Die Wochen nach Ilonas Verschwinden vergingen eine nach der anderen wie ein unbegreiflicher Albtraum. In seiner Erinnerung waren sie ein einziges Horrorszenario.
An welche Behörde in Leipzig er sich auch wandte, überall stieß er auf die gleiche ablehnende Haltung. Niemand wollte ihm sagen, was aus ihr geworden war, wohin man sie gebracht hatte und wo sie gefangen gehalten wurde, wessen sie beschuldigt wurde oder welche Abteilung der Volkspolizei mit ihrer Verhaftung zu tun hatte. Er versuchte, zwei seiner Dozenten von seinem Anliegen zu überzeugen, aber sie erklärten nur, dass sie nichts ausrichten könnten. Er wagte einen Vorstoß beim Rektor der Universität, aber der lehnte das Ansinnen rundheraus ab. Als er den zuständigen FDJ-Funktionär dazu bringen wollte, Nachforschungen anzustellen, wurde er eiskalt abserviert.
Zum Schluss rief er im Außenministerium in Island an.
Man versprach, sich in dieser Angelegenheit kundig zu machen, aber er hörte nie wieder etwas von dort; Ilona war keine isländische Staatsbürgerin, und sie waren nicht verheiratet. Der isländische Staat hatte keine Interessen wahrzunehmen, und darüber hinaus bestanden keine diplomatischen Beziehungen zur DDR. Seine Freunde an der Universität und die Isländer in Leipzig versuchten, ihm den Rücken zu stärken, waren aber genauso ratlos wie er.
Sie verstanden nicht, was da vorging. Vielleicht war alles nur ein Missverständnis. Früher oder später würde sie wieder auftauchen, und alles würde klargestellt werden.
Das Gleiche sagten Ilonas Freunde und andere ungarische Studenten an der Universität, die genauso bemüht waren, Antworten zu erhalten. Alle versuchten sie, ihn zu trösten und ihm zu sagen, dass er die Ruhe bewahren müsse, alles würde sich zum Schluss aufklären.
Er fand heraus, dass außer Ilona auch noch andere an diesem Tag verhaftet worden waren. Die Staatssicherheit hatte eine Razzia an der Universität durchgeführt. Unter denen, die festgenommen wurden, waren auch einige von Ilonas Freunden, die auf den geheimen Treffen gewesen waren.
Er wusste, dass Ilona sie alle gewarnt hatte, nachdem klar war, dass sie beschattet wurden und dass die Stasi Fotos von ihnen besaß. Einige wenige wurden noch am selben Tag wieder auf freien Fuß gesetzt, andere waren länger in Polizeigewahrsam, und einige waren immer noch im Gefängnis, als sie ihn abschoben. Niemand hatte etwas von Ilona gehört.
Er nahm Verbindung zu Ilonas Eltern auf, die von ihrer Verhaftung erfahren hatten; sie schrieben ihm einen ergreifenden Brief und wollten wissen, ob er Näheres über Ilonas Schicksal herausgefunden habe. Ihnen war nichts darüber bekannt, dass man sie nach Ungarn abgeschoben hatte. Zuletzt hatten sie eine Woche vor ihrem Verschwinden von ihr gehört, als sie einen Brief von ihr erhielten.
Darin hatte nichts gestanden, was darauf hindeutete, dass sie sich in Gefahr befand. Die Eltern hatten versucht, die ungarischen Behörden einzuschalten, um Nachforschungen über das Schicksal ihrer Tochter in der DDR anzustellen, aber ohne Erfolg. Die Behörden zeigten sich völlig desinteressiert. Angesichts des politischen Zustands in Ungarn machten sich die Funktionäre nicht das Geringste daraus, wenn eine vermeintliche Oppositionelle verhaftet wurde.
Die Eltern schrieben auch, dass sie keine Reiseerlaubnis in die DDR bekämen, um selber Nachforschungen anzustellen. Sie schienen vollkommen verzweifelt zu sein.
