Neun

Erlendur hörte sich eine weitere Schilderung von dem spurlosen Verschwinden eines Menschen in den sechziger Jahren an. Sigurður Óli war mit dabei. Diesmal ging es um einen Mann Ende dreißig.

Eine erste Analyse der Knochen hatte ergeben, dass der Mann im Kleifarvatn etwa 35 bis 40 Jahre alt gewesen war.

Das Alter des russischen Geräts bot den Anhaltspunkt dafür, dass er irgendwann nach 1961 im See versenkt worden war. Man hatte den schwarzen Kasten, der unter dem Skelett gefunden worden war, gründlich untersucht. Es handelte sich um einen Abhörsender, der damals über Kurzwelle betrieben wurde und die Frequenzen abhören konnte, die in den sechziger Jahren von der NATO verwendet worden waren. Das Produktionsjahr war 1961, die Zahlen waren sehr schlampig abgefeilt worden, und die Beschriftung, soweit man sie noch erkennen konnte, war zweifelsohne russisch.

Erlendur hatte sich mit den Zeitungsartikeln befasst, die 1973 erschienen waren, nachdem man die russischen Apparate im Kleifarvatn gefunden hatte. Das meiste von dem, was Marian Briem ihm erzählt hatte, stimmte mit den Zeitungsberichten überein. Die Apparate waren in einer Tiefe von zehn Metern unweit der Geithöfði-Klippe gefunden worden, und das war ein ganzes Stück vom Fundort des Skeletts entfernt. Sigurður Óli und Elínborg wussten nichts von diesem alten Vorfall. Nachdem Erlendur sie darüber in Kenntnis gesetzt hatte, diskutierten sie, ob er in einem Zusammenhang mit dem Skelett im See stehen konnte. Für Elínborg schien das auf der Hand zu liegen. Falls die Polizei damals in weiterem Umkreis gesucht hätte, wäre man womöglich auf die Leiche gestoßen.

Den Polizeiprotokollen von damals zufolge hatten die Taucher ausgesagt, dass ihnen eine Woche zuvor, als sie ebenfalls dort Tauchübungen gemacht hatten, auf dem Weg zum Kleifarvatn eine schwarze Limousine entgegengekommen sei. Sie hatten den Eindruck, es hätte sich dabei um irgendeinen Botschafts­wagen gehandelt. Die sowjetische Botschaft verweigerte jegliche Auskunft in dieser Angelegenheit, und dasselbe galt für sämtliche anderen osteuropäischen Vertretungen in Reykjavik. Erlendur fand einen kurzen Bericht, in dem festgestellt wurde, dass die Apparate russischer Herkunft waren. Es waren einige Abhörgeräte mit einer Reichweite von etwa 160 Kilometern darunter, die aller Wahrscheinlichkeit nach dazu verwendet worden waren, Telefongespräche im Raum Reykjavik und Keflavík abzuhören. Es wurde für wahrscheinlich erachtet, dass die Apparate aus den frühen sechziger Jahren stammten, vorsintflutliche Geräte mit Kondensatoren, die vor langer Zeit von moderneren Transistorgeräten abgelöst worden waren. Die Apparate waren batteriebetrieben gewesen und fanden in einer normalen Reisetasche Platz.

Die Frau, die ihnen gegenübersaß, ging auf die siebzig zu, wirkte aber jünger. Sie hatten keine Kinder gehabt, als der Mann, mit dem sie zusammenlebte, urplötzlich von der Bildfläche verschwand. Sie waren nicht verheiratet gewesen, hatten aber seinerzeit in Erwägung gezogen, zum Standesamt zu gehen. Sie war seitdem keine neue Beziehung zu einem Mann eingegangen, erklärte sie schüchtern, und in ihrer Stimme schwang Trauer mit.

»Er war so ein lieber Mensch«, sagte die Frau. »Ich ging immer davon aus, dass er zurückkehren würde. Es war besser, an diese Möglichkeit zu glauben, als daran, dass er tot war. Damit konnte ich mich nicht abfinden. Und ich habe mich nie damit abgefunden.«

Die beiden hatten sich eine kleine Wohnung gekauft und freuten sich darauf, Kinder zu bekommen. Sie arbeitete damals in einem Milchgeschäft; das war 1968 gewesen.

