Sechs

Sigurður Óli las den Brief- die letzten Worte eines jungen Mannes, der im Jahre 1970 sein Zuhause verließ, um nie wieder zurückzukehren.

Die Eltern des Mannes waren beide im gleichen Alter, achtundsiebzig, und bei guter Gesundheit. Sie hatten noch zwei jüngere Söhne, die um die fünfzig waren. Sie waren sich sicher, dass der älteste Sohn Selbstmord begangen hatte, denn sie nahmen ernst, was in seinem Brief stand.

Sie wussten weder, wie er es getan hatte, noch, wo seine sterblichen Überreste zu finden waren. Sigurður Óli hatte sie nach Kleifarvatn gefragt, nach dem Sendegerät und dem Loch im Schädel, aber sie hatten keine Ahnung, wovon er sprach. Ihr Sohn hatte sich nie mit irgendjemandem angelegt und hatte keine Feinde, so etwas war undenkbar.

»Es ist völlig ausgeschlossen, dass er ermordet wurde«, sagte die Frau und schaute ihren Mann an, immer noch voller Trauer über das Schicksal ihres Sohnes, der vor so vielen Jahren verschwunden war.

»Das steht doch hier in dem Brief«, sagte der Mann. »Es ist ganz offensichtlich, was er vorhatte.« Sigurður Óli las den Brief noch einmal.


Lieber Papa, liebe Mama, verzeiht mir, aber ich kann nicht anders es ist unerträglich und ich kann mir nicht vorstellen zu leben, das kann ich nicht will ich nicht und kann es nicht.


Der Brief war mit Jakob unterzeichnet.

»Dieses Mädel war schuld daran«, sagte die Frau.

»Das wissen wir gar nicht«, warf der Mann ein.

»Sie war auf einmal mit seinem Freund zusammen«, fuhr die Frau fort. »Das hat unser Junge nicht verkraftet.«

»Glaubt ihr, dass es unser Sohn sein könnte?«, fragte der Mann. Sie saßen Sigurður Óli gegenüber auf dem Sofa und warteten darauf, dass Fragen beantwortet wurden, die sie seit dem Verschwinden ihres Sohnes bedrängt hatten. Sie wussten, dass er die schwierigsten nicht beantworten konnte, die ihnen all diese Jahre auf der Seele gelegen hatten, die mit dem Verhalten und der Verantwortung der Eltern zusammenhingen, aber er konnte ihnen sagen, ob der Sohn gefunden worden war. In den Nachrichten hatte es lediglich geheißen, dass man das Skelett eines Mannes im Kleifarvatn gefunden hatte. Das Sendegerät oder das Loch im Schädel waren nicht erwähnt worden. Sie begriffen nicht, worauf Sigurður Óli hinauswollte, als er seine Fragen in diese Richtung lenkte. Sie wollten nur eine Antwort auf die eine Frage: War er das?

»Ich gehe davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit äußerst gering ist«, erklärte Sigurður Óli. Er blickte von einem Ehepartner zum anderen. Das unbegreifliche Verschwinden und der Tod eines geliebten Menschen hatten ihr ganzes Leben überschattet. Die Sache hatte nie ein Ende gefunden.

Ihr Sohn war immer noch nicht nach Hause gekommen, und so war es die ganzen Jahre über gewesen. Sie wussten nicht, wo er sich befand und was ihm widerfahren war, und diese Ungewissheit war von Trauer und Schwermut begleitet.

»Wir glauben, dass er ins Meer gegangen ist«, sagte die Frau.

»Er war ein guter Schwimmer. Ich bin immer der Meinung gewesen, dass er einfach hinausgeschwommen ist, bis er wusste, dass er zu weit geschwommen war, oder bis die Kälte ihn überwältigt hat.«

»Die Polizei hat uns seinerzeit gesagt, dass er wahrscheinlich ins Meer gegangen ist, weil die Leiche nicht gefunden wurde«, sagte der Mann.

»Wegen diesem Weibsbild«, sagte die Frau.

»Wir können ihr nicht die Schuld daran geben«, sagte der Mann.

Sigurður Óli merkte, dass die beiden in gewohntem Fahrwasser waren. Er stand auf, um sich zu verabschieden.

»Manchmal kriege ich so eine Wut auf ihn«, sagte die Frau, und Sigurður Óli war nicht klar, ob sie ihren Ehemann meinte oder ihren Sohn.


Valgerður erwartete Erlendur im Restaurant, sie trug dieselbe Lederjacke wie bei ihrer ersten Verabredung. Ihre Wege hatten sich zufällig gekreuzt, und Erlendur hatte sie in einem Anfall von Impulsivität zum Essen eingeladen, ohne zu wissen, ob sie verheiratet war und eine Familie hatte. Es stellte sich heraus, dass sie zwar mit einem Ehemann unter einem Dach lebte, aber die Beziehung hatte Risse bekommen, und die beiden Söhne waren aus dem Haus. Als sie sich das nächste Mal trafen, gab sie Erlendur gegenüber zu, dass es ihre Absicht gewesen war, ihn zu benutzen, um sich an ihrem Mann zu rächen.

