Vierzehn

Die Mitarbeiter des Außenministeriums waren sehr entgegenkommend und gern bereit, der Kriminalpolizei behilflich zu sein. Elínborg und Sigurður Óli hatten einen Termin bei einem Abteilungsleiter bekommen, einem überaus beflissenen Mann in Sigurður Ólis Alter. Die beiden kannten sich auch aus ihrer Studienzeit in Amerika und tauschten als Erstes ein paar gemeinsame Erinnerungen aus. Der Abteilungsleiter erklärte, dass die Anfrage der Kriminalpolizei einiges Erstaunen im Außenministerium hervorgerufen hatte, und wollte in Erfahrung bringen, wofür sie Informationen über frühere Angehörige der ausländischen Botschaften in Reykjavik brauchten. Sie schwiegen sich aus. »Eine reine Routineuntersuchung«, erklärte Elínborg lächelnd.

»Und es geht nicht um alle ausländischen Botschaften«, sagte Sigurður Óli und lächelte ebenfalls. »Nur um die Vertretungen der ehemaligen Ostblockländer.« Die Blicke des Abteilungsleiters wanderten von Elínborg zu Sigurður Óli.

»Ihr sprecht also von den früheren kommunistischen Staaten?«, fragte er, und es war ganz offensichtlich, dass seine Neugier keineswegs geringer geworden war. »Warum bloß die? Was ist mit denen?«

»Eine reine Routineuntersuchung«, wiederholte Elínborg.


Sie war guter Dinge. Die Party zum Erscheinen des Buchs war perfekt gelungen, und sie schwebte immer noch auf Wolken, nachdem in der größten Tageszeitung eine Rezension erschienen war, in der das Buch sehr gelobt wurde, die Rezepte, die Illustrationen und alles. Und zum Schluss wurde sogar der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass man sich mehr von Elínborg erwartete, der Kriminalpolizistin mit dem exquisiten Gaumen.

»Die kommunistischen Staaten«, wiederholte der Abteilungsleiter nachdenklich. »Was habt ihr da eigentlich im See gefunden?«

»Wir wissen nicht, ob das mit den Botschaften in Verbindung steht«, sagte Sigurður Óli.

»Kommt mit«, sagte der Abteilungsleiter und erhob sich.

»Am besten sprechen wir mit dem Staatssekretär, falls er in seinem Büro ist.«

Der Staatssekretär nahm sie in seinem Büro in Empfang und hörte ihnen zu, als sie ihr Anliegen vortrugen. Er versuchte ebenfalls, den Grund für diese ungewöhnliche Anfrage von ihnen zu erfahren, aber auch er brachte nichts aus ihnen heraus.

»Gibt es Akten über diese Botschaftsangehörigen?«, fragte der Staatssekretär, ein außergewöhnlich großer, schlanker Mann mit dunklen Ringen unter müden Augen und zerfurchtem Gesichtsausdruck.

»Ja, die gibt es«, sagte der Abteilungsleiter. »Es wird einige Zeit in Anspruch nehmen, diese Informationen zusammenzusuchen, aber es ist kein Problem.«

»Dann machen wir das doch«, sagte der Staatssekretär.

»Fand hier in Island während des Kalten Krieges Spionage statt?«, fragte Sigurður Óli.

»Glaubt ihr, dass der Mann im See ein Spion gewesen ist?«, war die Gegenfrage des Staatssekretärs.

»Wir können keine Einzelheiten der Ermittlung bekannt geben, aber es hat den Anschein, als hätten die Knochen schon vor 1970 im Wasser gelegen.«

»Es wäre naiv, von etwas anderem auszugehen, als dass es hierzulande Spionage gegeben hat«, sagte der Staatssekretär. »Das war in allen Ländern rings um uns herum der Fall, und Island war strategisch gesehen enorm wichtig, viel wichtiger als heutzutage. Viele Länder hatten hier Botschaften, auch die Ostblockstaaten, und außerdem natürlich Großbritannien, die USA und die Bundesrepublik.«

»Wenn wir von Spionage reden«, warf Sigurður Óli ein, »was umfasst das eigentlich genau?«

»Persönlich bin ich der Meinung, dass es in der Hauptsache darum ging, herauszufinden, was die anderen machten. In gewissen Fällen wurde versucht, Kontakte aufzubauen, das heißt, man bemühte sich, jemanden aus dem gegnerischen Lager auf seine Seite zu ziehen und dergleichen. Und dann ging es selbstverständlich um den Militärstützpunkt, den Umfang seiner Wirksamkeit und die militärischen Manöver. Ich gehe davon aus, dass es nur zu einem geringfügigen Teil Isländer betraf. Trotzdem ist bekannt, dass man versucht hat, sie zur Zusammenarbeit zu bewegen.« Der Staatssekretär sah nachdenklich aus.

