Dreizehn

Das Ehepaar kam den Bürgersteig entlangspaziert, der Mann ein wenig voraus und die Frau ein paar Schritte hinter ihm. Es war ein schöner Frühlingsabend. Sonnenstrahlen glitzerten auf der Meeresoberfläche, und in der Ferne gingen Regenschauer nieder. Es hatte diesmal jedoch nicht den Anschein, als ob das Paar den schönen Abend genießen würde. Sie schritten weit aus, und dem Mann schien etwas auf dem Herzen zu liegen, denn er redete ununterbrochen.

Die Frau ging schweigend hinter ihm her und versuchte, mit ihm Schritt zu halten.

Er beobachtete die beiden, während sie vor seinem Fenster vorbeigingen, schaute in die Abendsonne hinaus und dachte an die Zeiten zurück, als er jung war und seine einfache Welt im Begriff war, so unendlich kompliziert zu werden, dass er die Kontrolle darüber verlieren sollte. Als die Katastrophe ihren Lauf nahm.


Sein erstes Studienjahr an der Universität beendete er mit glänzenden Noten und fuhr in den Semesterferien nach Hause. Er arbeitete den Sommer über für das Parteiorgan und schrieb Artikel über den Wiederaufbau in Leipzig.

Auf Versammlungen sprach er über seinen Studienaufenthalt und ging auf die historisch gewachsenen und traditionellen Verbindungen zwischen Island und Leipzig ein. Er unterhielt sich mit einflussreichen Parteimitgliedern. Man hatte Großes mit ihm im Sinn. Er freute sich schon darauf, wieder nach Leipzig zu fahren. Er glaubte fest daran, dass ihm eine Aufgabe zugedacht war, vielleicht eine größere als den anderen. Es hieß, dass er eine große Zukunft vor sich habe.

Im Herbst fuhr er wieder mit dem Schiff nach Deutschland.

Sein zweites Weihnachtsfest im Wohnheim näherte sich.

Die Isländer freuten sich, weil einige von ihnen Pakete von zu Hause geschickt bekommen hatten, sie enthielten traditionelles isländisches Weihnachtsessen wie geräuchertes Lammfleisch, außerdem Salzfisch und Trockenfisch und Süßigkeiten, in manchen Fällen sogar Bücher. Karls Paket war bereits eingetroffen, und der Geruch von geräuchertem Lammfleisch durchzog das ganze Haus, als er eine überdimensional große Keule aus Nordisland zubereitete, wo sein Onkel einen Bauernhof hatte. In dem Paket befand sich auch eine Flasche mit isländischem Brennivín, die Emíl sicherstellte.

Außer Rut konnte es sich niemand leisten, zu Weihnachten nach Hause zu fahren. Sie war auch die Einzige von ihnen, die wirklich an Heimweh litt, nachdem sie aus den Semesterferien zurückgekehrt war. Als sie jetzt zu Weihnachten wieder nach Island fuhr, wurde gemunkelt, dass sie womöglich nicht mehr zurückkommen würde. In der alten Villa war es stiller geworden, denn die deutschen Studenten waren fast alle nach Hause gefahren und auch einige aus den Nachbarländern, die billig mit dem Zug reisen konnten.

Deswegen war die Gruppe, die sich in der Küche um die geräucherte Lammkeule scharte, nicht sehr groß. Emíl hatte die Flasche Brennivín mitten auf den Tisch gestellt, auf den Ehrenplatz, wie er sich ausdrückte. Zwei Schweden im Wohnheim hatten Kartoffeln beigesteuert, andere den Rotkohl, und Karl war es gelungen, eine ziemlich gute Mehlschwitze zum Fleisch und zu den Kartoffeln zu fabrizieren. Als Lothar Weiser, der Betreuer, der sich besonders mit den Isländern angefreundet hatte, die Nase zur Tür hereinsteckte, wurde er zum Festessen eingeladen. Sie mochten Lothar gern, er war gesprächig und konnte sehr amüsant sein. Er schien sich sehr für Politik zu interessieren und versuchte manchmal, aus ihnen herauszulocken, was sie über die Universität, über Leipzig, über die Deutsche Demokratische Republik, über Walter Ulbricht, den Ersten Sekretär des Zentralkomitees, und die Planwirtschaft dachten. Er wollte wissen, ob sie der Meinung waren, dass Ulbricht zu sowjetfreundlich sei, und er fragte sie nach ihrer Meinung zu den Ereignissen in Ungarn, wo amerikanische Kapitalisten mit Hilfe von Rundfunksendern antikommunistische Propaganda verbreiteten und auf diese Weise versuchten, einen Keil in die Freundschaft zwischen Ungarn und der Sowjetunion zu treiben. Seiner Meinung nach gingen vor allem junge Menschen dieser Propaganda auf den Leim und waren mit Blindheit geschlagen, was die tatsächlichen Absichten des kapitalistischen Westens betraf.