Er schrieb zurück, dass er alles daransetze, um in Leipzig etwas in Erfahrung zu bringen. Er sehnte sich danach, ihnen alles sagen zu können, was er wusste, dass sie heimlich gegen die SED und die FDJ agitiert hatte, dass sie Kritik an bestimmten Veranstaltungen und an der Unterdrückung von Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Pressefreiheit geübt hatte. Dass sie junge Deutsche auf ihre Seite gezogen und geheime Treffen organisiert hatte. Und dass sie es nicht hätte voraussehen können. Und schon gar nicht er selber. Aber er wusste, dass er einen solchen Brief nicht schreiben konnte, weil alles, was von ihm kam, gelesen werden würde.
Stattdessen schrieb er, dass er nicht ruhen werde, bis er herausgefunden hätte, was aus Ilona geworden war, und sie wieder freikäme.
Er ging nicht mehr zur Universität. Tagsüber marschierte er von einer Behörde zur anderen und ließ sich Termine bei den Funktionären geben, verlangte Hilfe und Erklärungen.
Zuletzt war es nur noch eine reine Formsache, denn es stellte sich immer klarer heraus, dass er dort keine Antworten auf seine Fragen bekam und sie nirgends bekommen würde. Nachts tigerte er in ihrem kleinen Zimmer auf und ab. Er konnte kaum noch richtig schlafen, schreckte nach ein paar Stunden unruhigem Schlaf wieder hoch. Die ganze Zeit über hoffte er, dass sie plötzlich wieder auftauchen würde, dass der Albtraum zu Ende wäre, dass sie mit einer Verwarnung freigelassen und wieder zu ihm zurückkommen würde und sie zusammen sein konnten. Er fuhr bei jedem Geräusch auf, das von der Straße hereindrang.
Wenn sich ein Auto näherte, ging er zum Fenster. Wenn es irgendwo im Haus knarrte, blieb er stehen, lauschte und hoffte, dass es Ilona wäre. Aber sie kam nicht. Und wieder brach ein neuer Tag an, und er war so entsetzlich allein und hilflos in dieser Welt.
Endlich raffte er sich dazu auf, Ilonas Eltern einen weiteren Brief zu schreiben und ihnen zu sagen, dass sie sein Kind unter dem Herzen getragen hatte. Es kam ihm so vor, als hörte er bei jedem einzelnen Buchstaben ihr Wehklagen.
Nun hielt er nach all diesen Jahren die Briefe von ihnen in der Hand, las sie wieder und spürte immer noch den Zorn darin, später die Verzweiflung und das völlige Unverständnis. Sie sahen ihre Tochter nie wieder. Er sah seine Geliebte nie wieder.
Ilona war für sie unwiederbringlich verloren.
Wie immer, wenn er es sich gestattete, sich in seine schmerzlichsten Erinnerungen zu vergraben, seufzte er tief. Gleichgültig, wie viele Jahre auch vergingen, die Sehnsucht war immer gleich schmerzhaft, der Verlust genauso unbegreiflich wie zuvor. In späteren Jahren versuchte er es zu vermeiden, über ihr Schicksal nachzudenken. Früher hatte er sich endlos mit dem Gedanken daran gequält, was mit ihr geschehen war, nachdem man sie abgeführt hatte. Er stellte sich die Verhöre vor. Er sah die Gefängniszelle neben dem kleinen Büro in der Stasizentrale vor sich. Hatte man sie dort eingesperrt? Wie lange? Hatte sie Angst gehabt? Hatte sie sich gewehrt? Hatte sie geweint? War sie misshandelt worden? Wie lange war sie dort oder woanders geblieben? Und natürlich die schlimmste Frage von allen: Was war aus ihr geworden? Jahrelang hatte sich sein ganzes Leben nur um diese Fragen gedreht. Er hatte nie geheiratet und Kinder bekommen.
Er versuchte, so lange wie möglich in Leipzig zu bleiben, aber da er sich von der Universität fern hielt und sich den Behörden und der FDJ gegenüber renitent verhielt, wurde ihm das Stipendium gestrichen. Er versuchte, ein Bild von Ilona zusammen mit einer Meldung über ihre ungesetzliche Festnahme im FDJ-Organ und in den Tageszeitungen von Leipzig unterzubringen, lief aber gegen Wände. Zuletzt wurde er aus der DDR ausgewiesen.
