Erlendur sah Marian an. Marian Briem saß auf einem Sessel im Wohnzimmer, hatte eine Kunststoffmaske vor dem Gesicht und bekam Sauerstoff für die Lungen. Als ehemaliger Kollege hatte er Marian Briem zuletzt zu Weihnachten besucht, und damals hatte er nicht gewusst, wie krank Marian war. Er hatte sich im Dezernat erkundigt und erfahren, dass die Lungen nach jahrzehntelangem Kettenrauchen hinüber waren. Eine Embolie hatte eine rechtsseitige Lähmung zur Folge gehabt, die Handbewegungen und Gesichtsmuskeln beeinträchtigte. Trotz des Sonnenscheins draußen war es dämmrig in der Wohnung, überall lag eine dicke Staubschicht. Marian Briem erhielt einmal am Tag Besuch von einer Krankenpflegerin, die gerade im Begriff war, zu gehen, als Erlendur eintraf.
Er nahm auf dem tiefen Sofa Platz und dachte daran, wie übel das Alter Marian mitgespielt hatte. Die Haut spannte sich über den Knochen, und der große Kopf zitterte beständig. Im Gesicht trat jeder einzelne Knochen hervor, und die Augen waren tief eingesunken. Das gelbliche Haar stand wirr um den Kopf. Erlendurs Blicke blieben an den nikotingelben Fingern mit den rissigen Nägeln hängen, die auf der Sessellehne ruhten. Marian schlief.
Die Krankenpflegerin hatte Erlendur hereingelassen, der schweigend darauf wartete, dass Marian aufwachte. Er musste daran denken, wie er vor vielen, vielen Jahren zum ersten Mal bei der Kriminalpolizei zur Arbeit erschien.
»Was ist eigentlich mit dir los?«, hatte Marian Briem zu ihm gesagt. »Kannst du nicht lächeln?« Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er wusste nicht, was er von dieser kleinwüchsigen Gestalt zu halten hatte, die ständig eine Zigarette zwischen den Fingern hatte und immer von beißendem, blauem Zigarettenqualm umgeben war.
»Warum willst du dich ausgerechnet mit kriminellen Delikten befassen?«, fuhr Marian Briem fort, als Erlendur keine Antwort gab. »Warum bleibst du nicht einfach bei der Polizei und regelst den Verkehr?«
»Ich dachte, ich könnte mich hier nützlich machen«, sagte Erlendur.
Das kleine Büro war mit Ordnern und Papierstapeln voll gestopft. Ein Riesenaschenbecher auf dem Schreibtisch quoll über von Kippen. Der Raum war völlig verqualmt, was Erlendur aber nicht störte. Er rauchte selber und zog eine Zigarette aus seiner Tasche.
»Hast du irgendein spezielles Interesse an Verbrechen?«, fragte Marian Briem.
»An bestimmten«, sagte Erlendur und griff nach einer Streichholzschachtel.
»An bestimmten?«
»Ich interessiere mich für Leute, die spurlos verschwinden.«
»Für Leute, die spurlos verschwinden? Wieso denn das?«
»Es war schon immer so. Ich …« Erlendur zögerte.
»Was? Was wolltest du sagen?« Marian Briem zündete sich die nächste Zigarette mit einem noch brennenden Stummel an, der im Anschluss daran zu all den anderen Kippen in den Aschenbecher wanderte. »Was dauert das bei dir, bis du dir was aus der Nase ziehen lässt! Wenn du auch bei der Arbeit so ein Schneckentempo vorlegst, hast du hier bei mir nichts zu suchen. Also heraus damit!«
»Ich bin der Überzeugung, dass solche Fälle viel öfter etwas mit Verbrechen zu tun haben, als gemeinhin angenommen wird«, sagte Erlendur. »Beweisen kann ich das natürlich nicht. Es ist nur so ein Gefühl.«
Erlendur tauchte wieder aus seinen Erinnerungen auf. Er sah, wie Marian den Sauerstoff einatmete. Er schaute aus dem Wohnzimmerfenster. Nur so ein Gefühl, dachte er.
Marian Briem öffnete langsam die Augen und bemerkte Erlendur auf dem Sofa. Ihre Blicke trafen sich, und Marian nahm die Sauerstoffmaske ab.
»Haben denn alle die verdammten Kommunisten vergessen?«, sagte Marian mit heiserer Stimme. Der Mund stand nach der Embolie etwas schief, und die Aussprache war undeutlicher.
