Achtzehn

Valgerður begleitete Erlendur nicht zu der Grillparty bei Sigurður Óli, und niemand erwähnte ihren Namen. Elinborg hatte köstliche Lammfilets in einer speziellen Kräutermarinade mit geriebener Zitronenschale vorbereitet.

Als Vorspeise gab es einen Krabbencocktail, den Bergþóra beigesteuert hatte und der von Elínborg sehr gelobt wurde.

Zum Nachtisch gab es wiederum eine Mousse von Elínborg. Erlendur war sich nicht sicher, was darin war, aber es schmeckte vorzüglich. Eigentlich hatte er nicht zu der Party gehen wollen, ließ sich aber breitschlagen, als Sigurður Óli und Bergþóra ihn noch einmal heftig bekniet hatten. Auf jeden Fall war es nicht so schlimm wie auf Elínborgs Kochbuch-Release-Party. Bergþóra freute sich so über sein Kommen, dass sie ihm gestattete, im Wohnzimmer zu rauchen. Sigurður Óli starrte sie völlig entgeistert an, als sie einen Aschenbecher für ihn holte. Erlendur blickte zu ihm hinüber und grinste. Er hatte das Gefühl, ein nettes kleines Trostpflästerchen bekommen zu haben.

Über die Arbeit sprachen sie nur einmal, als Sigurður Óli Überlegungen anstellte, weshalb das russische Gerät demoliert worden war, bevor es mit der Leiche im Wasser versenkt wurde. Erlendur hatte die Informationen aus der Spurensicherungsabteilung an sie weitergegeben. Sie standen zu dritt auf der kleinen Sonnenterrasse. Elínborg war mit den Grillvorbereitungen beschäftigt.

»Was schließen wir daraus?«, fragte sie.

»Ich weiß es nicht«, sagte Erlendur. »Ich habe keine Ahnung, was für eine Rolle es spielt, ob es funktionierte oder nicht. Ich sehe da keinen Unterschied. Abhörgerät ist Abhörgerät. Russen sind Russen.«

»Ja, das mag stimmen«, sagte Sigurður Óli. »Vielleicht war es kaputt, weil es bei Handgreiflichkeiten auf den Boden gefallen und zu Bruch gegangen ist.«

»Denkbar«, sagte Erlendur. Er schaute in die Sonne und wusste eigentlich nicht so recht, was er da auf der Terrasse zu suchen hatte. Er war noch nie bei Sigurður Óli und Bergþóra zu Besuch gewesen, obwohl sie schon lange zusammenarbeiteten. Es überraschte ihn nicht, dass bei den beiden alles tipptopp in Ordnung war. Alles designermäßig eingerichtet — teure Möbel, exquisite Kunstgegenstände und geschmackvolle Teppiche. Nirgends ein Staubkörnchen. Nirgends ein Buch.

Erlendur lebte auf, als sich herausstellte, dass sich Elínborgs Mann Teddi mit der Automarke Ford Falcon auskannte. Der Automechaniker Teddi liebte die Köchin Elínborg und war entsprechend wohlgenährt. Bei ihm ging die Liebe durch den Magen, und so ging es den meisten Menschen, die mit Elínborg in Berührung kamen. Teddis Vater hatte einmal einen Falcon besessen und war begeistert gewesen. Er sagte Erlendur, dass das Auto hervorragende Fahreigenschaften gehabt hätte, vorne hatte es eine durchgehende Bank und keine Schalensitze gegeben, ein Automatik-Wagen mit elfenbeinfarbenem Steuerrad. Ein Pkw, der im Vergleich zu anderen amerikanischen Autos aus den sechziger Jahren relativ klein gewesen war.

»Aber er eignete sich nicht besonders für die isländischen Straßen, so wie sie früher waren«, erklärte Teddi und schnorrte eine Zigarette von Erlendur. »Er war nicht stabil genug gebaut. Einmal sind wir echt in Schwierigkeiten geraten, als wir einen Ausflug aufs Land gemacht haben. Wir hatten einen Achsenbruch. Mein Vater musste das Auto mit einem Lastwagen in die Stadt transportieren lassen.

Viel Power hatten die nicht, diese Autos, aber es war ein richtig netter Wagen für eine kleine Familie.«

»Hatte er irgendwelche besonderen Radkappen?«, fragte Erlendur und gab Teddi Feuer.