»Sucht ihr womöglich nach einem isländischen Spion?«

»Nein«, sagte Sigurður Óli, obwohl er keine Ahnung hatte. »Hat es das tatsächlich gegeben? Isländische Spione? Ist das nicht völlig absurd?«

»Ihr solltet vielleicht mit Ómar sprechen«, sagte der Staatssekretär.

»Mit Ómar?«, fragte Elínborg.

»Ómar war Staatssekretär, und zwar die längste Zeit während des Kalten Krieges. Er ist ziemlich alt, aber noch geistig voll auf der Höhe«, fügte er hinzu und tippte sich mit dem Zeigefinger an den Kopf. »Bei Betriebsfesten ist er immer noch munter dabei und eine richtige Stimmungskanone. Er kannte alle diese Typen in den Botschaften. Er könnte euch vielleicht weiterhelfen.«

Sigurður Óli notierte sich den Namen.

»Dabei ist es vielleicht nicht korrekt, von Botschaften zu sprechen«, sagte der Staatssekretär. »Einige von diesen Ländern hatten hier nur eine kleine Vertretung, eine Handelsvertretung oder ein Verbindungsbüro, wie immer man es nennen will.«


Gegen zwölf trafen sie sich zu dritt in Erlendurs Büro. Erlendur hatte den Vormittag damit verbracht, den Bauern ausfindig zu machen, der auf den Mann im Ford Falcon gewartet und der Polizei gegenüber erklärt hatte, der Mann sei nie zur verabredeten Zeit bei ihm aufgetaucht. Sein Name stand im polizeilichen Protokoll. Erlendur hatte in Erfahrung gebracht, dass sein ehemaliger Landbesitz jetzt zum Teil als Bauland für den wachsenden Ort Mosfellsbær erschlossen worden war. Um 1980 hatte der Mann Hof und Grund verkauft und lebte jetzt in einem Altersheim in Reykjavik.

Erlendur war mit einem Mitarbeiter der Spurensicherung und den entsprechenden Geräten zu der Garage gefahren, in der der Falcon stand, und ließ ihn jedes Staubkörnchen aufsaugen und nach Blutflecken suchen.

»Das ist wohl mal wieder eins von deinen Spielchen«, sagte Sigurður Óli und biss in ein längliches Sandwich. Er kaute rasch, weil ihm augenscheinlich noch mehr auf der Seele lag, was er loswerden musste, und kämpfte damit, den letzten Bissen hinunterzuschlucken. »Wieso verschwendest du deine Zeit damit, diesen Mann ausfindig zu machen?«, fuhr er fort. »Willst du diesen Fall wieder aufrollen? Meinst du nicht, dass wir wichtigere Dinge zu tun haben, als hinter irgendwelchen verschollenen Personen von anno dazumal her zu sein? Es gibt jede Menge wichtigere Dinge zu tun.« Erlendur schaute Sigurður Óli durchdringend an.

»Eine junge Frau«, erklärte er, »steht vor einem Milchladen, in dem sie arbeitet, und wartet auf ihren Liebsten.

Er kommt nicht. Sie wollen heiraten. Haben eine nette Wohnung gefunden. Die Zukunft sieht rosig aus, wie es so schön heißt. Es deutet alles darauf hin, dass sie glücklich bis an ihr Ende leben können.« Sigurður Óli und Elínborg schwiegen.

»Nichts in ihrem Leben deutet darauf hin, dass etwas nicht in Ordnung ist«, fuhr Erlendur fort. »Er will sie von der Arbeit abholen, wie immer, wenn er in der Stadt ist.

Und dann kommt er nicht. Er ist mit einem Mann verabredet, aber lässt sich dort nicht blicken und verschwindet für ewig und alle Zeiten. Einiges deutet darauf hin, dass er einen Bus aufs Land genommen hat. Anderes wiederum lässt den Schluss zu, dass er Selbstmord begangen hat. Das wäre die einfachste Erklärung. Viele Isländer sind depressiv veranlagt, obwohl die meisten gut darüber hinwegtäuschen können. Und jetzt eröffnet sich mit einem Mal die Möglichkeit, dass er ermordet worden ist.«

»Ist es nicht schlicht und ergreifend ein Fall von Selbstmord?«, warf Elínborg ein.

