Elf

Der Erste Botschaftssekretär in der russischen Botschaft in Reykjavik war etwa im gleichen Alter wie Erlendur, aber er war wesentlich schlanker und wirkte ziemlich fit. Er nahm sie in Empfang und gab sich sichtlich Mühe, nicht förmlich zu wirken. Er trug einen Pullover und Khakihosen und erklärte lächelnd, er sei auf dem Weg zum Golfplatz. Nachdem Erlendur und Elínborg Platz genommen hatten, setzte er sich an seinen Schreibtisch und lächelte freundlich. Er war über den Zweck ihres Besuchs informiert; der Termin war schon vor einiger Zeit vereinbart worden, und die Golfverabredung verwunderte Erlendur. Daraus war nur zu schließen, dass er diese Besprechung so schnell wie möglich über die Bühne bringen und sie wieder hinauskomplimentieren wollte. Sie sprachen Englisch, und obwohl der Botschaftssekretär wusste, worum es ging, erklärte Elínborg mit einigen einleitenden Worten, weswegen sie ein Gespräch für nötig gehalten hatten. Ein russisches Abhörgerät sei an dem Skelett eines Mannes befestigt gewesen und der Tote höchstwahrscheinlich irgendwann nach 1961 damit im Kleifarvatn versenkt worden. Bislang seien noch keinerlei Informationen über die genauen Umstände an die Medien weitergegeben worden.

»Seit 1960 hat es eine ganze Reihe von sowjetischen und später russischen Botschaftern auf Island gegeben«, sagte der Botschaftssekretär und schien mit seinem selbstgefälligen Lächeln zum Ausdruck bringen zu wollen, dass nichts von dem, was sie erzählten, ihn persönlich etwas anginge. »Diejenigen, die hier in den sechziger Jahren und zu Anfang der Siebziger tätig waren, sind alle längst tot. Ich bezweifle auch, dass sie etwas über ein russisches Gerät in diesem See gewusst haben, genauso wenig wie ich.« Er lächelte. Erlendur erwiderte das Lächeln.

»Aber Sie haben doch hier während des Kalten Kriegs Spionage betrieben? Oder es zumindest versucht.«

»Das war vor meiner Zeit«, erwiderte der Botschaftssekretär. »Dazu kann ich nichts sagen.«

»Meinen Sie damit, dass Sie heutzutage keine Spionage mehr betreiben?«

»Was gibt es hier schon zu spionieren? Heutzutage geht man einfach wie alle anderen ins Internet. Außerdem spielt eure Militärbasis kaum noch eine so große Rolle für Island, falls sie denn überhaupt noch irgendeine Rolle spielt. Die Konfliktgebiete in der Welt haben sich verlagert. Amerika braucht den überdimensionalen Flugzeugträger Island nicht mehr. Niemand begreift, was dieser mordsteure Stützpunkt hier überhaupt soll. Wenn wir in der Türkei wären, könnte man es verstehen.«

»Das ist nicht unsere Militärbasis«, warf Elínborg ein.

»Uns ist bekannt, dass Angehörige der russischen Botschaft wegen Spionageverdacht des Landes verwiesen worden sind«, sagte Erlendur. »Als der Kalte Krieg auf seinem Höhepunkt war.«

»Da wissen Sie aber mehr als ich«, sagte der Botschaftssekretär. »Und selbstverständlich ist das Ihr Stützpunkt«, fügte er hinzu, während er Elínborg anblickte. »Machen Sie sich da doch nichts vor.«

Dann wandte er sich wieder Erlendur zu. »Falls wir Spione in unserer Botschaft hatten, waren es bestimmt nur halb so viele, wie es CIA-Agenten gab, die in der amerikanischen Botschaft herumliefen. Haben Sie sich dort mal erkundigt?