Als er später Nachforschungen anstellte und sich darüber informierte, wie man in jenen Zeiten im Ostblock mit Oppositionellen und Regimegegnern verfuhr, fand er heraus, dass es eine Reihe von Möglichkeiten gab. Sie konnte während der Inhaftierung in Leipzig oder in Ostberlin, wo sich der Hauptsitz der Staatssicherheit befand, umgekommen sein, oder sie war in ein Gefängnis wie Schloss Hoheneck überführt worden und hatte da den Tod gefunden. Dort befand sich das größte Frauengefängnis für politische Gefangene in der DDR. Ein anderes berüchtigtes Gefängnis war Bautzen II, bekannt unter dem Namen »Gelbes Elend«, weil die Mauersteine dort gelb waren. Dort wurden Häftlinge untergebracht, die sich der »verräterischen Handlungsweise gegen den Arbeiter- und Bauernstaat« schuldig gemacht hatten. Viele politisch Andersdenkende wurden kurz nach der ersten Verhaftung, die als Warnung galt, wieder freigelassen. Andere kamen nach kurzer Haft wieder frei, ohne jemals vor Gericht gestellt worden zu sein, und wieder andere tauchten erst nach vielen Jahren wieder auf, einige aber auch nie. Ilonas Eltern erhielten nie eine Benachrichtigung über ihren Tod, deswegen lebten sie jahrelang in der Hoffnung, dass sie wiederkommen könnte, aber das geschah nicht. Trotz intensiver Bemühungen, sowohl bei den Behörden in Ungarn als auch in der DDR, erhielten sie niemals Auskünfte über ihre Tochter. Es war, als hätte sie nie existiert.
Als Ausländer hatte er in einer Gesellschaft, die er so wenig kannte und noch weniger verstand, letzten Endes kaum Chancen. Er litt unter dem Gefühl seiner Ohnmacht gegenüber den Machthabern, während er von Dienststelle zu Dienststelle, von einem leitenden Funktionär zum anderen lief. Er hasste es, sich von allen Seiten sagen lassen zu müssen, dass man einen Menschen wie Ilona verhaften konnte, nur weil sie andere Ansichten hatte als die Machthaber.
Immer wieder fragte er Karl danach, was bei Ilonas Verhaftung geschehen war. Er war der einzige Zeuge, als die Polizei bei ihr zu Hause erschien. Er hatte von ihr einen Band mit Gedichten eines jungen ungarischen Dichters, den sie ins Deutsche übersetzt hatte, ausleihen wollen.
»Und was passierte dann?«, fragte er Karl zum hundertsten Mal. Er und Emíl saßen im Erfrischungsraum mit Karl zusammen. Drei Tage waren seit Ilonas Verschwinden vergangen, und er klammerte sich zu dem Zeitpunkt noch an die Hoffnung, dass man sie wieder freiließe und sie sich jeden Augenblick bei ihm melden oder womöglich hier in der Kaffeestube auftauchen würde. In regelmäßigen Abständen wanderten seine Blicke zur Eingangstür. Er war außer sich vor Sorge.
»Sie hat mir einen Tee angeboten«, sagte Karl, »und ich habe nicht nein gesagt. Dann hat sie Wasser aufgesetzt.«
»Über was habt ihr geredet?«
»Nichts Besonderes, bloß über Bücher, die wir gelesen hatten.«
»Was hat sie gesagt?«
»Nichts. Wir haben uns einfach unterhalten, und zwar über nichts Besonderes. Wir konnten doch nicht wissen, dass sie kurze Zeit später verhaftet werden würde.« Karl sah, wie sehr er unter all dem litt.
»Ilona war mit uns allen befreundet«, sagte er. »Ich versteh das nicht. Ich begreife nicht, was hier vorgeht.«
»Und was dann? Was ist passiert?«
»Dann klopfte es an der Tür«, sagte Karl.
»Und?«
»An der Wohnungstür. Wir waren in ihrem Zimmer, in eurem Zimmer, meine ich. Sie hämmerten an die Tür und brüllten etwas, das wir nicht verstanden. Ilona ging zur Tür, und als sie öffnete, stürmten sie herein.«
»Wie viele waren es?«
»Fünf, oder vielleicht sechs, ich kann mich nicht genau erinnern. Das Zimmer war voll von ihnen. Einige trugen die Uniform der Vopos, andere waren in Zivil. Einer kommandierte herum, und die anderen haben ihm gehorcht. Sie fragten Ilona nach ihrem Namen, sie hatten auch ihr Foto dabei, vielleicht das aus der Studentenkartei. Ich weiß es nicht. Und dann haben sie sie abgeführt.«
»Und sie haben alles auf den Kopf gestellt?«, fragte er.