»Wie geht es dir?«, fragte Erlendur.
Marian lächelte knapp. Oder vielleicht war es eine Grimasse.
»Falls ich dieses Jahr über die Runden bringe, wäre es ein Wunder.«
»Warum hast du mir nichts davon gesagt?«
»Wozu? Kannst du mir neue Lungen verschaffen?«
»Krebs?«
Marian nickte.
»Du hast zuviel geraucht«, sagte Erlendur.
»Was würde ich nicht für eine Zigarette geben.« Marian legte die Sauerstoffmaske wieder an und blickte gleichzeitig so erwartungsvoll auf Erlendur, als solle er jetzt die Zigarettenschachtel aus der Tasche ziehen. Erlendur schüttelte den Kopf. Der Fernseher in der Ecke lief, und die kranken Augen wanderten zum Bildschirm. Die Maske senkte sich wieder.
»Wie kommst du mit deinem Skelett vorwärts? Haben denn wirklich schon alle die Kommunisten vergessen?«
»Was redest du da dauernd von den Kommunisten?«
»Dein Oberboss kam gestern zu Besuch, oder vielleicht wollte er sich ja auch nur von mir verabschieden. Diesen versnobten Angeber habe ich noch nie ausstehen können.
Ich begreife nicht, warum du dich diesen Beförderungen verweigerst. Was steckt dahinter? Kannst du mir das sagen? Du hättest seit langem eine ruhige Kugel schieben können, und das bei doppelten Bezügen.«
»Da steckt nichts dahinter«, sagte Erlendur.
»Dem Kerl ist rausgerutscht, dass dieses Skelett an einen russischen Abhörsender angebunden war.«
»Ja, wir glauben, dass es russisch ist, und wir glauben, dass es ein Sendegerät war.«
»Gibst du mir eine Zigarette?«
»Nein.«
»Ich habe nicht mehr lange zu leben. Glaubst du, dass es jetzt noch eine Rolle spielt?«
»Von mir kriegst du keine Zigarette. Hast du deswegen bei mir angerufen? Damit ich dir den letzten Rest geben soll? Warum bittest du mich nicht einfach, dir eine Kugel durch den Kopf zu jagen?«
»Würdest du das für mich tun?«
Erlendur musste lächeln, und auch Marian Briem schien sich für einen Augenblick zu amüsieren. »Das mit der Embolie ist viel schlimmer. Ich spreche wie jemand, der einen an der Waffel hat, und es fällt mir schwer, meine Bewegungen zu koordinieren.«
»Was soll dieses Gerede über die Kommunisten?«, fragte Erlendur.
»Es passierte, ein paar Jahre bevor du bei uns angefangen hast. Wann war das noch?«
»1977«, sagte Erlendur.
»Du hast mir damals erklärt, du würdest dich für solche Vermisstenfälle interessieren, daran erinnere ich mich«, sagte Marian Briem mit schmerzverzerrtem Gesicht. Marian legte die Sauerstoffmaske wieder an und schloss die Augen. Es verging geraume Zeit. Erlendur blickte sich um. Er fand, dass diese Wohnung auf unangenehme Weise an seine eigene erinnerte.
»Soll ich Hilfe holen?«, fragte er. »Einen Arzt?«
»Nein, bloß nicht«, sagte Marian und nahm die Maske herunter. »Du kannst mir gleich helfen, Kaffee für uns aufzusetzen. Ich muss mich aber erst wieder etwas berappeln. Du müsstest dich eigentlich daran erinnern, wie wir die Apparate damals gefunden haben.«
»Was für Apparate?«
»Im Kleifarvatn. Haben denn heutzutage wirklich alle ein so kurzes Gedächtnis?«
Marian blickte ihn an und begann, mit schwacher Stimme von den Apparaten im Kleifarvatn zu erzählen, und plötzlich wusste Erlendur wieder, um was es ging. Er konnte sich allerdings nur dunkel an die Geschichte erinnern und hatte diese Ereignisse überhaupt nicht mit dem Skelett im See in Verbindung gebracht, obwohl er eigentlich sofort hätte schalten müssen.