Ihren Darstellungen nach hört es sich so an, als handele es sich, na, wie wollen wir es ausdrücken, als handele es sich um einen Mafiamord. Ist Ihnen das noch nicht in den Sinn gekommen? Ein Zementklotz und ein tiefer See. Klingt ganz wie ein amerikanischer Gangsterfilm.«

»Es handelt sich aber um einen russischen Apparat«, sagte Erlendur, »der bei der Leiche gefunden wurde, ich meine, bei dem Skelett.«

»Das muss gar nichts besagen«, erwiderte der Botschaftssekretär. »Hier gab es andere Botschaften der Ostblockländer, die damals Geräte verwendet haben, die aus der ehemaligen Sowjetunion kamen. Unsere Botschaft muss damit nicht das Geringste zu tun haben.«

»Wir haben hier eine genauere Beschreibung des Geräts und Fotos«, sagte Elínborg und reichte ihm die Fotos und die dazugehörigen Papiere. »Können Sie uns etwas dazu sagen, wozu es verwendet wurde? Oder wer es verwendet hat?«

»Ich kenne das Gerät nicht«, sagte der Botschaftssekretär, während er sich die Fotos ansah. »Leider. Ich werde mich aber kundig machen. Doch selbst wenn es uns gelingt, das Gerät zu identifizieren, sehe ich nicht, wie wir Ihnen behilflich sein können.«

»Sollte man es nicht einfach darauf ankommen lassen?«, fragte Erlendur.

Der Botschaftssekretär lächelte.

»Sie müssen mir einfach glauben. Das Skelett im See hat nicht das Geringste mit dieser Botschaft und ihren Angehörigen zu tun. Weder damals noch heute.«

»Wir gehen davon aus, dass es ein Abhörsender ist«, sagte Elínborg. »Er war auf den früheren Frequenzbereich der amerikanischen Streitkräfte in Keflavík eingestellt.«

»Dazu kann ich nichts sagen«, sagte der Botschaftssekretär und schaute auf seine Armbanduhr. Der Golfplatz wartete.

»Falls Sie seinerzeit spioniert hätten — was Sie selbstverständlich nicht getan haben«, sagte Erlendur, »was hätte dann wohl Ihr Interesse auf sich gezogen?«

Der Botschaftssekretär zögerte ein wenig.

»Falls wir etwas Derartiges getan hätten, hätten wir natürlich gern gewusst, was da auf dem Stützpunkt vor sich ging, beispielsweise die Militärtransporte und die Positionierung von Kriegsschiffen, Flugzeugen und U-Booten.

Wir hätten sicher gern etwas über die jeweiligen Truppenstärken in Erfahrung gebracht. Das können Sie sich doch selber ausrechnen. Und wir hätten versucht, uns Informationen über die Wirksamkeit der Basis und der anderen militärischen Anlagen in Island zu beschaffen. Die waren über die ganze Insel verteilt, nicht nur in Keflavík.

Die Amerikaner waren überall im Land präsent. Wir hätten auch die Arbeit anderer Botschaften abgecheckt, die isländische Innenpolitik, die politischen Parteien und dergleichen.«

»1973 hat man zahlreiche solcher Geräte im Kleifarvatn gefunden«, sagte Erlendur. »Sendegeräte, Kurzwellensender, Aufnahmegeräte und sogar Radios. Alles aus Ostblockstaaten, das meiste aus der Sowjetunion.«

»Davon weiß ich nichts«, erwiderte der Botschaftssekretär.

»Nein. Selbstverständlich nicht«, sagte Erlendur. »Aber was für einen Grund kann es dafür gegeben haben, dass man diese Apparate in den See geworfen hat? Gab es keine andere Methode, solche alten Geräte loszuwerden?«

»Ich befürchte, dass ich Ihnen da nicht weiterhelfen kann«, sagte der Botschaftssekretär, der jetzt nicht mehr lächelte. »Ich habe versucht, Ihnen, so gut ich konnte, Rede und Antwort zu stehen, aber einiges weiß ich ganz einfach nicht. So sieht es aus.«

Elínborg und Erlendur standen auf. Der Mann trug eine Selbstgefälligkeit zur Schau, die Erlendur missfiel. Ihr Stützpunkt! Was wusste dieser Mann darüber, wie man in Island über den Stützpunkt dachte?