»In keiner offiziellen Informationsquelle taucht ein Mann namens Leopold auf, der um diese Zeit verschollen ist. Es hat den Anschein, als habe er die Frau belogen. Níels hat damals den Fall bearbeitet und nichts in Bezug auf das Verschwinden unternommen. Er ging sogar davon aus, dass er hier in der Stadt nur eine Liebschaft mit dieser Frau hatte, aber selbst vom Land stammte. Falls es denn kein simpler Selbstmord war.«

»Mit anderen Worten, er hätte dann irgendwo auf dem Land eine Familie gehabt, und die Frau in Reykjavik war nur seine Geliebte?«, fragte Elínborg. »Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt, nur weil das Auto beim Busbahnhof gefunden wurde?«

»Du meinst also, dass er vielleicht wieder nach Vopnafjörður in den Schoß der Familie zurückgekehrt ist und nicht mehr in Reykjavik rumgebumst hat?«, meldete sich Sigurður Óli.

»In Reykjavik rumgebumst!«, sagte Elínborg. »Wie hält es die arme Bergþóra nur mit dir aus!«

»Diese Version ist keineswegs dümmer als alle anderen«, sagte Erlendur.

»Ist es wirklich möglich, in Island in Bigamie zu leben?«, fragte Sigurður Óli.

»Nein«, antwortete Elínborg entschieden. »Dazu sind wir zu wenige.«

»In Amerika fahnden sie nach solchen Typen«, sagte Sigurður Óli. »Da gibt es sogar extra Beiträge im Fernsehen, wenn sich solche Betrüger und Bigamisten auf diese Weise aus dem Staub machen. Einige bringen sogar ihre Familie um, verschwinden und gründen woanders eine neue.«

»In Amerika kann man sich auch leichter verstecken als hier«, sagte Elínborg.

»Das mag sein«, sagte Erlendur. »Aber ist es nicht auch in einer kleinen Gesellschaft ziemlich einfach, zumindest für einige Zeit ein Doppelleben zu führen? Dieser Mann war viel in Island unterwegs, manchmal sogar wochenlang. Er lernt eine Frau in Reykjavik kennen, vielleicht verliebt er sich, aber vielleicht ist sie auch nur ein Zeitvertreib für ihn. Als die Beziehung in ein etwas verbindlicheres Stadium eintritt, beschließt er, der Sache ein Ende zu machen.«

»Eine kleine, romantische Liebesgeschichte aus der großen Stadt«, sagte Sigurður Óli.

»Ob die Frau aus dem Milchladen über diese Möglichkeit nachgedacht hat?«, sagte Erlendur nachdenklich.

»Wurde denn keine Suchmeldung im Zusammenhang mit diesem Leopold rausgegeben?«, fragte Sigurður Óli.

Erlendur hatte eine kurze Meldung in den Zeitungen gefunden, wo es hieß, dass dieser Mann verschwunden sei.

Diejenigen, die glaubten, ihn gesehen zu haben, wurden gebeten, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen. Kleidung, Größe und Haarfarbe wurden beschrieben.

»Das hat aber nichts gebracht«, sagte Erlendur. »Es gab kein Foto von ihm. Níels sagte mir, dass sie die Frau nicht darüber informiert haben, dass er offiziell unter diesem Namen nicht aufzufinden war.«

»Das haben sie ihr nicht gesagt?«, wunderte sich Elínborg.

»Sie war natürlich nicht seine Frau«, gab Sigurður Óli zu bedenken.

»Du weißt doch, wie Níels ist«, sagte Erlendur. »Falls er Schwierigkeiten aus dem Weg gehen kann, dann geht er ihnen aus dem Weg. Níels hatte das Gefühl, dass die Frau zum Narren gehalten worden war, und das war für ihn wohl ausreichend, nichts weiter in die Wege zu leiten. Ich weiß es nicht. Er ist nicht besonders …« Erlendur brach mitten im Satz ab.

»Vielleicht hat sich der Kerl eine andere Frau zugelegt«, überlegte Elínborg, »und sich nicht getraut, ihr davon zu erzählen. Es gibt nichts Feigeres als treulose Männer.«

»Ach nee«, sagte Sigurður Óli.

»Ist er nicht kreuz und quer durch Island gereist und hat Landmaschinen verkauft?«, fuhr Elínborg fort. »War er nicht dauernd auf dem platten Land und in den Dörfern rings um die Insel unterwegs? Da ist es doch nicht ganz abwegig, dass er jemanden kennen gelernt hat und ein neues Leben beginnen wollte. Und sich nicht getraut hat, seiner Verlobten in Reykjavik was davon zu sagen.«

»Und seitdem ist er untergetaucht?«, warf Sigurður Óli ein.