»Sie haben einige Papiere mitgenommen, die sie gefunden hatten, und auch einige Bücher, aber ich weiß nicht, was genau«, sagte Karl.
»Was hat Ilona gemacht?«
»Sie wollte natürlich wissen, worum es ging, und hat mehrmals danach gefragt. Ich auch. Sie haben einfach nicht geantwortet. Sie haben ihr nicht geantwortet und erst recht nicht mir. Sie haben mich überhaupt nicht beachtet. Ilona bat darum, ein Telefongespräch führen zu dürfen, aber das wurde ihr nicht gestattet. Sie hatten den Auftrag, sie zu verhaften, nichts anderes.«
»Konntest du nicht fragen, wohin sie mit ihr wollten?«, warf Emíl ein. »Konntest du nicht irgendetwas machen?«
»Da war nichts zu machen«, sagte Karl kleinlaut. »Das müsst ihr verstehen. Wir konnten gar nichts tun. Ich konnte nichts machen! Sie waren gekommen, um sie zu verhaften, und sie haben sie abgeführt.«
»Hat sie Angst gehabt?« Karl und Emíl schauten ihn teilnahmsvoll an.
»Nein«, sagte Karl. »Sie hatte keine Angst. Sie hat gefragt, wonach sie suchten und ob sie ihnen behilflich sein könnte. Und dann gingen sie mit ihr weg. Sie bat mich noch, dir zu sagen, dass alles wieder in Ordnung kommen würde.«
»Wie hat sie sich genau ausgedrückt?«
»Ich sollte dir sagen, dass alles in Ordnung kommen würde. Das hat sie gesagt, und ich sollte es dir ausrichten. Dass alles in Ordnung kommen würde.«
»Das hat sie gesagt?«
»Dann wurde sie ins Auto gebracht. Sie waren mit zwei Autos gekommen. Ich rannte hinterher, aber das war natürlich hoffnungslos. Sie verschwanden um die Ecke. Das war das Letzte, was ich von Ilona gesehen habe.«
»Was wollten diese Kerle?«, stöhnte er. »Was haben sie mit ihr gemacht? Warum will niemand mir etwas sagen? Warum kriegt man keine Antworten? Was werden sie mit ihr machen? Was können sie ihr antun?« Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub sein Gesicht in den Händen.
»Was um alles in der Welt ist geschehen?«, stöhnte er.
»Vielleicht kommt es ja wieder in Ordnung«, sagte Emíl und versuchte, ihn zu trösten. »Vielleicht ist sie schon wieder zu Hause. Vielleicht kommt sie morgen nach Hause.« Er schaute Emíl mit verstörten Augen an. Karl saß stumm da.
»Wusstet ihr, dass … nein, natürlich habt ihr das nicht gewusst.«
»Was?«, fragte Emíl. »Was sollen wir gewusst haben?«
»Sie hat es mir gesagt, als wir uns zuletzt sahen. Niemand hat etwas gewusst.«
»Was wusste niemand?«, sagte Emíl.
»Dass sie schwanger ist«, sagte er. »Sie hatte es gerade erfahren. Wir bekommen ein Kind! Kapierst du jetzt? Kapierst du, wie abscheulich das ist? Diese verdammte Scheißbespitzelei und die Denunziationen dieser Arschlöcher! Was für Scheusale sind das? Was sind das für Menschen?! Für was kämpfen die? Wollen sie eine bessere Welt, indem sie einander bespitzeln? Wie lange wollen sie das Land hier mit Hilfe von Angst und Menschenverachtung regieren?«
»Sie war schwanger?«, stöhnte Emíl.
»Ich hätte bei ihr sein sollen, Karl, und nicht du. Ich hätte nie zugelassen, dass sie sie abführen. Niemals.«
»Willst du etwa mir die Schuld daran geben?,« fragte Karl.