»Waren diese Geräte vielleicht so vorsintflutlich, dass kein Grund mehr bestand, sie per Kurier zurückzuschicken?«, fragte Erlendur. »Es ging natürlich nicht, sie einfach wie gewöhnlichen Müll zur Deponie zu bringen. Das waren Geräte, die eindeutig bewiesen, dass auf Island Spionage betrieben wurde. Als die Welt einfacher und die Linien klarer waren.«

»Sie können gern so viel darüber spekulieren, wie Sie wollen«, sagte der Botschaftssekretär und erhob sich. »Aber ich habe jetzt einen anderweitigen Termin.«

»Hätte der Mann im Kleifarvatn aus dieser Botschaft gewesen sein können?«

»Nein.«

»Oder aus einer anderen diplomatischen Vertretung der Ostblockländer?«

»Meines Erachtens ist das völlig indiskutabel. Und jetzt muss ich Sie wirklich bitten …«

»Wird jemand aus diesen Jahren vermisst?«

»Nein.«

»Das wissen Sie einfach so, ohne es zu überprüfen?«

»Ich habe es überprüft. Von uns wird niemand vermisst.«

»Kein Botschaftsangehöriger ist plötzlich verschwunden und nie wieder aufgetaucht?«

»Auf Wiedersehen«, sagte der Botschaftsrat und lächelte.

Er hielt die Tür für sie auf.

»Ganz bestimmt niemand, der verschwunden ist?«, sagte Erlendur, während er auf den Flur hinaustrat.

»Niemand«, sagte der Botschaftssekretär und machte ihm die Tür vor der Nase zu.

Sigurður Óli wurde gar nicht erst zum amerikanischen Botschafter oder seinen Untergebenen vorgelassen. Stattdessen wurde ihm die als »Vertraulich« gekennzeichnete Mitteilung zugestellt, dass im besagten Zeitraum keine Amerikaner als vermisst gemeldet worden waren. Sigurður Óli wollte Druck machen und ein Gespräch erzwingen, aber dieses Ansinnen wurde auf einer Sektionsleiterkonferenz im Dezernat mit der Begründung abgelehnt, dass man schon etwas Handfestes vorweisen können müsse, was den Schluss auf eine direkte Verbindung zwischen den Knochen im See und der amerikanischen Botschaft, der Basis oder amerikanischen Staatsangehörigen auf Island zuließe.

Man neigte zu der Theorie, dass dieser Skelettfund vor dem Hintergrund der Spionage auf Island zu sehen war und dass es sich vermutlich um einen Ausländer handelte. Sigurður Óli rief einen Freund an, der als Abteilungsleiter im Außenministerium für Verteidigungs- und Sicherheitsfragen zuständig war, und fragte an, ob er ihnen ehemalige Mitarbeiter des Ministeriums nennen könne, die imstande wären, der Kriminalpolizei Informationen über ausländische Botschaftsangehörige in den sechziger und siebziger Jahren zu geben. Er ging so wenig wie möglich auf die Einzelheiten der Ermittlung ein, verriet aber gerade so viel, dass es ihm gelang, das Interesse seines Freundes zu wecken, der versprach, sich wieder mit ihm in Verbindung zu setzen.

Erlendur hielt ein Glas Weißwein in der Hand und fühlte sich auf Elínborgs Party völlig deplatziert. Er hatte sehr mit sich gekämpft, ob er sich blicken lassen sollte oder nicht, aber zum Schluss hatte er sich doch dazu durchgerungen. Er langweilte sich auf solchen Feiern und den wenigen anderen Festivitäten, zu denen er eingeladen wurde. Er trank einen Schluck Weißwein und schnitt eine Grimasse. Er war sauer.