»Die Radkappen bei den amerikanischen Autos waren meist ziemlich was fürs Auge, und das war auch beim Falcon der Fall. Aber ansonsten eigentlich nichts Besonderes. Beim Chevrolet allerdings …«

Für kleine Familien, dachte Erlendur und hörte gar nicht mehr hin, was Teddi sagte. Der Handelsreisende, der spurlos verschwand, hatte ein nettes Auto für die kleine Familie gekauft, die er mit der jungen Frau aus dem Milchladen gründen wollte. Das war für die Zukunftsperspektive. Als er verschwand, fehlte eine Radkappe an seinem Auto. Erlendur hatte mit Elínborg und Sigurður Óli darüber geredet, wie sich Radkappen von der Felge lösten. Vielleicht hatte er eine zu enge Kurve genommen und war an eine Bordsteinkante gekommen. Oder vielleicht war die Radkappe einfach vor dem Busbahnhof geklaut worden.

»… aber dann kam die Ölkrise in den siebziger Jahren, und deswegen mussten sparsamere Motoren entwickelt werden.« Teddi redete unbeirrt weiter und trank einen Schluck Bier.

Erlendur nickte abwesend und drückte die Zigarette aus. Er sah, wie Sigurður Óli die Fenster und die Tür zur Terrasse aufriss, um zu lüften. Erlendur versuchte, das Rauchen einzuschränken, aber rauchte doch immer mehr, als er sich vornahm. Er überlegte, ob er nicht einfach aufhören sollte, sich Gedanken wegen der Zigaretten zu machen. Bislang hatte es jedenfalls nichts gebracht. Er dachte an Eva Lind, die noch nichts von sich hatte hören lassen, seit sie aus der Therapie entlassen worden war. Sie machte sich keine Gedanken über ihre Gesundheit. Er betrachtete die Terrasse von Bergþóras und Sigurður Ólis kleinem Reihenhaus. Elínborg war immer noch am Grill beschäftigt, und er glaubte zu sehen, dass sie vor sich hinsummte. Als sein Blick in die Küche wanderte, sah er, wie Sigurður Óli im Vorbeigehen Bergþóra einen Kuss auf den Nacken drückte.

Neben ihm schlürfte Teddi sein Bier. Vielleicht war das hier das Lebensglück. Vielleicht war alles ganz einfach, wenn die Sonne an einem schönen Sommertag schien.


Statt abends zu sich nach Hause zu fahren, nahm er Kurs aus der Stadt heraus, am neuen Viertel Grafarholt vorbei in Richtung Mosfellsbær. Er bog in eine Seitenstraße ein, die zu einem ansehnlichen Bauernhof führte, von da aus nahm er einen schmalen Feldweg zum Meer hinunter, bis er sich auf dem ehemaligen Land von Haraldur und dessen Bruder befand. Von Haraldur, der sich Mühe gab, so unleidlich wie nur möglich zu sein, hatte er nur begrenzte Informationen erhalten. Er war nicht auf die Frage eingegangen, ob die alten Hofgebäude noch stünden, und behauptete, nichts darüber zu wissen. Er hatte erklärt, dass sein Bruder Jóhann einen Herzschlag erlitten hatte und eines plötzlichen Todes gestorben war. »Nicht alle haben so viel Glück wie Jói«, hatte er hinzugefügt.

Die Hofgebäude waren noch vorhanden. Auf dem ehemaligen Land der beiden Brüder befanden sich einige Sommerhäuser. Nach der Höhe der Bäume zu schließen, von denen sie umgeben waren, standen sie schon länger dort.

Es gab aber auch einige neuere. Etwas weiter entfernt sah Erlendur einen Golfplatz. Obwohl der Abend schon vorgerückt war, schlugen immer noch ein paar Gestalten nach den Bällen.

Die Hofgebäude, ein kleines Wohnhaus und etwas weiter unterhalb die Stallungen, waren völlig verfallen. Das Haus war von außen mit Wellblech verkleidet. Das Blech war irgendwann einmal gelb angestrichen worden, aber die Farbe war inzwischen fast völlig abgeblättert. Einige der rostigen Platten saßen noch fest, aber teilweise hatten sie vor Wind und Wetter kapituliert und waren abgefallen.