»Um 1970 herum herrschten hier doch ganz andere Zustände«, sagte Erlendur. »Man brauchte mit dem Auto einen ganzen Tag bis nach Akureyri. Es gab noch keine Ringstraße. Die Verkehrsverbindungen waren viel schlechter und die kleinen Dörfer auf dem Land viel isolierter.«

»Damit meinst du wahrscheinlich, dass es etliche Käffer gegeben hat, wo nie jemand hinkam«, sagte Sigurður Óli.

»Ich hab irgendwo die Geschichte von einer Frau gehört«, sagte Elínborg, »die mit einem schicken Kerl verlobt war, alles lief wunderbar, aber dann ruft er eines Tages an und sagt ihr, dass er Schluss machen will. Und nach einigem Hin und Her gibt er zu, dass er vorhat, demnächst eine andere Frau zu heiraten. Und das war alles, was seine Verlobte zu hören bekam. Wie gesagt, es gibt keine Grenzen dafür, wie lausig sich Männer verhalten können.«

»Aber warum segelte dieser Leopold dann in Reykjavik unter falscher Flagge?«, fragte Erlendur. »Wenn er sich nicht getraut hat, der Frau hier in Reykjavik zu sagen, dass er auf dem Land eine andere kennen gelernt hat und ein neues Leben beginnen will. Warum dieses Versteckspiel?«

»Was weiß man schon über solche Männer«, sagte Elínborg resignierend.

Eine Weile herrschte Schweigen.

»Und was ist dann mit der Leiche im See?«, fragte Erlendur.

»Ich bin der Meinung, dass wir nach einem Ausländer suchen«, entgegnete Elínborg. »Ich finde die Vorstellung ganz einfach absurd, dass es sich um einen Isländer handeln soll, dem man ein russisches Abhörgerät angebunden hat. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass so etwas hier passiert.«

»Der Kalte Krieg«, gab Sigurður Óli zu bedenken. »Eine merkwürdige Zeit.«

»Ja, eine merkwürdige Zeit«, stimmte Erlendur zu.

»Im Kalten Krieg hatte man ständig Angst vor dem Weltuntergang«, sagte Elínborg. »Das hat einen doch dauernd beschäftigt. Man war nie frei von dem Gedanken, dass der Weltuntergang vielleicht kurz bevorstand. Das ist der einzige Kalte Krieg, den ich kenne.«

»Ein simples technisches Versagen, und kawumm!«, sagte Sigurður Óli.

»Irgendwo müssen sich solche Ängste doch auswirken«, sagte Erlendur. »In dem, was wir tun oder wie wir sind.«

»Beispielsweise darin, dass man Selbstmord begeht, so wie der Mann mit dem Falcon?«, fragte Elínborg.

»Wenn der mal nicht glücklich verheiratet in Hvammstangi lebt«, sagte Sigurður Óli, knüllte die Sandwichverpackung zusammen und zielte auf den Papierkorb, traf aber daneben.


Als Elínborg und Sigurður Óli gegangen waren, klingelte das Telefon bei Erlendur. Ein Mann war am Apparat, den er nicht kannte.

»Spreche ich mit Erlendur?«, fragte eine tiefe Stimme, die wütend klang.

»Ja. Wer ist am Apparat?«, erwiderte Erlendur.

»Lass gefälligst die Finger von meiner Frau«, sagte die Stimme.

»Von deiner Frau?«

Erlendur war völlig perplex. Es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, dass der Mann am anderen Ende der Leitung von Valgerður sprach.

»Kapiert?«, sagte die Stimme. »Ich weiß genau, worauf du aus bist, und ich verlange, dass du damit aufhörst.«

»Sie kann wohl selbst entscheiden, was sie will«, erklärte Erlendur, als er endlich begriffen hatte, dass es Valgerðurs Ehemann sein musste. Er erinnerte sich, was Valgerður über seine Seitensprünge erzählt hatte und dass sie zu Anfang ihrer Bekanntschaft mit Erlendur nur im Sinn gehabt hatte, sich an ihrem Mann zu rächen.

»Lass gefälligst die Finger von ihr.« Die Stimme hörte sich jetzt drohend an.

»Halt die Schnauze, Mensch«, sagte Erlendur und knallte den Hörer auf die Gabel.

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