»Mensch, können wir nicht einfach feiern?«, schlug Karl vor, als Lothar anfing, über Ulbricht zu sprechen, und kippte sich einen Schnaps hinunter. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse und erklärte unter Stöhnen, dass Brennivín ihm noch nie geschmeckt habe.

»Ja, ja, natürlich«, sagte Lothar lachend. »Jetzt reicht’s mit der Politik.«

Er sprach Isländisch und behauptete, es in Deutschland gelernt zu haben. Sie waren der Ansicht, er müsse ein Sprachgenie sein, denn er sprach Isländisch so gut wie fehlerfrei, und man konnte ihn fast für einen Isländer halten, obwohl er noch nie in Island gewesen war. Sie fragten ihn, wie er es geschafft hatte, sich die Sprache so anzueignen, und er sagte, er hätte sehr viele Tonbandaufnahmen von isländischen Radiosendungen gehört. Besonders lustig fanden sie es, wenn er das Wiegenlied Bí, bí og blaka sang.

Úrkoma í grennd, stellenweise Niederschlag, zitierte er aus den Wetternachrichten im isländischen Rundfunk, die ihm endlos vorkamen. Karls Paket hatte zwei Briefe mit den wichtigsten Nachrichten aus Island und Zeitungsausschnitten enthalten. Sie unterhielten sich darüber, und irgendwann fiel jemandem auf, dass Hannes wie gewöhnlich fehlte.

»Ja, Hannes«, sagte Lothar grinsend.

»Er weiß davon, ich hab’s ihm erzählt«, sagte Emíl und leerte sein Schnapsglas.

»Warum tut er so geheimnisvoll?«, fragte Hrafnhildur.

»Ja, geheimnisvoll«, wiederholte Lothar.

»Ich finde das alles sehr komisch«, sagte Emíl. »Er kommt nicht zu den FDJ-Veranstaltungen oder zu den Vorträgen.

Auch bei den freiwilligen Arbeitseinsätzen habe ich ihn nie gesehen. Ist er sich vielleicht zu fein dafür, in den Ruinen herumzubuddeln? Hält er sich vielleicht für was Besseres? Tómas, du hast doch mit ihm gesprochen, oder?«

»Ich glaube, Hannes will einfach so schnell wie möglich sein Studium zu Ende bringen. Es ist sein vorletztes Semester.«

»Es hieß doch immer, dass er eine große Nummer in der Partei werden sollte«, warf Karl ein. »Man hat immer gehört, dass Hannes angeblich solche Führungsqualitäten besitzt. Davon ist hier aber nicht viel zu merken. Ich glaube, ich habe ihn in diesem Semester zwei Mal getroffen, und er hat mich kaum eines Blickes gewürdigt.«

»Ja, man sieht ihn kaum«, sagte Lothar. »Vielleicht bläst er einfach nur Trübsal?«, fügte er dann hinzu, schüttelte den Kopf, nippte am Brennivín und verzog das Gesicht.

Unten öffnete sich die Haustür, und sie hörten schnelle Schritte im Treppenhaus. Zwei Männer und eine Frau erschienen am Ende des dunklen Korridors. Es waren Studenten, die Karl kannte. »Wir haben gehört, dass es hier eine Weihnachtsfeier gibt«, sagte die Frau, als sie in der Küchentür erschienen und die Blicke über die Festtafel schweifen ließen. Von der Lammkeule war noch genug übrig, und die anderen am Tisch rückten zusammen, um für die drei Platz zu machen. Der eine Neuankömmling zog zwei Wodka-Flaschen aus der Tasche, was auf großen Beifall stieß. Sie stellten sich vor. Die beiden jungen Männer waren aus der Tschechoslowakei und sie aus Ungarn.