Sehnsüchtig dachte er an seinen Chartreuse zu Hause.

Er lächelte Elínborg zu, die mitten in einer Menschentraube stand und ihm zuwinkte. Sie sprach mit Leuten von der Presse. Es hatte einige Aufmerksamkeit erregt, dass eine Mitarbeiterin der Kriminalpolizei ein Kochbuch herausgab. Erlendur freute sich darüber, wie sehr sie es genoss, im Mittelpunkt zu stehen. Einmal hatte sie ihn zusammen mit Sigurður Óli und dessen Frau Bergþóra eingeladen, um ein neues indisches Geflügelrezept an ihnen auszuprobieren, von dem sie sagte, sie würde es in ihr Buch aufnehmen. Das Gericht war ungewöhnlich kräftig gewürzt und schmeckte köstlich. Sie lobten Elínborg so sehr, dass sie einen hochroten Kopf bekam.

Erlendur kannte außer seinen Kollegen nicht viele auf der Party, und er war geradezu erleichtert, als er sah, dass Bergþóra und Sigurður Óli auf ihn zusteuerten.

»Vielleicht versuchst du es mal mit einem Lächeln, wenn du uns siehst«, erklärte Bergþóra und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Sie erhoben die Gläser zu einem Skál auf Elínborg und stießen an.

»Wann kriegt man endlich diese Frau zu sehen, mit der du zusammen bist?«, fragte Bergþóra, und Erlendur bemerkte, dass Sigurður Óli neben ihr erstarrte. Das ganze Dezernat redete darüber, dass es in Erlendurs Leben auf einmal eine Frau zu geben schien, aber nur wenige wagten, ihn darauf anzusprechen.

»Vielleicht irgendwann einmal«, entgegnete Erlendur, »vielleicht zu deinem Achtzigsten.«

»Ist sie dann nicht schon mausetot?«, gab Bergþóra zu bedenken.

Erlendur lächelte.

»Was ist das denn hier für eine Truppe?«, fragte Bergþóra und ließ ihre Blicke über die Gesellschaft schweifen.

»Ich kenne nur die Cops«, sagte Sigurður Óli. »Ich denke aber, dass all die Pummeligen hier zu Elínborgs Familie gehören müssen.«

»Da hinten ist Teddi«, sagte Bergþóra und winkte Elinborgs Mann zu.

Jemand schlug mit einem Löffel an ein Glas, und das Stimmengewirr verstummte. Ein Mann begann in einer entfernten Ecke des Saals zu reden. Sie hörten nicht, was er sagte, aber die Leute lachten. Sie sahen, wie Elínborg sich einen Weg zu ihm bahnte und die Rede aus der Tasche zog, die sie vorbereitet hatte. Sie schoben sich näher heran, um zu hören, was sie sagte, schnappten aber nur noch die letzten Sätze auf, in denen sie ihrer Familie und ihren Kolleginnen und Kollegen bei der Kriminalpolizei für ihre Geduld und die Unterstützung dankte. Dann wurde geklatscht.

»Wollt ihr noch bleiben?«, fragte Erlendur und hörte sich an, als sei er im Begriff, die Party zu verlassen.

»Sei doch nicht immer so steif«, sagte Bergþóra. »Gib dich doch mal locker und genieß das Leben ein bisschen. Komm, kipp dir einen hinter die Binde.«

Sie schnappte sich ein Glas Weißwein vom nächsten Tablett.