»Du kannst dich doch daran erinnern«, sagte sie zu Erlendur. »Und du vielleicht auch«, fügte sie hinzu und sah Sigurður Óli an. »Damals gab es spezielle Milchgeschäfte, wo nur Milch und Quark und so etwas verkauft wurde. Ausschließlich Milchprodukte.«

Erlendur nickte bedächtig und verständnisvoll, aber Sigurður Óli machte schon wieder einen ungeduldigen Eindruck.

Der Mann wollte sie wie jeden Tag von der Arbeit abholen, aber sie stand lange Zeit vor dem Geschäft und wartete.

»Inzwischen sind mehr als dreißig Jahre vergangen«, sagte sie, während sie Erlendur anschaute, »und ich habe das Gefühl, als stünde ich immer noch vor dem Milchladen und wartete auf ihn. Die ganzen Jahre. Er war immer pünktlich, und ich kann mich erinnern, dass ich mir schon nach zehn Minuten Sorgen machte, warum er sich so verspätete, und dann vergingen eine Viertelstunde und eine weitere halbe Stunde. Ich weiß noch ganz genau, wie unendlich lang mir die Zeit vorkam. Es war, als hätte er mich vergessen.« Sie seufzte.

»Und später war es dann, als hätte er nie existiert.« Sie hatten die Protokolle gelesen. Die Frau hatte das Verschwinden des Mannes gleich am nächsten Morgen gemeldet. Die Polizei war zu ihr nach Hause gekommen.

Eine Suchmeldung ging durch Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen. Die Polizei nahm an, dass er bald gefunden werden würde. Sie wurde danach gefragt, ob er Alkoholprobleme gehabt hätte oder ob er sich schon früher einmal auf diese Art und Weise abgesetzt hatte, und ob es womöglich eine andere Frau in seinem Leben gäbe. Sie verneinte das alles, aber diese Fragen führten dazu, dass sie in ganz anderer Weise über den Mann nachdachte als zuvor. Gab es eine andere Frau? Hatte er sie wegen einer anderen Frau verlassen? Er war Handelsreisender und kam im ganzen Land herum. Er verkaufte diverse Landwirtschafts- und Baumaschinen, Traktoren, Heubläser, Bagger und Planierraupen, deswegen war er viel unterwegs. Manchmal sogar wochenlang. Er war gerade erst von einer solchen Reise zurückgekehrt, bevor er spurlos verschwand.

»Ich weiß nicht, was er da oben am Kleifarvatn zu tun gehabt haben sollte«, sagte sie und blickte vom einen zum anderen. »Da sind wir nie gewesen.«

Sie hatten ihr weder von dem russischen Apparat erzählt noch von dem Loch im Schädel, sondern nur, dass sie dort, wo früher der See gewesen war, ein Skelett gefunden hatten und dass sie infolgedessen jetzt die nicht aufgeklärten Vermisstenmeldungen eines bestimmten Zeitraums überprüften.

»Euer Auto wurde zwei Tage später vor dem Busbahnhof aufgefunden«, sagte Sigurður Óli.

»Niemand hat meinen Mann dort nach den Beschreibungen wiedererkannt«, sagte die Frau. »Ich hatte kein Foto von ihm. Und er auch nicht von mir. Wir waren noch nicht sehr lange zusammen, und wir besaßen keinen Fotoapparat. Wir haben nie Reisen unternommen. Bei der Gelegenheit macht man ja meist Fotos, oder?«

»Und zu Weihnachten«, sagte Sigurður Óli.

»Ja, zu Weihnachten«, sagte sie.

»Aber seine Eltern?«

»Sie waren schon lange tot. Er war viel im Ausland gewesen. Er hat teilweise auf Frachtschiffen gearbeitet, und irgendwann einmal hat er auch in England oder Frankreich gelebt. Er hatte sogar einen ganz leichten Akzent, weil er so lange im Ausland gewesen war. In der Zeit, die von seinem Verschwinden an verging, bis das Auto schließlich gefunden wurde, sind ungefähr dreißig Busse mit den unterschiedlichsten Zielen losgefahren, aber keiner der Busfahrer hat bestätigen können, dass er bei ihnen im Bus gesessen hat. Die Polizei war der Meinung, dass die Busfahrer ihn bestimmt bemerkt hätten, falls er einen Bus genommen hätte, aber ich bin mir sicher, dass sie nur versucht haben, mich zu trösten. Ich glaube, dass sie der Meinung waren, er würde sich besoffen in der Stadt herumtreiben und irgendwann wieder auftauchen. Sie haben mir gesagt, dass Frauen manchmal in ihrer Angst die Polizei anrufen, aber meistens ließen sich die Kerle nur voll laufen, und die Frauen machten sich Sorgen.« Die Frau schwieg eine Weile.