Das Mädchen setzte sich neben Tómas, dem zumute war, als würden ihm sämtliche Kräfte schwinden. Er hatte versucht, sie nicht anzustarren, als sie aus dem Dunkel ins Helle trat, aber als er sie zum ersten Mal da stehen sah, erfassten ihn Gefühle, von denen er gar nicht wusste, dass er sie empfinden konnte, und er begriff kaum, was in ihm vor sich ging. So etwas war ihm noch nie passiert, er verspürte Freude und Wohlbefinden, aber gleichzeitig auch Schüchternheit. Keine Frau hatte jemals vergleichbare Empfindungen in ihm ausgelöst.

»Bist du auch aus Island?«, fragte sie in gutem Deutsch und wandte sich ihm zu.

»Ja, ich bin aus Island«, stammelte er auf Deutsch, das er inzwischen ziemlich gut beherrschte. Als ihm klar wurde, dass er sie unentwegt anstarrte, seitdem sie sich neben ihn gesetzt hatte, schlug er rasch die Augen nieder.

»Was sind denn das für Scheußlichkeiten?«, fragte sie und deutete auf einen der Schafsköpfe, von dem noch keiner gekostet hatte.

»Ein Schafskopf, der halbiert und über einem Feuer geflammt worden ist«, sagte er und sah, dass sie das Gesicht verzog.

»Wer macht denn so was?«, fragte sie.

»Wir Isländer«, entgegnete er. »Das schmeckt wirklich sehr gut«, fügte er nach leichtem Zögern hinzu. »Die Zunge und das Backenfleisch …« Er verstummte, als ihm klar wurde, dass es nicht sehr appetitlich klang.

»Esst ihr etwa auch die Augen und die Lippen?«, fragte sie, ohne ihren Ekel verbergen zu können.

»Die Lippen? Ja, die auch. Und die Augen.«

»Da müsst ihr wohl immer wenig zu essen gehabt haben, wenn ihr euch so etwas zu Gemüte führt.«

»Island war ein sehr armes Land«, sagte er und nickte bestätigend.

»Ich heiße Ilona«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. Sie gaben sich die Hand, und er sagte, dass er Tómas heiße.

Einer von den beiden, die mit ihr gekommen waren, rief ihr etwas zu. Vor ihm stand bereits ein Teller voll geräuchertem Lammfleisch und Kartoffeln, vor seinem Freund ebenfalls. Er ermunterte sie, sich auch etwas davon zu nehmen, es sei sehr gut. Sie stand auf, holte sich einen Teller und schnitt eine Scheibe von der Lammkeule ab.

»Wir kriegen hier viel zu wenig Fleisch«, sagte sie.

»Genau«, sagte er, um etwas zu sagen.

»Mmmh, das schmeckt aber lecker«, sagte sie mit vollem Mund.

»Besser als Schafsaugen«, sagte er.

Sie feierten bis in den frühen Morgen. Später kamen noch weitere Studenten hinzu, und das Haus füllte sich. Ein alter Plattenspieler wurde hervorgekramt, und irgendwer legte eine Platte von Frank Sinatra auf. Als die Nacht schon fortgeschritten war, sangen die Vertreter der Nationen abwechselnd patriotische Lieder. Karl und Emíl trugen ein melancholisches Lied von Jónas Hallgrímsson vor, beide standen stark unter dem Einfluss der hochprozentigen Sendung aus Island. Dann machten die Tschechen weiter, die Schweden und schließlich auch die Deutschen und ein Student aus Senegal, der sich nach heißen afrikanischen Nächten sehnte. Hrafnhildur wollte auf einmal wissen, was in jeder dieser Sprachen die schönsten Dichterworte waren, was einige Meinungsverschiedenheiten hervorrief, bis man sich untereinander einigte und ein Vertreter jeder Nation aufstand und das Schönste vortrug, was in seiner Sprache gedichtet worden war. Die Isländer waren sich sofort einig. Hrafnhildur stand auf und trug das Gedicht vor. Das Schönste, was je in isländischer Sprache geschrieben worden war, stammte von Jónas Hallgrímsson.

Den Liebesstern

Unter Lavazinnen

Verhüllen nächtliche Wolken.

Einst lacht’ am Himmel.

Traurig sehnt sich

Ein Jüngling im tiefen Tale.

Sie deklamierte voller Pathos, und obwohl die wenigsten der Zuhörer Isländisch verstanden, verstummten alle für einen Augenblick, bevor der Beifall losbrach und Hrafnhildur sich tief verneigte.