Die Dachplatten waren wahrscheinlich vom Sturm aufs Meer hinausgetragen worden. Sämtliche Fensterscheiben waren zerbrochen, und die Haustür war nicht mehr vorhanden. Nicht weit entfernt befanden sich die Relikte eines kleinen Geräteschuppens, der an den Kuhstall und die Scheune angebaut war.

Er blieb vor dem verlassenen Hof stehen. Die Szenerie erinnerte ihn an den Hof seiner Jugend.

Er betrat das Haus und kam zunächst in eine Diele und einen engen Korridor. Rechter Hand waren Küche und Waschküche und linker Hand eine Vorratskammer. In der Küche stand noch ein vorsintflutlicher Rafha-Herd mit drei Platten und einem kleinen, völlig verrosteten Backofen. Der schmale Flur führte zu zwei kleineren Räumen und dem ehemaligen Wohnzimmer. Die Dielen knarrten laut in der Abendstille. Er wusste überhaupt nicht, wonach er suchte. Er wusste nicht, weshalb er hierher gefahren war.

Er ging zu den Stallungen hinunter, und seine Blicke schweiften an den Boxen im Kuhstall entlang. Die Scheune hatte einen gestampften Lehmboden. Als er um die Ecke bog, konnte er sehen, wo früher der Misthaufen hinter dem Kuhstall gewesen war. Der Geräteschuppen hatte noch eine Tür, aber als er nach ihr griff, ging sie aus den Angeln, fiel auf den Boden und zersplitterte geräuschvoll.

An den Wänden des Schuppens befanden sich kleine Regale mit Fächern für Schrauben und Muttern. Die Nägel an einer Wand gaben zu erkennen, dass hier früher das Werkzeug gehangen hatte, das aber nicht mehr da war. Haraldur hatte bestimmt alles, was noch genutzt werden konnte, mitgenommen, als er den Hof verließ und nach Reykjavik zog. Der Arbeitstisch war zusammengebrochen und stützte sich schräg gegen eine Wand. Ein altes Zuggeschirr für einen Traktor gammelte zuoberst auf einem Schrotthaufen vor sich hin, und in einer Ecke lag die Hinterradfelge eines Traktors.

Erlendur betrat den Schuppen. War der Mann mit dem Falcon hierher gekommen?, überlegte er. Oder hatte er tatsächlich einen der Linienbusse in einen anderen Landesteil genommen? Falls er hierher gekommen war, was hatte er im Sinn gehabt? Er hatte Reykjavik am Nachmittag verlassen. Er wusste, dass nicht viel Zeit war. Sie würde vor dem Milchladen auf ihn warten, und er wollte nicht zu spät kommen. Trotzdem durfte er den Brüdern nicht den Eindruck vermitteln, dass er es eilig hatte, denn sie hatten Interesse daran, ihm einen Traktor abzukaufen. Der Vertragsabschluss war in Sicht. Er wollte aber nicht zu sehr drängeln. Es konnte den Verkauf vermasseln, wenn sie den Eindruck bekamen, dass ihm sehr viel daran gelegen war.

Trotzdem galt es, sich zu beeilen. Der Kauf musste über die Bühne.

Falls er hier gewesen war, wieso hatten die Brüder das nicht zugegeben? Warum erzählten sie eine Lüge? Für sie ging es um nichts. Sie kannten den Mann überhaupt nicht. Und warum fehlte die eine Radkappe? War sie abgefallen? War sie vor dem Busbahnhof gestohlen worden? War sie hier gestohlen worden?

Falls er der Mann aus dem Kleifarvatn war, wie war er dorthin gelangt? Woher kam der Apparat, der bei ihm gefunden worden war? Hatte es irgendetwas zu bedeuten, dass er Traktoren und Landmaschinen aus den Ostblockländern verkaufte? Gab es da eine Verbindung? Das Handy in Erlendurs Manteltasche klingelte.

»Ja«, sagte er kurz angebunden.

»Lass mich bloß in Ruhe«, sagte eine Stimme, die er nur zu gut kannte.

»Das tu ich ja«, sagte er.