»Kipp das runter!«

Elínborg tauchte in dem Gewimmel auf, begrüßte sie alle mit einem Kuss und fragte, ob sie sich langweilten. Dabei schaute sie Erlendur an, der sich einen kräftigen Schluck von dem sauren Weißwein zu Gemüte führte. Elínborg und Bergþóra entdeckten einen bekannten Fernsehmoderator unter den Gästen und tauschten sich darüber aus, mit wem er fremdging. Sigurður Óli traf einen Bekannten, und sie begrüßten sich mit Handschlag. Erlendur kannte ihn nicht und nutzte die Gelegenheit, um sich zurückzuziehen. Er wollte sich gerade klammheimlich wegschleichen, als er einem alten Kollegen in die Arme lief, der kurz vor der Pensionierung stand. Erlendur wusste, dass ihm das zu schaffen machte.

»Hast du gehört, wie es um Marian Briem steht?«, erkundigte sich der Mann und trank einen Schluck Weißwein.

»Die Lungen sind hinüber, wenn ich es richtig verstanden habe. Hockt nur noch zu Hause rum und quält sich.«

»Stimmt«, sagte Erlendur. »Und guckt sich Western an.«

»Du hast nachgeforscht, was mit dem Falcon ist?«, fragte der Mann, leerte sein Glas und griff sich ein neues von dem Tablett, das an ihnen vorbeischwebte.

»Dem Falcon?«

»Im Dezernat redet man darüber, dass du dich wegen des Skeletts im Kleifarvatn mit alten Vermisstenfällen befasst.«

»Kannst du dich an irgendetwas im Zusammenhang mit dem Falcon erinnern?«

»Nicht genau. Wir haben ihn vor dem Busbahnhof gefunden. Níels leitete damals die Ermittlung. Ich habe ihn übrigens auch gerade hier irgendwo gesehen. Das Buch von dem Mädel ist wirklich toll«, fügte der Mann hinzu. »Ich hab’s mir gerade angeschaut. Super Fotos.«

»Das Mädel ist schon über vierzig«, sagte Erlendur. »Aber trotzdem, ein tolles Buch.«

Er hielt Ausschau nach Níels und sah ihn schließlich auf einer breiten Fensterbank sitzen. Erlendur gesellte sich zu ihm und konnte nicht umhin, daran zu denken, wie sehr er diesen Mann manchmal beneidete. Níels konnte auf eine lange Karriere bei der Kriminalpolizei zurückblicken und war von einer Familie umgeben, auf die er stolz sein konnte. Seine Frau war eine bekannte Künstlerin, sie hatten vier vielversprechende Kinder in die Welt gesetzt, die alle studiert hatten und am laufenden Band Enkelkinder produzierten. Das Ehepaar lebte in einer eindrucksvollen Villa, die von der Künstlerin selbst entworfen worden war, zwei Autos standen in der Einfahrt, und nicht der geringste Schatten schwebte über ihrem Lebensglück. Für Erlendur konnte es keinen glücklicheren und zufriedeneren Mann geben als Níels. Von Freundschaft zwischen ihnen konnte keine Rede sein. Erlendur hatte immer das Gefühl gehabt, dass Níels ein arbeitsscheuer Mensch war, der eigentlich nichts bei der Kriminalpolizei zu suchen hatte. Das private Glück trug auch nicht dazu bei, Erlendurs Antipathien zu reduzieren.

»Marian ist schlimm dran«, sagte Níels, als Erlendur sich zu ihm setzte.

»Seine Zeit ist bestimmt noch nicht abgelaufen«, sagte Erlendur wider besseres Wissen. »Wie geht es dir?« Die Frage war eine reine Höflichkeitsfloskel. Er wusste immer ganz genau, wie es Níels ging.

»Ich kapier das einfach nicht mehr«, sagte Níels. »Wir schnappen an einem Wochenende immer wieder denselben Kerl bei Einbrüchen, gleich fünf Mal. Jedes Mal gibt er alles zu — und wird deswegen dann sofort wieder auf freien Fuß gesetzt, weil der Fall als aufgeklärt gilt. Dann der nächste Einbruch: Er gesteht alles, wird freigelassen und bricht sofort wieder irgendwo ein. Was für ein Hornochse ist das eigentlich? Warum kann man hier nicht ein System einrichten, in dem solche Idioten direkt eingelocht werden? Die können zwanzig solcher Delikte ansammeln, bevor sie endlich vor den Kadi gestellt werden, sie kriegen eine Minimalstrafe und kommen dann auf Bewährung wieder raus, und kurze Zeit später verhaften wir wieder die gleichen Typen. Das ist doch der reinste Irrsinn. Warum werden diese Kerle nicht einfach ordentlich verknackt?!«

»Wenn’s irgendwo im System hapert, dann in der isländischen Rechtsprechung«, sagte Erlendur.