Ilona und er saßen immer noch zusammen am Tisch, und sie schaute ihn fragend an. Er erzählte ihr von dem jungen Mann in dem Gedicht, der an eine lange Reise durch Islands Einöden zurückdenkt, zusammen mit dem Mädchen, das er liebte. Er wusste, dass ihre Liebe nie Erfüllung finden würde, und mit diesen traurigen Gedanken kehrte er tief betrübt zurück in sein Tal. Hoch über ihm glänzte der Stern der Liebe, der ihm zuvor den Weg gewiesen hatte, aber jetzt hinter einer Wolke verschwunden war, und er dachte daran, dass ihre Liebe ewig währen würde, auch wenn sie keine Erfüllung fand.

Sie schaute ihn an, während er sprach, und ob es nun wegen dieser Geschichte von dem traurigen Jüngling war oder wegen des isländischen Brennivíns, sie küsste ihn jedenfalls plötzlich direkt und so weich auf den Mund, dass er sich wie ein kleiner Junge fühlte.


Rut kehrte nach den Weihnachtsferien nicht wieder nach Leipzig zurück. Sie schrieb Briefe an alle ihre Freunde, und in ihrem Brief an ihn schrieb sie von den schlechten Zuständen und ein paar anderen Dingen, und er begriff, dass sie genug gehabt hatte. Oder vielleicht war ihr Heimweh so stark gewesen. Sie sprachen in der Küche des Wohnheims darüber. Karl sagte, sie würde ihm fehlen, und Emíl nickte zustimmend. Hrafnhildur hingegen erklärte, Rut sei verweichlicht.

Als er Hannes das nächste Mal traf, fragte er ihn, weshalb er nicht ins Wohnheim gekommen war, um mit ihnen zu feiern. Er sprach ihn nach einer Seminarsitzung in Baustatik an, an der auch Hannes teilgenommen hatte. Die Sitzung war an dem Tag anders als sonst verlaufen. Zwanzig Minuten nach Beginn der Stunde öffnete sich die Tür, und drei Studenten marschierten herein, die sich als FDJ-Funktionäre ausgaben und ums Wort baten. Bei ihnen war auch ein Student, den er manchmal in der Bibliothek gesehen hatte. Er glaubte, dass er Germanistik studierte.

Der Student hielt die Augen gesenkt. Der Anführer sagte, er sei Schriftführer in der FDJ, und er fing an, über Solidarität unter den Studenten zu reden, indem er sich über die vier verschiedenen Aspekte des Studiums ausließ: den Studierenden die marxistische Lehre nahe zu bringen, sie zu verantwortungsbewussten Mitgestaltern der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu erziehen, sie in die sozialistische Gemeinschaftsarbeit zu integrieren, die von jungen Kommunisten organisiert wurde, und eine Schicht von Akademikern heranzuziehen, die später zu bestens ausgebildeten Spezialisten würden. Danach wandte er sich dem Studenten zu und berichtete, dass dieser gestanden habe, Westsender zu hören. Der Student blickte hoch, trat einen Schritt vor, gestand seine sträfliche Handlungsweise und gelobte, es nie wieder zu tun. Diese Sender seien vom imperialistischen Profitdenken des kapitalistischen Wirtschaftssystems infiltriert. Er forderte alle Seminarteilnehmer dazu auf, in Zukunft nur noch Ostsender zu hören.

Der Schriftführer dankte ihm für seine Worte und bat alle Seminarteilnehmer, sich ihm anzuschließen und zu schwören, dass keiner von ihnen jemals mehr einen westlichen Sender einschalten werde. Die Seminarteilnehmer gelobten das feierlich, anschließend wandte sich der Anführer an den Dozenten und entschuldigte sich für die Störung, und das Trüppchen marschierte wieder aus dem Hörsaal.

Als Hannes, der zwei Reihen vor ihm saß, sich zu ihm umdrehte, standen ihm Erschütterung und Wut ins Gesicht geschrieben.

Nach der Seminarstunde war Hannes vor ihm aus dem Hörsaal gestürmt. Er rannte hinter ihm her, packte ihn am Ärmel und fragte hastig, ob etwas nicht in Ordnung sei.

»In Ordnung?«, wiederholte Hannes. »Fandest du das in Ordnung, was sich da vorhin abgespielt hat? Hast du den armen Kerl gesehen?«

»Da vorhin«, sagte er, »nein, ich … trotzdem, es muss doch irgendwie … wir müssen …«

»Lass mich in Ruhe«, unterbrach Hannes ihn. »Lass mich bloß in Ruhe.«

»Warum bist du nicht zum Weihnachtsessen gekommen? Die anderen glauben, dass du dich für was Besseres hältst.«

»Das ist totaler Quatsch«, sagte Hannes und beschleunigte seine Schritte, um ihn loszuwerden.