»Ich glaube nicht, dass sie sich bei dieser Suche sehr viel Mühe gegeben haben«, sagte sie schließlich. »Sie kamen mir nicht sehr interessiert vor.«

»Was glaubst du, weshalb er mit dem Wagen zum Busbahnhof gefahren ist?«, fragte Erlendur. Er sah, dass Sigurður Óli sich die Bemerkung über die Polizei notierte.

»Ich habe absolut keine Ahnung.«

»Glaubst du, dass jemand anders den Wagen dorthin gefahren haben kann? Um dich oder die Polizei auf eine falsche Fährte zu lenken? Um den Eindruck zu erwecken, dass er die Stadt verlassen hat?«

»Ich weiß es nicht«, sagte die Frau. »Ich habe natürlich viel über diese Möglichkeit nachgedacht — dass er umgebracht worden ist, aber es ist mir völlig schleierhaft, wer das getan haben könnte und noch viel weniger, weswegen. Ich verstehe es einfach nicht.«

»Häufig genug passiert so etwas rein zufällig«, sagte Erlendur. »Es muss nicht immer eine Erklärung geben. Hinter Morden steckt in Island in den wenigsten Fällen ein Vorsatz. Es handelt sich um verhängnisvolle Zufälle oder Affekthandlungen, völlig unvorbereitet und in den meisten Fällen auch völlig grundlos.«

In den Polizeiprotokollen stand, dass der Mann etwas früher am gleichen Tag vorgehabt hatte, einen Kundenbesuch zu machen, und im Anschluss daran nach Hause wollte.

Ein Bauer in der Nähe der Hauptstadt war an einem neuen Traktor interessiert, und er hatte einen kurzen Kundenbesuch beabsichtigt, um den Verkauf unter Dach und Fach zu bringen. Der Bauer hatte aber ausgesagt, dass der Mann nie bei ihm erschienen sei. Angeblich hatte er den ganzen Nachmittag auf ihn gewartet, aber der Mann ließ sich nicht blicken.

»Alles war also in schönster Ordnung, und dann haut er urplötzlich ab«, sagte Sigurður Óli. »Was ist da deiner Meinung nach vorgefallen?«

»Er ist nicht einfach abgehauen«, sagte die Frau. »Warum sagst du das?«

»Nein, entschuldige«, sagte Sigurður Óli. »Selbstverständlich nicht. Dann verschwand er. Entschuldige.«

»Ich weiß es nicht«, sagte die Frau. »Er konnte hin und wieder depressive Phasen haben, und dann war er verschlossen und zugeknöpft. Vielleicht wenn wir Kinder gehabt hätten … vielleicht wäre alles ganz anders gelaufen. Wenn wir Kinder gehabt hätten.«

Sie schwiegen. Erlendur sah im Geiste die Frau vor sich, wie sie von Zweifeln geplagt, besorgt und enttäuscht vor dem Milchladen stand.

»Hat er etwas mit irgendwelchen ausländischen Botschaften hier in Reykjavik zu tun gehabt?«

»Mit ausländischen Botschaften?«

»Ja, Botschaften«, sagte Erlendur. »Hatte er irgendwelche Verbindungen zu ihnen, vielleicht zu denen der Ostblockstaaten?«

»Nicht, dass ich wüsste«, sagte die Frau. »Ich verstehe das nicht … Was meinst du damit?«

»Kannte er jemanden von diesen Diplomaten? Hat er für sie gearbeitet oder so etwas?«, fragte Sigurður Óli.

»Nein, bestimmt nicht, oder auf jeden Fall nicht, nachdem ich ihn kennen lernte. Davon weiß ich nichts.«

»Was hattet ihr damals für ein Auto?«, fragte Erlendur, der sich nicht erinnern konnte, was in den Protokollen gestanden hatte.

Die Frau überlegte. Diese merkwürdigen Fragen brachten sie ganz durcheinander.