Kurze Zeit später setzte sie sich wieder mit Erlendur in Verbindung, und seitdem hatten sie sich einige Male getroffen. Einmal war sie sogar zu ihm nach Hause gekommen. Er hatte nach besten Kräften versucht, aufzuräumen, zu spülen, die Zeitungen zu entsorgen und Bücher zurück in die Regale zu stellen. Er bekam äußerst selten Besuch und sträubte sich lange dagegen, dass Valgerður zu ihm nach Hause kam. Sie ließ aber nicht locker, weil sie wissen wollte, wie er lebte. Laut Eva Lind war seine Wohnung in diesem Wohnblock in Breiðholt eine Bude, in die er kroch, um sich zu verstecken.

»All diese Bücher«, sagte Valgerður, als sie schließlich neben ihm im Wohnzimmer stand. »Hast du das alles gelesen?«

»Das meiste«, sagte Erlendur. »Möchtest du einen Kaffee? Ich habe Teilchen dazu gekauft.«

Sie ging zu den Bücherschränken hin und strich mit dem Finger über die Buchrücken, versuchte, sie zu entziffern und nahm das eine oder andere Buch aus dem Regal.

»Sind das hier die über Bergnot und Katastrophen in Eis und Schnee?«, fragte sie.

Sie hatte bald herausgefunden, dass Erlendur ein ganz spezielles Interesse an verschollenen Personen hatte und mit Vorliebe Literatur darüber las, wie Menschen spurlos verschwanden. Und über tragische Todesfälle in Eis und Schnee.

Er hatte ihr erzählt, was er bisher nur Eva Lind und niemand anders anvertraut hatte: dass sein Bruder im Alter von acht Jahren bei einem Schneesturm in den Bergen umgekommen war. Erlendur war damals zehn Jahre alt.

Sie waren zu dritt gewesen, die beiden Jungen mit ihrem Vater. Nur Erlendur und sein Vater kehrten lebend wieder zurück, sein Bruder verirrte sich im Schneesturm und fand den Tod. Er war nie gefunden worden.

»Du hast mir gesagt, dass in einem von diesen Büchern etwas über dich und deinen Bruder steht«, sagte Valgerður.

»Ja«, antwortete Erlendur.

»Zeigst du mir eventuell das Buch?«

»Das mache ich ein anderes Mal«, sagte Erlendur. »Nicht jetzt. Ich zeige dir das Buch später.«

Als er das Lokal betrat, stand Valgerður auf, und wie immer gaben sie sich zur Begrüßung die Hand. Erlendur wusste eigentlich nicht, was für eine Beziehung das war, aber es war eine, und er fühlte sich wohl dabei. Obwohl sie sich jetzt schon bald ein halbes Jahr regelmäßig trafen, hatten sie nicht miteinander geschlafen. Ihre Beziehung drehte sich also zumindest nicht um Sex. Sie saßen lange zusammen und unterhielten sich über all die Dinge, die ihr Leben betrafen.

»Warum hast du ihn noch nicht verlassen?«, fragte er nach dem Essen, als sie Kaffee und Likör bestellt hatten und nachdem sie sich die ganze Zeit über Eva Lind und Sindri, über ihre Söhne und die Arbeit unterhalten hatten. Sie fragte ihn nach dem Skelett im Kleifarvatn, aber er konnte wenig dazu sagen, nur dass sie jetzt alte Fälle aufrollten von Personen, die Anfang der siebziger Jahre spurlos verschwunden waren.

Kurz bevor sie sich kennen lernten, hatte Valgerður erfahren, dass ihr Mann bereits seit zwei Jahren eine Affäre mit einer anderen hatte, und auch vorher war er bereits einmal fremdgegangen, aber nicht so »ernsthaft«, wie er sich ausdrückte. Als sie sich entschlossen zeigte, ihn zu verlassen, beendete er dieses Verhältnis sofort, und seitdem war nichts weiter geschehen.

»Valgerður …?«, hakte Erlendur nach.

»Du hast Eva Lind in dem Therapiecenter getroffen«, beeilte sie sich zu sagen, als ahnte sie, was als Nächstes kommen würde.

»Ja, ich habe sie getroffen.«

»Hat sie sich daran erinnert, wie sie festgenommen wurde?«

»Nein, ich glaube nicht, dass sie sich daran erinnert. Wir haben auch nicht darüber gesprochen.«

»Das arme Mädchen.«

»Wirst du bei ihm bleiben?«, fragte Erlendur.

Valgerður nippte an ihrem Likör.

»Es ist so schwierig«, sagte sie.