»Mach das bloß. Lass mich von jetzt an in Ruhe. Hör auf, dich in meine Angelegenheiten einzumischen … Ich will …«

Er schaltete ab. Schwieriger war es, die Stimme abzuschalten, die in seinem Kopf widerhallte, gedopt, aggressiv, garstig und abstoßend. Er wusste genau, dass sie wieder in irgendeinem Loch mit jemandem herumgammelte, der vielleicht Eddi hieß und doppelt so alt war wie sie. Er vermied es, so gut er konnte, darüber nachzudenken, wie ihr Leben war. Er hatte so oft versucht, ihr nach Kräften beizustehen. Er wusste nicht, was er überhaupt noch tun konnte. Er stand seiner drogenabhängigen Tochter vollkommen ratlos gegenüber. Es hatte Zeiten gegeben, da hätte er versucht, sie in einem solchen Zustand zu finden, früher wäre er bei so einem Anruf losgestürzt und hätte sie irgendwo aufgespürt. Irgendwann einmal hatte er sich eingeredet, dass sie, wenn sie »lass mich in Ruhe« sagte, in Wirklichkeit »komm doch und hilf mir« meinte. Aber jetzt nicht mehr. Er wollte es nicht mehr. Er hätte ihr am liebsten gesagt: Jetzt ist Schluss. Mach, was du willst.

Letztes Jahr hatte sie sich über Weihnachten bei ihm einquartiert. Nach der Fehlgeburt war sie eine Weile clean gewesen, aber dann wieder rückfällig geworden. Kurz nach Neujahr spürte er, wie rastlos sie wieder war. Sie verschwand immer häufiger für kürzere oder längere Zeit. Er ging ihr nach und brachte sie wieder nach Hause, doch am folgenden Morgen hatte sie sich schon wieder aus dem Staub gemacht. So ging es eine Zeit lang, bis er aufhörte, ihr nachzulaufen, aufhörte, sich vorzumachen, dass das, was er unternahm, eine Rolle spielte. Es war ihr Leben.

Wenn sie es so leben wollte, war das ihre Sache. Er konnte nichts mehr tun. Er hatte mehr als zwei Monate nichts von ihr gehört, als Sigurður Óli von einem Hammer an der Schulter getroffen wurde.

Er stand auf dem Hofplatz und betrachtete die Ruinen eines Lebens, das einmal gewesen war. Er dachte an den Mann mit dem Ford Falcon. An die Frau, die immer noch auf den Mann wartete. An seine eigene Tochter und seinen Sohn. Er blickte in die Abendsonne und dachte an seinen Bruder, der umgekommen war. An was hatte er in dem tobenden Schneesturm gedacht? Wie kalt es war?

Wie schön es wäre, wieder nach Hause in die Wärme zu kommen?


Am nächsten Morgen fuhr Erlendur wieder zu der Frau, die den Mann mit dem Falcon vermisste. Da es Samstag war, ging er davon aus, dass sie nicht zu arbeiten brauchte.

Er meldete sich telefonisch an, und als er eintraf, hatte sie Kaffee für ihn gekocht, obwohl er ihr ausdrücklich gesagt hatte, sie solle sich seinetwegen keine Umstände machen.

Wie beim ersten Mal setzten sie sich ins Wohnzimmer. Sie hieß Ásta.

»Ihr arbeitet natürlich auch am Wochenende«, sagte sie. Sie selber hatte einen Job in der Küche des Krankenhauses in Fossvogur.

»Ja, es gibt oft viel zu tun«, erwiderte er ausweichend. Er hätte sich durchaus an diesem Wochenende freinehmen können. Aber dieser Fall hatte ihn gepackt, und ohne zu wissen, warum, verspürte er einen seltsamen Drang, ihm auf den Grund zu gehen. Vielleicht war es wegen der Frau, die ihm gegenübersaß und sich wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang in unterbezahlten Jobs abgerackert hatte und immer noch allein lebte. Ihr müder Gesichtsausdruck zeugte davon, dass das Leben an ihr vorbeigegangen war, ohne angeklopft zu haben. Es hatte ganz den Anschein, als glaubte sie immer noch daran, dass der Mann, den sie einmal geliebt hatte, wieder zu ihr zurückkehren würde, sie wie früher küssen und ihr von der Arbeit erzählen und sie fragen würde, wie ihr Tag verlaufen war.