»Es war nicht möglich, etwas zu tun. Ich konnte gar nichts machen.«
»Nein«, sagte er und legte die Hände vors Gesicht, um seine Tränen zu verbergen. »Natürlich nicht. Natürlich trägst du keine Schuld.«
Später, nachdem er gezwungen worden war, Leipzig und die DDR zu verlassen, und er seine Abreise vorbereitete, hatte er ein letztes Mal Lothar aufgesucht. Er traf ihn im FDJ-Büro an der Universität. Er hatte nicht das Geringste über Ilona herausgefunden. Die Angst und die Sorge, die ihn in den ersten Tagen und Wochen auf der Suche nach ihr vorangetrieben hatten, waren Hoffnungslosigkeit und Mutlosigkeit gewichen, die ihn beinahe erdrückten.
Lothar schäkerte im Büro mit zwei jungen Frauen, die über etwas, das er gesagt hatte, kicherten. Sie verstummten, als er eintrat. Er bat Lothar um ein Gespräch unter vier Augen.
»Und worum geht es diesmal?«, fragte Lothar, ohne sich zu rühren. Die beiden Frauen schauten ihn an, ihre Mienen waren jetzt ernst. Ilonas Verhaftung war wie ein Lauffeuer durch die ganze Universität gegangen. Sie war als Verräterin angeprangert worden, und es hieß, man hätte sie nach Ungarn abgeschoben. Er wusste, dass das eine Lüge war.
»Ich würde gern mit dir reden«, sagte er. »Ist das möglich?«
»Du weißt, dass ich nichts für dich tun kann«, sagte Lothar. »Ich habe dir das bereits gesagt. Lass mich in Ruhe.« Lothar wandte sich wieder den beiden Frauen zu, um weiter mit ihnen seine Späße zu machen.
»Hast du etwas mit Ilonas Verhaftung zu tun gehabt?«, fragte er und war jetzt ins Isländische übergewechselt.
Lothar wandte ihm den Rücken zu und antwortete nicht.
Die Blicke der Mädchen wanderten zwischen ihnen hin und her.
»Du hast vielleicht sogar selber den Befehl zur Verhaftung gegeben«, sagte er und hob die Stimme. »Hast du ihnen gesagt, dass sie gefährlich wäre? Dass man sie aus dem Verkehr ziehen müsste? Dass sie antikommunistische Propaganda verbreitete? Dass sie Widerstandstreffen organisierte? Warst du es, Lothar? War das deine Aufgabe?« Lothar tat, als hörte er ihn nicht, und sagte stattdessen etwas zu den beiden Frauen, die albern grinsten. Er trat an Lothar heran und packte ihn am Arm.
»Wer bist du?«, fragte er gefasst und ruhig. »Sag mir das.« Lothar drehte sich zu ihm um und schlug seine Hand weg.
Er packte ihn bei den Jackettaufschlägen und stieß ihn so heftig gegen den Aktenschrank an der Wand, dass es krachte.
»Lass mich in Ruhe«, zischte Lothar zwischen zusammengebissenen Zähnen.
»Was hast du Ilona angetan?«, fragte er mit der gleichen gefassten Stimme und machte keinen Versuch, sich zu wehren. »Wo ist sie? Sag mir das.«
»Ich habe nichts getan«, fauchte Lothar. »Sondier deine Umgebung, du dämlicher Isländer!« Damit stieß Lothar ihn zu Boden und marschierte aus dem Zimmer.
Auf der Heimreise erfuhr er, dass das sowjetische Militär in Ungarn einmarschierte, um den Aufstand niederzuschlagen.
Er hörte die alte Wanduhr Mitternacht schlagen und legte die Briefe wieder zurück an ihren Platz.
Im Fernsehen hatte er die Nachrichten aus aller Welt verfolgt. Die Berliner Mauer war gefallen, und Deutschland sollte wiedervereinigt werden. Er sah, wie die Menschen auf die Mauer kletterten und mit Spitzhacken und Vorschlaghämmern darauf einschlugen, als wollten sie die Bösartigkeit und Menschenverachtung treffen, mit denen sie errichtet worden war.