»Was ist los?«, fragte er. »Warum benimmst du dich so? Was ist passiert? Was haben wir dir getan?« Hannes blieb stehen.

»Nichts, ihr habt mir nichts getan«, antwortete er. »Ich will bloß in Ruhe gelassen werden. Ich bin im Frühjahr mit dem Studium fertig und basta. Weiter nichts. Dann gehe ich zurück nach Island, dann ist das alles hier vorbei. Dieses ganze Theater. Merkst du denn wirklich nichts? Hast du nicht gesehen, wie sie mit dem armen Jungen umgesprungen sind? Du möchtest womöglich, dass es in Island auch so wird?!« Damit stiefelte er weiter.

»Tómas«, hörte er jemanden hinter sich rufen. Er drehte sich um und sah, dass Ilona ihm zuwinkte. Er lächelte sie strahlend an. Sie hatten sich nach dem Seminar verabredet. Am Tag nach der isländischen Weihnachtsfeier war sie ins Wohnheim gekommen und hatte nach ihm gefragt. Seitdem trafen sie sich regelmäßig. An diesem Tag machten sie einen langen Spaziergang durch die Altstadt und setzten sich bei der Thomaskirche auf eine Bank. Er erzählte ihr von den beiden isländischen Dichtern, die Freunde gewesen und einmal hier durch die Stadt gegangen waren und genau da gesessen hatten, wo sie jetzt saßen. Der eine war an Tuberkulose gestorben. Der andere war der berühmteste Schriftsteller Islands.

»Du bist immer so traurig, wenn du von deinen Isländern erzählst«, sagte sie lächelnd.

»Es fasziniert mich einfach, dass die beiden durch die gleichen Straßen und Gassen hier in dieser Stadt gegangen sind wie ich. Zwei isländische Dichter.« Er hatte bei der Kirche bemerkt, dass sie unruhig war und irgendwie auf der Hut zu sein schien. Sie blickte sich ständig suchend um.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte er.

»Da steht ein Mann …« Sie verstummte.

»Was für ein Mann?«

»Der Mann da hinten«, sagte Ilona. »Nicht hinschauen, nicht den Kopf drehen. Ich habe ihn auch gestern schon gesehen, ich weiß bloß nicht mehr, wo.«

»Was ist das für ein Mann? Kennst du ihn?«

»Ich habe ihn nie zuvor gesehen, aber jetzt plötzlich zwei Mal in zwei Tagen.«

»Studiert er an der Universität?«

»Nein, ich glaube nicht. Er ist älter.«

»Was meinst du damit?«

»Nichts, gar nichts«, sagte Ilona.

»Glaubst du, dass er dich beschattet?«

»Nein, es ist nichts. Komm, lass uns gehen.« Ilona wohnte nicht in der Nähe der Universität, sondern hatte in der Stadt ein Zimmer gemietet. Dorthin gingen sie. Er versuchte festzustellen, ob der Mann von der Thomaskirche sie verfolgte, aber er sah ihn nirgends.

Das Zimmer war in der kleinen Wohnung einer Witwe, die in einer Druckerei arbeitete. Ilona hatte gesagt, dass ihre Vermieterin sehr nett war und sie auch die Wohnung mitbenutzen durfte. Die Frau hatte ihren Mann und zwei Söhne im Krieg verloren. Er sah Fotos von ihnen an der Wand. Die Söhne trugen die Uniform der deutschen Wehrmacht.

In Ilonas Zimmer lagen stapelweise Bücher und ungarische und deutsche Zeitungen und Zeitschriften herum.

Eine klapprige Schreibmaschine stand auf dem Schreibtisch neben dem Bett.

Während sie in die Küche ging, nahm er ein paar von ihren Büchern zur Hand und schlug einige Tasten auf der Schreibmaschine an. An der Wand über dem Bett waren Fotos von Menschen, von denen er annahm, dass es ihre Angehörigen waren.

Ilona kam mit zwei Tassen Tee zurück und schob die Tür mit der Ferse zu. Sie stellte die Tassen, die offensichtlich brühheiß waren, vorsichtig neben die Schreibmaschine.