»Diese Ganoven lachen sich doch kaputt über die Richter«, erklärte Níels. »Und dann die Sexualverbrecher, die sich an kleinen Kindern vergehen, und die Gewalttäter!« Sie schwiegen. Die öffentliche Diskussion über zu milde Strafen wurde auch innerhalb der Kriminalpolizei geführt, und die Mitarbeiter, die Verbrecher wie Kinderschänder und Vergewaltiger überführten und der Gerechtigkeit überantworteten, waren äußerst betroffen, wenn sie kurze Zeit später von milden Strafen, manchmal sogar auf Bewährung, hörten.

»Was ganz anderes«, sagte Erlendur. »Kannst du dich an den Mann erinnern, der diese landwirtschaftlichen Maschinen verkaufte? Er besaß einen schwarzen Ford Falcon. Und war auf einmal wie vom Erdboden verschluckt.«

»Meinst du das Auto vor dem Busbahnhof?«

»Ja.«

»Der hatte wirklich eine nette Frau, dieser Typ. Was wohl aus ihr geworden ist?«

»Sie ist immer noch nicht darüber hinweg«, sagte Erlendur. »Da fehlte eine Radkappe am Auto. Erinnerst du dich daran?«

»Wir sind damals davon ausgegangen, dass sie vor dem Busbahnhof geklaut worden ist. Der Fall gab nichts her, was auf ein Verbrechen hindeutete, vielleicht mit Ausnahme der gestohlenen Radkappe. Falls sie denn gestohlen wurde.

Genauso gut konnte er ja auch an eine Bordsteinkante gekommen sein und dabei die Radkappe verloren haben. Sie ist zumindest nie gefunden worden. Genauso wenig wie ihr Besitzer.«

»Warum hätte er sich umbringen sollen?«, fragte Erlendur.

»Es lief doch alles prima bei ihm. Er hatte eine hübsche Frau. Die Zukunft lag vor ihnen. Und er hatte sich einen Ford Falcon angeschafft.«

»Du weißt, dass all das überhaupt keine Rolle spielt, wenn Leute sich mit Selbstmordgedanken tragen«, sagte Níels.

»Glaubst du, dass er sich eine Busfahrkarte gekauft hat?«

»Wir fanden das wahrscheinlich, wenn ich mich richtig erinnere. Wir haben uns mit den Busfahrern unterhalten, aber keiner konnte sich an ihn erinnern. Das muss aber nicht besagen, dass er Reykjavik nicht doch mit dem Bus verlassen hat.«

»Aber du glaubst, dass er sich umgebracht hat.«

»Ja«, sagte Níels. »Aber …« Níels zögerte auf einmal.

»Was?«, fragte Erlendur.

»Dieser Mann hat irgendein Spiel gespielt«, erklärte Níels.

»Was meinst du damit?«

»Sie sagte, er hätte Leopold geheißen, aber weder in unseren Archiven noch im Volksregister haben wir jemanden in dem Alter, das sie angegeben hatte, mit diesem Namen gefunden. Keine Geburtsurkunde. Keinen Führerschein. Es gab keinen Leopold, der als dieser Mann zu identifizieren war.«

»Was willst du damit sagen?«

»Entweder sind alle Eintragungen über ihn im System verloren gegangen, oder …«

»Oder er hat diese Frau angelogen?«

»Zumindest kann er nicht Leopold geheißen haben«, sagte Níels.