»Als wir neulich mit dir gesprochen haben, hast du erklärt, dass du nicht daran glaubst, dass eine andere Frau im Spiel gewesen ist«, tastete er sich vorsichtig vor. Er hatte mit sich gerungen, ob dieser Besuch richtig war. Er wollte nicht die Erinnerungen zerstören, die sie an diesen Mann hatte, er wollte nichts von dem zerstören, was ihr noch geblieben war. Er hatte zu oft gesehen, wie so etwas geschah. Wenn sie zu Hause bei einem Straftäter erschienen und die Ehefrau sie anstarrte und ihren Augen nicht zu trauen vermochte. Kinder scharten sich um sie herum. Das ganze Kartenhaus brach zusammen. »Mein Mann? Ein Dealer? Ihr seid wohl nicht ganz dicht!«

»Warum fragst du danach?«, entgegnete die Frau in dem Sessel. »Wisst ihr vielleicht mehr als ich? Habt ihr etwas herausgefunden? Habt ihr etwas Neues herausgefunden?«

»Nein, nichts«, sagte Erlendur, und sein Gesicht verzerrte sich leicht, als er hörte, wie gespannt sie war. Er berichtete ihr von seinem Besuch bei Haraldur und dass er den Falcon gefunden hatte, der immer noch existierte, in einer Garage in Kópavogur. Er sagte ihr auch, dass er den verlassenen Hof in Mosfellssveit besucht hatte. Trotzdem sei das Verschwinden ihres Mannes genauso rätselhaft wie zuvor.

»Du hast gesagt, du hättest kein Foto von ihm oder von euch beiden gehabt«, sagte er.

»Nein, das stimmt«, erklärte Ásta. »Wir haben uns nicht so lange gekannt.«

»Es ist also nie ein Bild von ihm in den Zeitungen oder im Fernsehen erschienen, als nach ihm gefahndet wurde?«

»Nein, aber die Beschreibung war recht genau. Damals wollten sie zunächst das Passfoto aus dem Führerschein nehmen, von dem angeblich immer ein Abzug bei der Polizei aufbewahrt wird, aber das haben sie nie gefunden. Als hätte er es nie eingereicht. Aber vielleicht haben sie es ja auch einfach nur verschlampt.«

»Hast du jemals seinen Führerschein gesehen?«

»Seinen Führerschein? Nein, nicht dass ich wüsste. Aber wieso fragst du auf einmal nach einer anderen Frau?«

In ihrer Stimme schwang jetzt ein härterer, unnachgiebigerer Ton mit. Erlendur zögerte einen Augenblick, bevor er die Tür zu etwas öffnete, was die reinste Hölle für sie sein musste. Vielleicht war es zu früh. Es gab einiges, was noch näher in Augenschein genommen werden musste. Vielleicht wäre es besser gewesen, noch etwas zu warten.

»Es gibt Männer, die ihre Frauen verlassen und sich aus dem Staub machen, um ein neues Leben zu beginnen«, sagte er dann.

»Ein neues Leben?« Ásta klang so, als hätte sie noch nie von so etwas gehört.

»Ja«, sagte er. »Vielleicht sogar hier auf Island. Alle glauben, dass hier jeder jeden kennt, aber das ist weit gefehlt. Es gibt viele kleine Dörfer, wo höchstens im Sommer eine Hand voll Leute hinkommt, und vielleicht noch nicht einmal das. Damals waren all diese Orte weitaus isolierter als heute und einige sogar regelrecht von der Außenwelt abgeschlossen. Die Verkehrsverbindungen waren schlecht. Es gab keine Straße, die rings um die Insel führte.«

»Ich verstehe dich nicht«, sagte sie. »Worauf willst du hinaus?«

»Ich möchte nur wissen, ob du diese Möglichkeit jemals in Erwägung gezogen hast.«

»Was für eine Möglichkeit?«

»Dass er einen Bus bestiegen hat und zu sich nach Hause gefahren ist.«

Er sah ihr an, dass sie etwas zu begreifen versuchte, das unbegreiflich für sie war.