Als die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten Wirklichkeit geworden war und er sich bereit glaubte, unternahm er eine Reise in die ehemalige DDR. Es war das erste Mal, seitdem er dort studiert hatte. Diesmal brauchte er nur einen halben Tag, um dorthin zu gelangen. Er flog nach Frankfurt und von dort aus weiter nach Leipzig. Am Flughafen nahm er ein Taxi, das ihn zu seinem Hotel brachte. Abends aß er allein im Hotel, das ganz in der Nähe der Altstadt und des Universitätsgeländes lag. Im Restaurant saßen nur wenige Menschen, zwei ältere Ehepaare und vereinzelt ein paar Männer. Womöglich Vertreter, dachte er. Einer von ihnen nickte ihm zu, als ihre Blicke sich trafen.
Später am Abend unternahm er einen langen Spaziergang und erinnerte sich daran, was er gefühlt hatte, als er zum ersten Mal nach seiner Ankunft in aller Herrgottsfrühe durch die Stadt spazierte, in der er studieren sollte. Er dachte daran, wie die Welt sich seitdem verändert hatte. Er ging über das Universitätsgelände. Sein ehemaliges Wohnheim, die alte Villa, war instand gesetzt und restauriert worden, und dort befand sich jetzt die Hauptniederlassung eines ausländischen Konzerns. Das alte Universitätsgebäude, wo er Vorlesungen und Seminare besucht hatte, wirkte in der nächtlichen Finsternis noch düsterer, als er es in Erinnerung hatte. Er ging zurück in Richtung Innenstadt und besuchte die Nikolaikirche. Er stellte eine Kerze zum Gedenken an die Verstorbenen auf und zündete sie an. Dann lief er über den früheren Karl-Marx-Platz und von da aus zur Thomaskirche. Er schaute zur Statue von Bach hoch, vor der sie damals so oft gestanden hatten.
Eine alte Frau näherte sich ihm und bot ihm einen Blumenstrauß an. Er lächelte sie an und kaufte ihr einen kleinen Strauß ab.
Kurze Zeit später lenkte er seine Schritte dorthin, wo er im Geiste so oft verweilt hatte, im Wachen und im Träumen. Er freute sich zu sehen, dass das Haus noch stand.
Es war zum Teil renoviert worden, und die Fenster waren erleuchtet. Er traute sich nicht, zu den Fenstern hineinzuschauen, aber es kam ihm so vor, als lebte dort jetzt eine Familie. Dort, wo einmal das Wohnzimmer der alten Dame gewesen war, die alle ihre Angehörigen im Krieg verloren hatte, sah man jetzt das Flimmern eines Fernsehgeräts. Jetzt sah es da drinnen bestimmt ganz anders aus. Vielleicht war ihr Zimmer jetzt das Kinderzimmer des ältesten Sprösslings.
Er küsste den Blumenstrauß, legte ihn bei der Tür nieder und schlug das Zeichen des Kreuzes über ihm.
Einige Jahre zuvor war er nach Budapest geflogen und hatte Ilonas hochbetagte Mutter und ihre beiden Brüder getroffen. Der Vater war gestorben, ohne etwas über das Schicksal seiner Tochter erfahren zu haben.
Er saß einen ganzen Tag lang bei der alten Frau, die ihm Bilder von Ilona zeigte, als sie klein war, als Jugendliche und bis zum Abitur. Ilonas Brüder, die genau wie er nicht mehr die Jüngsten waren, sagten ihm das, was er bereits wusste, dass all ihr Bemühen um Antworten auf die Frage nach Ilonas Verbleib erfolglos geblieben war. Er hörte die Bitterkeit in ihren Worten und die Resignation, die sich seit langem in ihnen eingenistet hatte.