»Es war ein Ford«, sagte sie. »Ich glaube, das Modell hieß Falcon. Schwarz.«

»Aus den damaligen Protokollen geht hervor, dass man in oder am Auto nicht die geringsten Hinweise gefunden hat, die Aufschluss über das Verschwinden deines Mannes geben konnten.«

»Nein, sie haben nichts gefunden. Irgendjemand hatte eine Radkappe geklaut, aber sonst nichts.«

»Da vor dem Busbahnhof?«, fragte Sigurður Óli.

»Das glaubten sie.«

»Es hat also eine Radkappe gefehlt?«

»Ja.«

»Was ist aus dem Auto geworden?«

»Ich habe es verkauft. Ich brauchte Geld. Ich hab nie viel Geld besessen.«

Sie konnte sich an das Autokennzeichen erinnern und erwähnte es geistesabwesend. Sigurður Óli notierte es sich.

Erlendur gab ihm ein Zeichen, sie standen auf und bedankten sich. Die Frau blieb sitzen. Erlendur kam sie ungemein bemitleidenswert vor.

»Woher stammten diese Maschinen, die er verkauft hat?«, fragte Erlendur, nur um irgendetwas zu sagen.

»Die Landmaschinen? Die kamen aus Russland und aus Ostdeutschland. Sie waren seiner Meinung nach nicht so gut wie die amerikanischen, aber sie waren eben viel billiger.«


Erlendur war sich nicht sicher, was Sindri Snær von ihm wollte. Der Sohn hatte keine Ähnlichkeit mit seiner Schwester Eva, die der Meinung war, dass Erlendur nicht hartnäckig genug darauf bestanden hatte, mit seinen Kindern in Kontakt bleiben zu dürfen. Nur weil ihre Mutter beständig schlecht über ihn redete, hatten sie überhaupt gewusst, dass er existierte. Als Eva herangewachsen war, fand sie den Weg zu ihrem Vater und ließ ihren Zorn schonungslos an ihm aus. Sindri Snær war offensichtlich nicht in der gleichen Absicht gekommen, denn er hackte nicht auf Erlendur herum, dass er die Familie zerstört hatte. Er machte ihm keine Vorwürfe, weil er kein Interesse an Eva Lind und ihm gezeigt hatte, als sie klein waren und glaubten, dass ihr Vater ein schlechter Mensch war, weil er sie verlassen hatte.

Als Erlendur nach Hause kam, kochte Sindri gerade Spaghetti. Er hatte die Küche aufgeräumt, was bedeutete, dass er einige leere Verpackungen von Mikrowellengerichten weggeworfen, ein paar Gabeln gespült und die Kaffeemaschine und deren nähere Umgebung gesäubert hatte. Erlendur ging ins Wohnzimmer und schaute sich die Nachrichten an. Die Knochen im Kleifarvatn waren an die fünfte Stelle gerückt. Die Polizei hatte nichts von dem russischen Gerät verlautbaren lassen.

Schweigend saßen sie in der Küche und aßen Spaghetti. Erlendur zerkleinerte sie mit der Gabel und gab Butter dazu, Sindri spitzte die Lippen und sog sie schlürfend mit Ketchup ein. Erlendur fragte, wie es seiner Mutter ginge, aber Sindri entgegnete, nichts von ihr gehört zu haben, seit er in die Stadt gekommen war. Während sie aßen, lief im Wohnzimmer der Fernseher. Inzwischen hatte eine Talkshow begonnen, in der ein Popstar sich über seine Erfolge ausließ.

»Ich habe von Eva letztes Jahr zu Silvester erfahren, dass du einen Bruder gehabt hast, der gestorben ist«, sagte Sindri plötzlich und wischte sich den Mund mit einem Blatt von der Küchenrolle ab.

»Das stimmt«, sagte Erlendur nach einigem Nachdenken.

Darauf war er nicht gefasst gewesen. »Eva sagte, dass es großen Einfluss auf dich gehabt hat.«

»Das stimmt.«

»Und ein bisschen erklärt, wie du bist.«

»Wie ich bin?«, sagte Erlendur. »Ich weiß nicht, wie ich bin. Eva auch nicht!«

Sie aßen weiter. Sindri fuhr fort, die Spaghetti schlürfend aufzusaugen, während Erlendur sich damit abmühte, die glitschigen Nudeln auf der Gabel zu halten. Er nahm sich vor, beim nächsten Einkauf Haferflocken und gesäuerte Sülzwurst zu besorgen.

»Es ist nicht meine Schuld«, verkündete Sindri.