»Wovon redest du eigentlich?«, stöhnte sie. »Nach Hause? Wohin nach Hause? Was meinst du denn?«

Erlendur merkte, dass er zu weit gegangen war, dass trotz der vielen Jahre, die vergangen waren, seitdem der Mann aus ihrem Leben verschwunden war, das Ganze noch eine offene Wunde war, frisch und nicht verheilt. Er hätte noch etwas warten müssen, bevor er zu ihr ging, mit etwas mehr als seinen eigenen Spekulationen und einem verlassenen Auto vor dem Busbahnhof in der Hand. »Es ist nur eine Vermutung«, sagte er rasch, um seine Worte abzumildern. »Island ist bestimmt viel zu klein, und hier leben viel zu wenig Menschen«, erklärte er hastig. »Es ist nur so eine Idee, und zwar eine völlig unbegründete.« Erlendur hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, was geschehen sein konnte, falls der Mann nicht Selbstmord begangen hatte. Nachdem sich der Gedanke in ihm festgesetzt hatte, dass eine andere Frau im Spiel sein konnte, wälzte er sich manchmal schlaflos im Bett. Zunächst schien diese Theorie ganz plausibel zu sein; auf seinen Reisen im Land lernte der Handelsreisende die unterschiedlichsten Menschen aus allen Schichten kennen, Bauern, Hotelangestellte, die Bewohner der kleinen Handelsorte und Fischerdörfer, Frauen. Möglicherweise hatte sich auf einer dieser Reisen eine Liebesbeziehung zu einer Frau angebahnt, die er mit der Zeit der Frau in Reykjavik vorzog, aber er besaß nicht die Charakterstärke, ihr das zu sagen. Je länger Erlendur darüber nachdachte, desto mehr neigte er zu der Ansicht, dass der Mann einen zusätzlichen, wichtigen Grund für sein Verschwinden gehabt haben musste, falls es mit einer anderen Frau zusammenhing. Ihm fiel ein, was ihm vor dem verlassenen Bauernhof, der ihn an den Ort seiner Jugend in Ostisland erinnerte, in den Sinn gekommen war. Nach Hause.

Sie hatten im Dezernat darüber gesprochen. Was, wenn man das Ganze andersherum aufzog? Was wäre, wenn die Frau, die ihm gegenübersaß, nur Leopolds Verhältnis in der Stadt gewesen war und er eine Familie irgendwo auf dem Lande besaß? Was, wenn er einfach der prekären Lage, in die er sich hineingeritten hatte, ein Ende machen wollte, indem er sich dazu entschloss, wieder nach Hause zurückzukehren?

Er ging kurz auf diese Theorie ein und beobachtete, wie sich die Miene der Frau verdüsterte. »Er hat in keiner prekären Lage gesteckt«, sagte sie. »Das ist Unsinn. Wie kommst du nur auf so eine Idee? So über ihn zu reden.«

»Sein Name ist ziemlich selten«, sagte Erlendur. »Nur ganz wenige Männer in Island heißen Leopold. Du hattest noch nicht einmal seine Personenkennziffer oder, wie das früher hieß, seine Identifikationsnummer, und du hattest nur ganz wenige persönliche Gegenstände von ihm.« Erlendur verstummte. Níels hatte ihm gesagt, dass Verschiedenes darauf hindeutete, dass Leopold nicht seinen richtigen Namen verwendet hatte. Dass er die Frau getäuscht und vorgegeben hatte, ein anderer zu sein, als er war. Níels hatte aber Ásta nichts von diesem Verdacht erzählt, weil er Mitleid mit ihr hatte. Erlendur begriff jetzt, was er gemeint hatte.

»Vielleicht hat er nicht seinen richtigen Namen verwendet«, sagte er. »Hast du das jemals in Erwägung gezogen? Er war nirgendwo unter diesem Namen registriert. Man konnte keinerlei Unterlagen finden.«

»Ich wurde von der Polizei angerufen«, sagte die Frau ungehalten. »Später, viel später. Briem war, glaube ich, der Name, oder so etwas. Da habe ich von eurer Theorie gehört, dass Leopold vielleicht ein anderer war, als er vorgab, zu sein. Mir wurde nur gesagt, dass es sich ein wenig hinausgezögert hätte, mich darüber zu informieren. Ich weiß von dieser eurer Theorie, aber sie ist absurd. Leopold hätte niemals ein falsches Spiel gespielt. Niemals!« Erlendur schwieg.

»Du versuchst mir zu sagen, dass die Möglichkeit besteht, dass er eine Familie gehabt hat und zu ihr zurückgekehrt ist. Dass ich für ihn nur eine Liebschaft in der Stadt war? Was soll denn dieser Quatsch?«

»Was weißt du über diesen Mann?«, fragte Erlendur. »Was weißt du tatsächlich über diesen Mann? Ist es wirklich so viel?«

»Bitte rede nicht so«, entgegnete die Frau. »Ich bitte dich inständig, mir nicht einen solchen Blödsinn aufzutischen.