»Am 10. September 1973 klingelte bei der Polizei in Hafnarfjörður das Telefon. Zwei Froschmänner aus Reykjavik — so hat man früher die Taucher genannt«, sagte Marian Briem und grinste trotz der Schmerzen, »fanden bei einem Trainingstauchen im Kleifarvatn ganz durch Zufall eine Menge Apparate im See, die in zehn Meter Tiefe lagen. Es stellte sich heraus, dass die meisten russischer Herkunft waren, obwohl man versucht hatte, die russische Schrift abzuschleifen. Techniker vom Telefonamt wurden hinzugezogen, um die Apparate zu untersuchen, und kamen zu dem Ergebnis, dass es russische Funk- und Abhörgeräte waren. Es waren sehr viele Apparate«, sagte Marian Briem. »Aufnahmegeräte, Radioapparate, Abhörsender.«
»Hast du damals den Fall bearbeitet?«
»Ich war am See, als die Apparate aus dem Wasser gezogen wurden, aber ich war nicht mit der Leitung der Ermittlung beauftragt. Die Sache hat damals ungeheures Aufsehen erregt. Der Kalte Krieg war in vollem Gange, und die russische Spionagetätigkeit hierzulande war eine Tatsache. Die Amerikaner haben selbstredend auch spioniert, aber sie waren die befreundete Nation. Der Russe war der Feind.«
»Sendegeräte?«
»Ja. Und Abhöranlagen. Es stellte sich heraus, dass einige von ihnen auf die Frequenz der amerikanischen Basis eingestellt waren.«
»Du willst also das Skelett mit diesen Apparaten in Verbindung bringen?«
»Was glaubst du wohl?«, sagte Marian Briem und schloss die Augen.
»Das klingt nicht unwahrscheinlich.«
»Behalte es im Hinterkopf«, sagte Marian Briem, und das Gesicht verzerrte sich vor Erschöpfung.
»Kann ich irgendwas für dich tun?«, fragte Erlendur. »Kann ich dir vielleicht etwas besorgen?«
»Ich leih mir manchmal Western aus«, erklärte Marian nach längerem Schweigen und saß immer noch mit geschlossenen Augen da.
Erlendur war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte.
»Western?«, fragte er. »Meinst du Cowboyfilme?«
»Kannst du mir einen richtig guten Western besorgen?«
»Was ist ein guter Western?«
»John Wayne«, sagte Marian, und seine Stimme wurde noch schwächer.
Erlendur blieb noch eine Weile sitzen, falls Marian wieder aufwachen würde. Es war später Vormittag. Er ging in die Küche, kochte Kaffee und füllte zwei Tassen damit. Er erinnerte sich, dass Marian den Kaffee schwarz und ohne Zucker trank, genau wie er selber. Er stellte die Tasse neben den Sessel, in dem Marian saß. Er wusste nicht, was er sonst tun konnte.
Western!, dachte er bei sich, als er das Haus verließ.
Nicht zu fassen, sagte er zu sich selbst, als er losfuhr.
Am späten Nachmittag setzte sich Sigurður Óli zu Erlendur ins Büro. Der Mann hatte wieder mitten in der Nacht angerufen und gesagt, er würde Selbstmord begehen. Sigurður Óli hatte einen Streifenwagen zu seinem Haus geschickt, die Polizisten fanden aber niemanden vor. Der Mann lebte allein in einem kleinen Einfamilienhaus. Die Polizei verschaffte sich Zutritt, aber das Haus war leer.
»Und dann hat er heute Morgen schon wieder angerufen«, sagte Sigurður Óli, nachdem er die Geschichte erzählt hatte. »Da war er wieder zu Hause. Passiert ist gar nichts.
Dieser Mann geht mir langsam, aber sicher auf den Geist.«
»Ist das der, der seine Frau und sein Kind verloren hat?«
»Ja. Aus unerfindlichen Gründen gibt er sich selber die Schuld daran und verschließt sich völlig vernünftigen Argumenten.«
»Es war doch purer Zufall, oder?«
»Nein, in seinen Augen nicht.«
Sigurður Óli hatte eine Zeit lang in der Sektion für Unfallanalyse gearbeitet. Ein großer Jeep war an einer Kreuzung in Breiðholt einem kleinen Pkw in die Seite gefahren, mit der Folge, dass eine Mutter und ihre fünfjährige Tochter den Tod fanden. Der Fahrer des Jeeps stand unter Alkohol und war bei Rot über die Ampel gefahren. Das Auto, in dem sich Mutter und Tochter befanden, war das letzte in einer langen Reihe, das die Kreuzung überquerte. Genau in dem Augenblick überfuhr der Jeep in rasantem Tempo die rote Ampel. Wenn die Mutter abgewartet hätte und erst bei der nächsten Grünphase losgefahren wäre, hätte der Jeep keinen Schaden anrichten können, sondern einfach die Kreuzung überquert und wäre weitergerast. Wahrscheinlich hätte der betrunkene Fahrer dann irgendwo anders einen Unfall verursacht, aber auf jeden Fall nicht an dieser Kreuzung.