»Tatsächlich?«

»Ich bin irgendwie noch nicht bereit, dem ein Ende zu setzen«, sagte sie und blickte Erlendur in die Augen, »aber ich will dich auch nicht verlieren.«


Als Erlendur abends nach Hause kam, lag Sindri Snær auf dem Sofa und rauchte, während der Fernseher lief. Er nickte seinem Vater zu und starrte weiter auf den Apparat.

Erlendur sah aus den Augenwinkeln, dass er sich Zeichentrickfilme ansah. Da Erlendur seinem Sohn einen Schlüssel zu seiner Wohnung gegeben hatte, musste er jederzeit mit ihm rechnen, auch wenn er ihm nicht erlaubt hatte, sich bei ihm einzuquartieren.

»Kannst du das nicht ausmachen?«, fragte er, während er sich den Mantel auszog.

Sindri stand auf und schaltete den Fernseher aus.

»Ich hab keine Fernbedienung gefunden«, sagte er. »Ist das Teil nicht reichlich antik?«

»Nein«, sagte Erlendur. »Höchstens zwanzig Jahre oder so.

Ich sehe nicht viel fern.«

»Eva hat mich heute angerufen«, sagte Sindri und drückte die Zigarette aus. »War das einer von deinen Kollegen, der sie festgenommen hat?«

»Sigurður Óli heißt er. Sie ist mit einem Hammer auf ihn losgegangen. Sie wollte ihn niederstrecken, hat ihn aber nur an der Schulter getroffen. Er hatte vor, sie wegen Körperverletzung und Behinderung der Polizei anzuzeigen.«

»Du hast einen Deal gemacht, falls sie stattdessen bereit wäre, eine Therapie zu machen.«

»Sie hat sich nie einer Therapie unterziehen wollen. Sigurður Óli hat mir diesen Gefallen getan und keine Anzeige erstattet.«

Eddi. Er war ein Dealer, der im Zusammenhang mit einem Drogenfall gesucht wurde, und Sigurður Óli, zusammen mit zwei anderen Kriminalbeamten, hatte ihn in seiner Bude in der Nähe von Hlemmur ausfindig gemacht, nicht weit vom Hauptdezernat. Ein Bekannter von Eddi hatte der Polizei einen Tipp gegeben. Widerstand wurde ihnen nur von Eva Lind entgegengebracht. Sie war völlig ausgeklinkt.

Eddi lag halbnackt auf dem Sofa und rührte sich nicht. Ein anderes Mädchen, jünger als Eva Lind, lag ganz nackt neben ihm. Eva war außer sich vor Wut, als sie die Kriminalpolizisten sah. Sie kannte Sigurður Óli, weil er mit ihrem Vater zusammenarbeitete. Sie schnappte sich einen Hammer, der auf dem Boden lag, und ging mit ihm auf Sigurður Óli los, den sie mit einem Schlag an den Kopf zu Boden strecken wollte. Sie traf ihn aber nur an der Schulter, und das Schlüsselbein brach. Sigurður Óli ging in die Knie, weil der Schmerz unerträglich war. Als sie zu einem weiteren Schlag ausholte, sprangen die beiden anderen Polizisten hinzu und konnten Eva überwältigen.

Sigurður Óli sprach nie darüber, aber von den beiden anderen Beamten erfuhr Erlendur, dass er einen Moment gezögert hatte, als er sah, dass Eva Lind auf ihn losging. Er zögerte, Erlendurs Tochter etwas anzutun. Deswegen hatte sie überhaupt zum Schlag ausholen können.

»Ich habe gedacht, sie würde sich am Riemen reißen, nachdem sie das Kind verloren hat«, sagte Erlendur. »Aber sie benimmt sich schlimmer als je zuvor. Jetzt hat es ganz den Anschein, als ob ihr überhaupt nichts mehr wichtig wäre.«

»Ich würde sie gern besuchen«, sagte Sindri, »aber Besuche sind nicht gestattet.«

»Ich kann mit den Leuten reden.«

Das Telefon klingelte, und Erlendur streckte seine Hand danach aus.

»Erlendur?«, sagte eine kraftlose Stimme, die Erlendur sofort erkannte.

»Marian?«

»Was habt ihr da im Kleifarvatn gefunden?«, fragte Marian Briem.

»Knochen«, sagte Erlendur. »Nichts, worüber du dir den Kopf zu zerbrechen brauchst.«

»Ach so.« Marian Briem war pensioniert, tat sich aber schwer damit, sich von Erlendur und all den interessanten Fällen, in denen er ermittelte, fern zu halten.

Langes Schweigen.

»Ist was Besonderes?«, fragte Erlendur schließlich.

»Vielleicht solltest du dich ein bisschen intensiver mit dem See befassen«, sagte Marian. »Aber ich will dich nicht stören. Käme mir nicht in den Sinn. Ich will doch einen ehemaligen Kollegen nicht stören, der so beschäftigt ist.«

»Was ist mit Kleifarvatn?«, fragte Erlendur. »Was meinst du damit?«

»Nein, nein, mach’s gut«, sagte Marian und hängte auf.

Загрузка...