»Er hat die richtige Temperatur, wenn wir fertig sind«, sagte sie, ging zu ihm und küsste ihn. Zuerst war er ein wenig überrascht, aber dann nahm er sie in seine Arme und küsste sie heftig, bis sie auf das Bett sanken und sie anfing, ihm den Pullover auszuziehen und die Hose aufzuknöpfen. Er war unglaublich unerfahren. Er hatte zwar schon mit Mädchen geschlafen, einmal nach der Abiturfeier und einmal nach dem Betriebsfest des Parteiorgans, aber das waren ziemlich ungelenke Annäherungen an das weibliche Geschlecht gewesen. Er war nicht besonders geschickt, aber sie schien es umso mehr zu sein, und er war sehr froh, dass sie sanft bestimmte, wo es langging.

Sie hatte Recht gehabt. Als sie ein lang gezogenes Stöhnen der Wonne unterdrückte und er neben ihr niedersank, hatte der Tee genau die richtige Temperatur bekommen.

Zwei Tage später in Auerbachs Keller wollte sie über nichts anderes als Politik reden, und sie stritten sich zum ersten und einzigen Mal. Sie fing an, über die russische Revolution zu reden und über die Diktatur, die sich daraus entwickelt hatte. Diktaturen waren ihrer Meinung nach immer gefährlich, in welcher Form sie sich auch präsentierten.

Er wollte nicht mit ihr streiten, obwohl er ganz genau wusste, dass sie Unrecht hatte.

»Die Nazis konnten nur besiegt werden, weil Stalin den Aufbau der Industrie so vorangetrieben hatte«, gab er zu bedenken.

»Er hat auch mit Hitler paktiert«, sagte sie. »Eine Diktatur erzeugt Furcht und sklavische Unterwürfigkeit. Das bekommen wir jetzt deutlich in Ungarn zu spüren. Wir sind keine freie Nation mehr. Sie haben systematisch einen kommunistischen Staat unter sowjetischer Kontrolle aufgebaut. Niemand hat uns gefragt, uns, das Volk. Niemand hat gefragt, was wir wollten. Wir möchten selbst über unser Leben bestimmen, aber können es nicht. Junge Leute werden eingesperrt. Einige verschwinden spurlos. Man sagt, dass sie in die Sowjetunion deportiert werden. Ihr habt doch da auch eine Militärmacht in eurem Land. Wie würdest du es finden, wenn sie bei euch alles kraft ihrer Waffengewalt bestimmen würden?«

Er schüttelte den Kopf.

»Guck dir doch bloß die Wahlen hier an«, sagte sie. »Angeblich sind das freie Wahlen, aber es gibt letzten Endes nur eine Partei. Was ist daran frei? Wenn du anderer Meinung bist, kommst du ins Gefängnis. Was ist das? Soll das vielleicht Sozialismus sein? Und selbst wenn die Menschen bei diesen so genannten freien Wahlen was anderes wählen können, stünde das Ergebnis nicht vorher schon fest? Und wer erinnert sich nicht an das, was vor zwei Jahren passierte, als die sowjetischen Panzer hier anrollten und den Volksaufstand niederschlugen? Als sie auf die Menschen auf der Straße geschossen haben — auf Menschen, die etwas verändern wollten?«

»Ilona.«

»Und dann diese gegenseitige Kontrolle«, fuhr Ilona fort, die sich in Rage geredet hatte. »Sie behaupten, dass es zu unserem Nutzen wäre. Wir sollen unsere Freunde und die Familie aushorchen, ob sie antisozialistische Anschauungen haben. Wenn du von einem deiner Kommilitonen weißt, dass er westliche Sender hört, sollst du es melden, und dann wird er von Seminar zu Seminar geschleift, um sein Verbrechen zu gestehen. Kinder werden aufgefordert, ihre Eltern anzuzeigen.«

»Die Partei braucht Zeit, um sich zu etablieren«, sagte er.