»Was?«

»Dass ich nicht weiß, wer du bist.«

»Nein«, sagte Erlendur, »das ist nicht deine Schuld.« Sie aßen schweigend weiter, bis Sindri die Gabel niederlegte und sich wieder mit dem Küchenpapier über den Mund wischte. Er stand auf, nahm sich einen großen Becher, füllte ihn unter dem Wasserhahn und setzte sich wieder an den Tisch.

»Sie hat gesagt, dass er nie gefunden worden ist.«

»Ja, das stimmt, er wurde nie gefunden«, sagte Erlendur.

»Also liegt er immer noch da oben in den Bergen?« Erlendur hörte auf zu essen und legte die Gabel zur Seite.

»Davon gehe ich aus, ja«, sagte er und schaute seinem Sohn in die Augen. »Wieso fragst du danach?«

»Suchst du manchmal nach ihm?«

»Suche ich nach ihm?«

»Suchst du nicht immer noch nach ihm?«

»Was willst du von mir, Sindri?«, fragte Erlendur.

»Ich habe da in den Ostfjorden gearbeitet, in Eskifjörður.

Sie wussten nicht, dass wir …«, Sindri zögerte, bis er das richtige Wort fand, »… dass wir uns kennen. Nachdem Eva mir das erzählt hatte, habe ich mich mal da vor Ort umgehört, vor allem bei älteren Leuten, die mit mir in der Fischfabrik gearbeitet haben.«

»Hast du sie über mich ausgefragt?«

»Nee, natürlich nicht direkt. Ich habe nicht nach dir gefragt.

Ich habe über alte Zeiten gesprochen und nach Leuten gefragt, die früher mal dort gewohnt haben, und nach den Bauern in der Gegend. Dein Vater war Bauer, nicht wahr? Mein Großvater.« Erlendur antwortete nicht.

»Es gibt Leute, die sich noch gut daran erinnern«, erklärte Sindri.

»Sich woran erinnern?«

»An die beiden Jungen, die mit ihrem Vater in die Berge gingen, und der jüngere Bruder kam ums Leben. Danach ist die Familie nach Reykjavik gezogen.« Erlendur schaute seinen Sohn an.

»Mit was für Leuten hast du geredet?«

»Mit irgendwelchen Leuten da in den Ostfjorden.«

»Und hast hinter mir herspioniert?«, fragte er schroff.

»Ich habe nicht hinter dir herspioniert«, sagte Sindri. »Eva Lind hat mir davon erzählt, und ich habe mich mal umgehört, was damals passiert ist.« Erlendur schob den Teller von sich.

»Und was ist passiert?«

»Ein verrücktes Unwetter. Dein Vater schaffte es nach Hause, und eine Suchmannschaft wurde ausgeschickt. Du warst in einer Schneewehe vergraben, als man dich fand. Dein Bruder wurde nie gefunden. Dein Vater hat sich nicht an der Suche beteiligt. Die Leute haben gesagt, dass er sich das so zu Herzen genommen hätte, dass er komisch wurde.«

»Komisch?«, sagte Erlendur gereizt. »Was für ein verdammter Blödsinn.«

»Deine Mutter hatte viel mehr Kraft. Sie ist jeden Tag mit den Suchtrupps losgezogen und dann später sogar ganz allein. Bis ihr zwei Jahre danach weggezogen seid. Sie ist immer wieder in die Berge gegangen und hat nach ihrem Sohn gesucht. Sie war darauf richtig fixiert.«

»Sie wollte ihn begraben«, sagte Erlendur, »darauf war sie fixiert.«

»Die Leute haben auch über dich gesprochen.«

»Es wäre besser, wenn du nicht auf solchen Klatsch und Tratsch hören würdest.«

»Sie haben gesagt, dass der ältere Bruder, der gerettet wurde, regelmäßig in den Osten käme und dort in den Bergen herumwandere. Es würden manchmal ein paar Jahre zwischen seinen Besuchen vergehen, und in letzter Zeit wäre er auch längere Zeit nicht da gewesen, aber das würde nichts besagen. Er käme allein und hätte ein Zelt dabei, würde sich ein paar Pferde ausleihen und ins Gebirge ziehen. Nach einer Woche oder zehn Tagen, manchmal sogar einem halben Monat, käme er wieder und führe dann nach Reykjavik zurück. Er würde nie mit jemandem reden, außer mit dem Mann, bei dem er die Pferde leiht, und auch dann sagte er nicht viel.«

»Reden die Leute im Osten wirklich immer noch darüber?«

»Das wohl nicht«, sagte Sindri. »Jedenfalls nicht viel. Ich habe mich bloß umgehört und habe mit Leuten geredet, die sich daran erinnern konnten und sich an dich erinnern konnten. Ich hab auch mit dem Bauern gesprochen, der dir die Pferde vermietet.«

»Warum hast du das getan? Du hast doch nie …«

»Eva Lind hat mir gesagt, dass sie dich besser versteht, nachdem du ihr davon erzählt hast. Sie will dauernd über dich reden. Ich habe nie Bock gehabt, über dich nachzudenken.