Behalte bitte deine Meinungen für dich, ich bin nicht daran interessiert, sie zu hören.« Ásta verstummte und starrte ihn an.

»Ich … ich bin nicht …«, begann Erlendur, aber sie unterbrach ihn.

»Meinst du damit, dass er noch am Leben ist? Willst du mir das zu verstehen geben? Dass er noch am Leben ist und irgendwo auf dem Land wohnt?«

»Nein«, sagte Erlendur, »nein, das will ich nicht zu verstehen geben. Ich hätte nur gern diese Möglichkeit mit dir besprochen. Alles, was ich gesagt habe, ist reine Mutmaßung.

Nichts davon muss zutreffen, und nichts davon trifft wohl auch zu. Ich wollte bloß wissen, ob du dich an irgendetwas in seinem Benehmen erinnerst, was Anlass zu der Vermutung geben könnte, dass es sich so verhalten hat. Das ist das Einzige. Ich will überhaupt nichts zu verstehen geben, was ich auch nicht kann, weil ich nichts weiß.«

»Es ist völliger Unsinn, zu glauben, dass er nur mit mir gespielt hätte. Dass ich mir so etwas anhören muss!« Während Erlendur versuchte, sie zu beschwichtigen, beschlich ihn ein seltsamer Gedanke. Von nun an, nach dem, was er gesagt hatte und was nicht mehr rückgängig zu machen war, wäre es wahrscheinlich ein größerer Trost für die Frau, zu erfahren, dass er tot war, als wenn er lebend gefunden wurde. Das würde ihr unendliches Leid zufügen.

Er sah sie an und hatte den Eindruck, als würde sie etwas Ähnliches denken.

»Leopold ist tot«, sagte sie. »Es hat keinen Sinn, etwas anderes zu behaupten oder mir weismachen zu wollen. Für mich ist er gestorben. Und zwar vor vielen Jahren. Vor einem ganzen Menschenleben.« Sie schwiegen.

»Aber was weißt du tatsächlich über diesen Mann?«, wiederholte Erlendur nach einer Weile.

Ihre Blicke gaben ihm zu verstehen, dass sie ihm am liebsten gesagt hätte, er solle damit aufhören und gehen.

»Meinst du im Ernst, dass er in Wirklichkeit anders hieß und sich diesen Namen nur zugelegt hat?«, fragte sie.

»Nichts von dem, was ich sage, muss so gewesen sein«, betonte Erlendur. »Leider ist es am wahrscheinlichsten, dass er sich aus irgendwelchen Gründen umgebracht hat.«

»Was weiß man schon über die Menschen?«, sagte sie auf einmal. »Er war verschlossen und sprach fast nie über sich selbst. Andere Männer sind sehr von sich selber eingenommen, ich weiß nicht, ob das besser ist. Er hat mir wunderschöne Dinge gesagt, die mir nie zuvor jemand gesagt hat.

Ich bin nicht in einer Familie aufgewachsen, wo man sich nette Dinge sagte.«

»Du hast danach nicht noch einmal den Versuch gemacht, einen anderen Mann zu finden. Zu heiraten. Eine Familie zu haben.«

»Ich war schon über dreißig, als wir uns kennen lernten. Ich war damals davon ausgegangen, dass ich eine alte Jungfer werden würde. Dass es zu spät für mich sei. Das hatte ich zwar nicht so geplant, aber irgendwie ist es einfach so gelaufen. Dann kommt man in ein gewisses Alter und hat nichts außer sich selbst und einer leeren Wohnung. Deswegen war er … er hat das geändert. Auch wenn er verschlossen war und häufig nicht daheim, er war trotzdem mein Mann.« Sie blickte Erlendur an.

»Wir waren zusammen, und nachdem er verschwunden war, wartete ich einige Jahre, und wahrscheinlich warte ich immer noch. Wann hört man damit auf? Gibt es da eine Regel?«

»Nein«, sagte Erlendur. »Es gibt keine Regel.«

»Der Meinung war ich auch«, sagte sie, und er empfand tiefes Mitleid mit ihr, als er sah, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen.

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