»Was hat sie dazu gesagt? Was hat die Frau gesagt, als ihr sie danach gefragt habt?«

»Wir hatten das Gefühl, dass er ein falsches Spiel spielte«, sagte Níels nach einer Weile. »Wir haben sie bemitleidet. Sie hatte noch nicht einmal ein Foto von ihm. Daraus kann man wohl nur schließen, dass sie nichts über diesen Mann wusste.«

»Und?«

»Wir haben ihr nichts davon gesagt.«

»Ihr habt ihr nichts wovon gesagt?«

»Dass wir ihren Leopold nirgendwo ausfindig machen konnten«, sagte Níels. »Wir fanden, dass alles sonnenklar war. Er hat sie belogen und ist dann abgehauen.«

Erlendur saß stumm da, während ihm so langsam dämmerte, was Níels ihm eröffnet hatte. »Weil wir sie schonen wollten«, sagte Níels. »Und sie weiß es immer noch nicht?«

»Ich glaube nicht.«

»Warum hast du das vor ihr geheim gehalten?«

»Wahrscheinlich aus lauter Menschenfreundlichkeit.«

»Sie wartet immer noch auf ihn«, sagte Erlendur. »Sie wollten heiraten.«

»Das hat er ihr weisgemacht, bevor er abgehauen ist.«

»Und was ist, wenn er ermordet wurde?«

»Wir hielten das für äußerst unwahrscheinlich. Solche Fälle von Betrug kommen zwar selten vor, sind aber durchaus kein unbekanntes Phänomen. Männer lügen Frauen irgendwas vor, das bringt ihnen … wie sollen wir es ausdrücken, gewisse Annehmlichkeiten, und dann hauen sie ab. Ich glaube, dass sie es im Innersten auch gewusst hat. Wir brauchten ihr das nicht zu sagen.«

»Aber das Auto?«

»Es war auf den Namen der Frau angemeldet. Das Darlehen lief auch auf ihren Namen. Das Auto gehörte ihr.«

»Ihr hättet es ihr sagen müssen.«

»Vielleicht. Aber was hätte es ihr gebracht, wenn sie die Wahrheit erfahren hätte, nämlich, dass der Mann, den sie liebte, ein Betrüger war, jemand, der sie zum Narren gehalten hat? Er hat ihr nie etwas über seine Familie erzählt. Sie wusste gar nichts über diesen Mann. Er hatte keine Freunde. Er war dauernd als Vertreter unterwegs. Was schließt du daraus?«

»Sie wusste, dass sie ihn liebte«, sagte Erlendur. »Und das war der Dank.«

»Was hat dieser Bauer ausgesagt, mit dem er verabredet war?«

»Das steht in den Protokollen«, sagte Níels und nickte Elínborg lächelnd zu, die in ein Gespräch mit dem Verleger vertieft war. Elínborg hatte irgendwann einfließen lassen, dass er Anton hieß.

»Du weißt doch, dass nicht immer alles ins Protokoll aufgenommen wird.«

»Der Mann ist nie bei diesem Bauern erschienen«, sagte Níels. Erlendur sah ihm an, dass er versuchte, sich an Details zu erinnern. Jeder erinnerte sich nur an die großen Fälle, die Morde und rätselhaften Fälle von vermissten Personen, jede einzelne wichtige Verhaftung, an brutale Gewaltverbrechen und Vergewaltigungen. »Habt ihr in dem Falcon etwas gefunden, was Aufschlüsse darüber gab, ob er diesen Bauern tatsächlich getroffen hat oder nicht?«

»Wir haben nichts in dem Auto gefunden, was Hinweise darauf gab, dass er auf dem Hof in Mosfellssveit gewesen war.«

»Wie gründlich wurde es untersucht?«

»Damals waren wir meines Wissens technisch einfach nicht so weit wie heute. Wir haben das Auto so genau untersucht, wie wir konnten.«