Aber du bedeutest ihr was, frag mich nicht wieso. Für mich spielst du keine Rolle. Ich finde die Situation okay. Ich finde es okay, dass ich dich nicht brauche und noch nie gebraucht habe. Eva braucht dich aber, und das hat sie schon immer getan.«

»Ich habe versucht, alles für Eva zu tun, was in meiner Macht steht«, sagte Erlendur.

»Ich weiß, das hat sie mir auch gesagt. Manchmal denkt sie, dass du dich nur einmischen willst, aber trotzdem glaube ich, dass sie ganz genau weiß, was du für sie tust.«

»Die sterblichen Überreste eines Menschen können noch viele Jahrzehnte später gefunden werden«, sagte Erlendur.

»Sogar Jahrhunderte später. Rein zufällig. Dafür gibt es viele Beispiele.«

»Bestimmt«, sagte Sindri. »Eva hat gemeint, dass du dich dafür verantwortlich fühlst, was mit ihm passiert ist. Weil du ihn nicht festhalten konntest. Gehst du deswegen in den Osten? Um zu suchen?«

»Ich glaube …« Erlendur verstummte.

»Wegen irgendwelcher Gewissensbisse?«

»Ich weiß nicht, ob es Gewissensbisse sind«, sagte er und lächelte schwach.

»Aber du hast ihn nie gefunden«, sagte Sindri.

»Nein«, sagte Erlendur.

»Deswegen zieht es dich immer wieder dorthin.«

»Es tut immer gut, wenn man einen Ortswechsel vornimmt und ein bisschen mit sich allein ist.«

»Ich hab mir das Haus angesehen, wo ihr früher gewohnt habt. Der Hof ist verfallen.«

»Ja«, sagte Erlendur, »schon seit langem. Eigentlich ist es nur noch eine Ruine. Ich habe manchmal überlegt, ob man es renovieren und zu einem Sommerhaus umfunktionieren lassen soll, aber …«

»Aber da ist doch völlig tote Hose.« Erlendur blickte Sindri an.

»Es tut immer noch gut, da zu schlafen. Bei den Geistern der Vergangenheit.«


Als er abends zu Bett ging, dachte er an die Worte seines Sohnes. Es stimmte, was Sindri gesagt hatte. Er war manchmal im Sommer in die Ostfjorde gefahren, um nach seinem Bruder zu suchen. Er wusste keinen anderen Grund dafür als den offensichtlichen, dass er die sterblichen Überreste finden wollte, um die Sache zum Abschluss zu bringen, auch wenn er sich im tiefsten Inneren klar darüber war, dass wenig Hoffnung bestand. Die erste und die letzte Nacht auf diesen Reisen verbrachte er immer in ihrem ehemaligen Wohnhaus. Der Hof war verlassen. Er schlief auf dem Fußboden im Wohnzimmer, schaute durch zerbrochene Fensterscheiben zum Himmel hinauf und dachte an die Zeiten zurück, als er hier in diesem Zimmer mit seiner Familie, mit Verwandten und befreundeten Nachbarn saß.

Er betrachtete die schön lackierte Zimmertür, sah seine Mutter mit der Kaffeekanne hereinkommen und den Gästen in der sanften Helligkeit der Wohnzimmerlampe Kaffee einschenken. Sein Vater stand an der Tür und lächelte über etwas, das gesagt worden war. Sein Bruder, den all diese Gäste schüchtern machten, kam zu ihm und fragte, ob er sich noch ein Stückchen Gebäck nehmen durfte. Er selber saß am Fenster und schaute zu den Pferden hinaus.

Die Leute hatten einen Ausritt gemacht, alle waren guter Dinge, und man unterhielt sich lebhaft.

Das waren die Geister seiner Vergangenheit.

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