Am Tag nach seiner Ankunft in Leipzig begab er sich zur alten Stasizentrale am Dittrichring. Jetzt saßen aber keine Stasimitarbeiter mehr im Anmeldezimmer, sondern eine junge Frau, die ihn freundlich anlächelte und ihm eine Informationsbroschüre reichte. Er sprach immer noch recht gut Deutsch und erzählte ihr, dass er zu Gast sei und sich das Gebäude ansehen wolle. Außer ihm befanden sich noch zahlreiche andere Menschen dort und gingen durch offene Türen von einem Raum zum anderen, ohne dass jemand etwas sagte. Die junge Frau hörte, dass er Ausländer war, und auf ihre Frage, woher er käme, sagte er ihr, dass er Isländer sei. Sie erklärte, dass aus der ehemaligen Stasizentrale ein Museum gemacht werden solle. Er könne sich gern den Vortrag anhören, der gleich beginnen würde, und sich dann im Haus umschauen. Sie begleitete ihn in den Bürotrakt, wo Stühle aufgestellt worden waren. Alle waren besetzt, und einige Zuhörer lehnten an der Wand. In dem Vortrag ging es um die Inhaftierungen oppositioneller Schriftsteller in den siebziger Jahren.
Als der Vortrag zu Ende war, betrat er das Büro mit der kleinen Nische, wo Lothar und der Mann mit dem buschigen Schnauzbart ihm zugesetzt hatten. Die Zelle daneben stand offen, und er betrat sie. Vielleicht ist Ilona hier gewesen, ging es ihm durch den Kopf. Die Wände der Zelle waren mit Kritzeleien bedeckt, und er überlegte, ob sie womöglich mit einem Löffel gemacht worden waren.
Er hatte einen Antrag gestellt, die Akten bei der Behörde für Stasi-Unterlagen einsehen zu dürfen. Dort half man den Menschen dabei, Nachforschungen über verschollene Angehörige anzustellen oder die eigenen Akten mit den Informationen zu finden, die man im Zuge der gegenseitigen Kontrolle von Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunden und Familienangehörigen gesammelt hatte. Journalisten, Wissenschaftler und diejenigen, die glaubten, in den Akten erwähnt zu sein, konnten solche Anträge stellen, und das hatte er von Island aus sowohl schriftlich als auch telefonisch getan. Der Antragsteller musste präzise und ausführlich begründen, weswegen er die Akten einsehen wollte und wonach er suchte. Ihm war bekannt, dass tausende von braunen Umschlägen mit solchen Informationen in den letzten Tagen des DDR-Regimes in den Reißwolf gewandert waren und dass zahllose Personen daran arbeiteten, sie wieder zusammenzufügen. Der Umfang dieser Dokumente war ungeheuerlich.
Seine Reise nach Deutschland zeitigte keinen Erfolg. Trotz intensiver Suche fand er nicht das Geringste über Ilona.
Ihm wurde gesagt, dass ihre Akten wahrscheinlich vernichtet worden waren. Möglicherweise sei sie in die Arbeits- und Gefangenenlager in der Sowjetunion geschickt worden, und dann bestünde die Möglichkeit, in Moskau etwas darüber in Erfahrung zu bringen. Denkbar war auch, dass sie in den Händen des Staatssicherheitsdienstes zu Tode gekommen war, in Leipzig oder in Berlin, falls man sie dorthin gebracht hätte.
In den alten Stasiakten fand er ebenfalls nichts über den Verräter, der damals seine einzige große Liebe an die Staatssicherheit ausgeliefert hatte.
Jetzt saß er da und wartete darauf, dass die Polizei vor seiner Tür auftauchte. Das hatte er den ganzen Sommer bis in den Herbst hinein getan, ohne dass etwas passiert war.
Er war überzeugt, dass die Polizei früher oder später bei ihm erscheinen würde, und er hatte sich Gedanken gemacht, wie er darauf reagieren sollte. Würde er so tun, als sei nichts geschehen, und alles abstreiten und so tun, als fiele er aus allen Wolken? Es hinge vielleicht davon ab, was sie herausgefunden hatten. Er hatte keine Ahnung, was das sein könnte, stellte sich aber vor, dass sie gut vorbereitet sein müssten, wenn es ihnen einmal gelungen war, die Spur bis zu ihm zurückzuverfolgen.
Er starrte vor sich hin, und seine Gedanken wanderten wieder nach Leipzig zurück.
Die Worte, die Lothar bei ihrem letzten Zusammentreffen gesprochen hatte, hatten sich ihm bis auf den heutigen Tag wie ein Brandmal eingeprägt, und so würde es bis zum bitteren Ende bleiben. Drei Worte, die alles sagten.
Sondier deine Umgebung.