Als der Leipzig-Aufenthalt den Reiz des Neuen verloren hatte und die isländischen Studenten gezwungen waren, der Realität ins Auge zu sehen, hatten sie untereinander darüber diskutiert. Er hatte sich seine eigene Meinung über die überwachte Gesellschaft gebildet, über die gegenseitige Kontrolle, die darin bestand, dass sämtliche Staatsbürger sich gegenseitig bespitzel­ten und antisozialistische Ansichten und Verhaltensweisen meldeten. Auch über die totalitären Ansprüche der SED, das Verbot von Presse- und Meinungsfreiheit, die Pflicht, an Parteiveranstaltungen und Aufmärschen teilzunehmen. Er war der Meinung, dass die Partei im Hinblick auf die Methoden, die verwendet wurden, nichts beschönigen, sondern offen eingestehen sollte, dass in Zeiten des Umbruchs bestimmte Methoden erforderlich waren, um das Ziel zu erreichen, den Aufbau eines sozialistischen Staates. Die Methoden waren zu rechtfertigen, solange sie nur übergangsweise verwendet wurden.

Später, wenn die Menschen eingesehen hätten, dass der Sozialismus die beste aller Gesellschaftsformen sei, würde man solche Methoden nicht mehr brauchen.

»Die Leute haben Angst«, sagte Ilona.

Er schüttelte den Kopf, und sie stritten sich. Er wusste nur sehr wenig darüber, was in Ungarn passierte, und sie war verletzt, dass er ihre Worte in Zweifel zog. Er hatte ihr gegenüber nur dieselben Argumente zur Hand, die er auf den politischen Versammlungen in Island gehört und in den Schriften von Marx und Engels gelesen hatte, aber alles war vergeblich. Sie schaute ihn nur an und wiederholte immer wieder: »Du darfst deine Augen nicht davor verschließen.«

»Ihr lasst euch von der Propaganda der westlichen Imperialisten gegen die Sowjetunion beeinflussen«, sagte er. »Sie wollen die Solidarität unter den kommunistischen Staaten untergraben, weil sie Angst davor haben.«

»Das stimmt nicht«, sagte sie.

Sie schwiegen. Die Biergläser waren leer. Er war wütend auf Ilona. Nur in der reaktionären Presse in Island hatte er solche Äußerungen über die Sowjetunion und die Ostblockstaaten bisher gelesen. Er wusste von der starken Propagandamaschinerie der Westmächte, weil sie in Island hervorragend funktionierte, und für ihn stellte es sich so dar, dass unter anderem ihretwegen die Presse- und Meinungsfreiheit in den osteuropäischen Ländern eingeschränkt werden musste. Er fand das verständlich, solange man nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Aufbau von sozialistischen Staaten beschäftigt war. Seiner Meinung nach ging es nicht darum, die freie Meinungsäußerung zu unterdrücken.

»Wir dürfen uns nicht streiten«, sagte sie.

»Nein«, sagte er und legte Geld auf den Tisch. »Gehen wir.«

Auf dem Weg nach oben puffte Ilona ihn leicht mit dem Ellbogen, und er sah sie an. Sie versuchte ihm mit ihrem Mienenspiel etwas zu sagen und nickte leicht in Richtung des Tresens.

»Da ist er wieder«, flüsterte sie.

Er blickte in die Richtung und erkannte den Mann, von dem Ilona glaubte, dass er sie beschattete. Er saß im Mantel da, schlürfte Bier und tat so, als sähe er sie nicht. Aber es war derselbe Mann wie vor der Thomaskirche.

»Ich knöpf mir diesen Kerl jetzt vor«, sagte er.

»Nein«, sagte Ilona. »Tu das nicht. Lass uns gehen.« Einige Tage später sah er Hannes an seinem Arbeitsplatz in der Unibibliothek und setzte sich zu ihm. Hannes blickte nicht hoch, sondern machte sich weiter Notizen in seinem Schreibblock.

»Ärgert dich das, was sie sagt?«, fragte Hannes, der immer noch in seinen Block schrieb.

»Wer?«

»Ilona.«

»Kennst du Ilona?«

»Ich weiß, wer sie ist«, sagte Hannes und blickte hoch. Er trug einen dicken Schal und Fingerlinge.

»Du weißt von uns?«, fragte er.

»Hier erfährt man alles«, sagte Hannes. »Ilona stammt aus Ungarn, deswegen ist sie nicht ganz so naiv wie wir.«

»So naiv wie wir?«

»Vergiss es«, sagte Hannes und vergrub sich wieder in seine Notizen.

Er streckte seine Hand nach dem Schreibblock aus und riss ihn an sich. Hannes blickte erstaunt hoch und versuchte, seinen Block wiederzubekommen, aber vergeblich.

»Was ist denn los?«, fragte er. »Was soll denn das?« Hannes Blicke wanderten von dem Block in der ausgestreckten Hand zu ihm.

