der Dinge beeinflusst hätte. Er kam nie zu einem Ergebnis.

Steif erhob er sich aus dem Sessel und ging zur Kellertür.

Er öffnete sie und schaltete das Treppenlicht ein, bevor er vorsichtig nach unten stieg. Die Treppe war ausgetreten, und die Stufen waren glatt. Er betrat den geräumigen Keller und machte Licht. Hier hatte sich im Laufe der Jahre viel angesammelt. Das schien unvermeidlich zu sein, denn er warf kaum etwas weg. Trotzdem herrschte kein Durcheinander, er war schon immer ein ordnungsliebender Mensch gewesen. Alles hatte seinen Platz, und alles, was er aufbewahrte oder verwendete, war an Ort und Stelle.

An der einen Wand befand sich ein Werktisch. Hin und wieder schnitzte er kleine Gegenstände aus Holz und bemalte sie. Das war sein einziges Hobby. Sich einen kantigen Holzklotz vorzunehmen und daraus etwas Lebendiges und Schönes zu schaffen. Einige Tierfiguren hatte er oben in seiner Wohnung, und zwar die, die er selber für gelungen hielt. Je kleiner sie waren, desto mehr Ehrgeiz legte er hinein. Es war ihm beispielsweise gelungen, einen Islandhund mit buschigem Schwanz und spitzen Ohren zu schnitzen, der kaum größer als ein Fingerhut war.

Er hockte sich vor den Arbeitstisch und öffnete den Kasten, den er darunter aufbewahrte. Seine Hand umschloss den Pistolengriff, und er zog die Waffe heraus. Wie immer fühlte sich der Stahl kalt an. Manchmal führten ihn seine Erinnerungen in den Keller, um die Waffe in die Hand zu nehmen oder auch nur, um sich zu vergewissern, dass sie noch an Ort und Stelle war.

Er bereute nichts von dem, was sich viele Jahre später ereignet hatte. Lange nachdem er aus der DDR zurückgekehrt war.

Lange nachdem Ilona spurlos verschwand.

Er würde es nie bereuen.

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