»Aber so passieren doch die meisten Unfälle«, sagte Sigurður Óli zu Erlendur. »Gemeine Zufälle. Und das begreift er nicht, dieser Mann.«
»Sein Gewissen peinigt ihn«, sagte Erlendur. »Versuch doch, ihm mehr Verständnis entgegenzubringen.«
»Verständnis?! Er ruft mitten in der Nacht bei mir zu Hause an. Kann man mehr Verständnis zeigen, als das über sich ergehen zu lassen?«
Die Frau war im Einkaufszentrum Smáralind gewesen. Sie hatte schon an der Kasse im Supermarkt gestanden, als er sie auf ihrem Handy anrief und sie bat, noch eine Schachtel Erdbeeren mitzubringen. Das machte sie, aber dadurch vergingen einige weitere Minuten, bis sie losfuhr. Der Mann war überzeugt, dass sie nicht in dem entscheidenden Augenblick an der Kreuzung gewesen wäre, wenn er sie nicht angerufen hätte, und folglich wäre der Jeep dann nicht in ihr Auto gerast. Deswegen gab er sich selbst die Schuld an dem, was passiert war. Der Unfall war deswegen passiert, weil er angerufen hatte.
Am Unfallort sah es grauenvoll aus. Das Auto der Frau war völlig zusammengedrückt worden. Der Jeep war nach dem Zusammenprall von der Straße abgekommen und hatte sich überschlagen. Der Fahrer des Jeeps hatte Kopfverletzungen und diverse Knochenbrüche davongetragen. Er war bewusstlos, als man ihn im Krankenwagen abtransportierte. Mutter und Tochter waren auf der Stelle tot gewesen. Sie mussten mit Schneidbrennern aus dem Wrack herausgeholt werden. Blut strömte über die Straße.
Wie in solchen Fällen üblich, machte sich Sigurður Óli zusammen mit einem Pfarrer auf den Weg, um die Nachricht zu überbringen. Das Auto war auf den Namen des Mannes registriert gewesen. Er hatte angefangen, sich Sorgen zu machen, weil seine Frau und die Tochter so lange ausblieben, und er schrak zusammen, als Sigurður Óli und der Pastor vor seiner Tür standen. Als sie ihm mitgeteilt hatten, was passiert war, erlitt er einen Nervenzusammenbruch.
Ein Arzt musste geholt werden. Seitdem rief der Mann in regelmäßigen Abständen bei Sigurður Óli an, der völlig gegen seinen Willen zu so etwas wie einem Vertrauten für ihn geworden war.
»Ich will so ein Heckmeck nicht«, stöhnte Sigurður Óli, »aber er lässt nicht locker, sondern ruft mitten in der Nacht an und lässt sich darüber aus, dass er sich umbringen will! Warum hat er sich nicht an diesen Pfaffen gehängt?«
»Heckmeck?«, fragte Erlendur.
»Ich will ihn nicht darin bestätigen, was er sagt und tut«, sagte Sigurður Óli. »Verstehst du kein Isländisch?«
»Sag ihm, er soll sich an einen Psychiater wenden.«
»Er ist in Behandlung bei einem.«
»Man kann sich natürlich nicht wirklich in seine Situation versetzen«, sagte Erlendur. »Aber er muss sich einfach entsetzlich fühlen.«
»Ja«, sagte Sigurður Óli.
»Und er spielt mit Selbstmordgedanken?«
»Davon redet er immer. Er ist bestimmt imstande, etwas Verrücktes zu tun. Ich habe bloß keine Lust, da mit drinzuhängen. Ich hab einfach keine Lust!«
»Was sagt Bergþóra dazu?«
»Sie glaubt, dass ich ihm irgendwie helfen könnte.«
»Erdbeeren?«
»Ich weiß. Das sag ich ihm doch die ganze Zeit. Das ist völlig absurd.«