»Habt ihr euch auch den Boden hinter den Pedalen vorgenommen?«

»Das steht im Protokoll.«

»Davon habe ich nichts gelesen. Ihr hättet sehen können, ob er bei diesem Bauern war oder nicht. Er hätte bestimmt Dreck an den Schuhen gehabt.«

»Es war kein komplizierter Fall, Erlendur, und niemand wollte ihn unnötig verkomplizieren. Der Mann hat sich aus dem Staub gemacht. Vielleicht hat er sich umgebracht. Die Leichen findet man nicht immer, wie du weißt. Gesetzt den Fall, dass wir irgendwas unter den Pedalen gefunden hätten — das hätte doch von überall herstammen können. Er hat Landmaschinen verkauft und ist in ganz Island herumgekommen.«

»Was haben die Kollegen an seinem Arbeitsplatz gesagt?« Níels überlegte.

»Das ist lange her, Erlendur.«

»Versuch, dich zu erinnern.«

»Er war nicht fest angestellt, so viel weiß ich noch. Das war damals ziemlich ungewöhnlich. Er bekam Prozente und wurde bezahlt wie ein Freiberufler.«

»Was bedeutet, dass er selber die Steuern abführen musste.«

»Wie ich gesagt habe, er war nirgendwo im System unter dem Namen Leopold zu finden. Nirgends.«

»Du glaubst also, dass er diese Frau ausgenutzt hat, wenn er in Reykjavik war, also so etwas wie ein Bratkartoffelverhältnis, und ansonsten hat er irgendwo auf dem Lande gelebt?«

»Vielleicht hat er sogar eine Familie gehabt«, sagte Níels.

»Solche Typen gibt’s.«

Erlendur trank einen Schluck Weißwein und betrachtete den perfekten Krawattenknoten unter Níels’ weißem Hemdkragen. Er war kein guter Kriminalbeamter. Für ihn gab es keine komplizierten Fälle.

»Du hättest ihr die Wahrheit sagen müssen.«

»Kann schon sein, aber so behielt sie den Mann in guter Erinnerung. Wir waren nicht der Meinung, dass es sich um ein Verbrechen handelte. Das Verschwinden dieses Mannes wurde nie als Mordfall betrachtet, denn es gab ja keinerlei Hinweise darauf, die eine Ermittlung gerechtfertigt hätten.«

Sie schwiegen, umgeben von lautem Stimmengewirr.

»Du und deine Vermisstenfälle, in die du dich reinkniest«, sagte Níels. »Warum dieses Interesse an so was? Wonach suchst du eigentlich?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Erlendur.

»Es war ein ganz gewöhnlicher Fall von spurlosem Verschwinden. Es hätte schon einiger anderer Dinge bedurft, um daraus eine Mordermittlung zu machen. Es gab keinerlei Hinweise, die dies gerechtfertigt hätten.«

»Nein, wahrscheinlich nicht.«

»Kriegst du nie genug davon?«, fragte Níels.

»Manchmal.«

»Und deine Tochter, die steckt wohl immer noch in derselben Scheiße«, sagte Níels mit seinen vier gut geratenen Kindern, die alle vorbildliche Familien gegründet hatten und ein ebenso perfektes, makelloses Leben lebten wie er.

Erlendur war sich dessen bewusst, dass die Verhaftung von Eva Lind und ihr Angriff auf Sigurður Óli die Runde im Dezernat gemacht hatten. Ihr wurden keine Zugeständnisse gemacht, weil sie Erlendurs Tochter war. Níels war die Geschichte offensichtlich ebenfalls zu Ohren gekommen.

Erlendur musterte ihn von Kopf bis Fuß, die gepflegte Kleidung und die polierten Fingernägel, und überlegte, ob ein glückliches Leben einen zwangsläufig zum Langweiler machte.

»Ja«, erwiderte Erlendur, »sie steckt immer noch in derselben Scheiße.«

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