»Ich will mich nicht in das einmischen, was hierzulande geschieht. Ich möchte nur wieder nach Hause und das alles vergessen«, sagte Hannes. »Das hier ist ein einziger Krampf. Ich war noch nicht einmal so lange hier wie du, als ich es überhatte.«

»Aber du bist immer noch hier.«

»Die Universität ist in Ordnung. Und ich habe meine Zeit gebraucht, um die Lüge zu durchschauen.«

»Was ist es denn eigentlich, das ich nicht kapiere?«, fragte er und fürchtete sich vor der Antwort. »Was hast du durchschaut? Was geht hier an mir vorbei?« Hannes sah ihm in die Augen, ließ dann seine Blicke durch die Bibliothek schweifen, bis sie wieder an seinem Block in der ausgestreckten Hand hängen blieben.

»Mach lieber einfach weiter«, sagte er. »Halt dich an deine Überzeugung. Lass dich nicht vom Kurs abbringen. Glaub mir, das bringt nichts. Solange du dich dabei wohl fühlst, ist doch alles in Ordnung. Bloß nicht nach etwas suchen.

Du hast keine Ahnung, was du finden könntest.«

Hannes streckte die Hand nach seinem Block aus.

»Glaub mir«, sagte er. »Vergiss es.«

Er reichte ihm den Block.

»Und Ilona?«, sagte er.

»Vergiss sie ebenfalls«, sagte Hannes.

»Was meinst du damit?«

»Nichts.«

»Weshalb sagst du das?«

»Lass mich in Ruhe«, sagte Hannes. »Lass mich bloß in Ruhe.«


Drei Tage später waren sie in einem Waldgebiet in der Umgebung von Leipzig. Emíl und er waren der »Gesellschaft für Sport und Technik« beigetreten. Es war angeblich ein vielseitiger Sportverband, der unter anderem Reiten und Motorsport anbot. Den Studierenden wurden nahe gelegt, sich gesellschaftspolitisch zu engagieren und an den freiwilligen Arbeitseinsätzen teilzunehmen, die von der FDJ organisiert wurden. Sie bestanden aus einer Woche Erntearbeit im Herbst, außerdem gab es die Trümmersäuberung, einen Tag pro Semester oder in den Semesterferien, es gab die Einsätze in Produktionsbetrieben und im Braunkohlenabbau, und alles, was sonst noch so anfiel. Allen war es freigestellt, ob sie sich zum Arbeitseinsatz meldeten, aber wer es nicht freiwillig tat, musste mit einer Strafe rechnen.

Er dachte über dieses System nach, als er zusammen mit Emíl und anderen Kommilitonen aus der Stadt hinausfuhr.

Ihnen stand eine Woche Zeltlager bevor, und es hatte sich herausgestellt, dass die Zeit zum größten Teil für militärische Übungen verplant war.

So war das Leben in Leipzig. Nur wenig war genau das, was es nach außen hin zu sein schien. Die ausländischen Studierenden wurden kontrolliert und mussten darauf achten, offiziell nichts verlauten zu lassen, was die Gastgeber beleidigen konnte. Auf den Pflichtveranstaltungen wurden ihnen sozialistische Werte eingehämmert, und die freiwilligen Arbeitseinsätze waren nur dem Namen nach freiwillig. An all das gewöhnten sie sich mit der Zeit, und wenn sie davon sprachen, waren sie sich einig darüber, was für ein Krampf das Ganze war. Er war fest davon überzeugt, dass es sich nur um einen vorübergehenden Zustand handelte.

Von den anderen waren einige nicht so optimistisch. Er musste innerlich lachen, als sich herausstellte, dass die »Gesellschaft für Sport und Technik« letzten Endes nur ein paramilitärischer Verband war. Emíl allerdings nahm das alles sehr ernst, und im Gegensatz zu den anderen sprach er nie über »den Krampf«. Er fand nichts an Leipzig komisch. Am ersten Abend lagen sie mit ihren Kameraden im Zelt. Emíl hatte den ganzen Abend enthusiastisch und leidenschaftlich über einen sozialistischen Staat auf Island gesprochen.

»Diese ganze ungerechte Verteilung in einem so winzigen Land, wo alle ganz leicht gleichgestellt sein könnten«, sagte er. »Ich will das ändern.«

»Würdest du einen sozialistischen Staat wie diesen hier wollen?«

»Warum nicht?«

»Mit allem, was damit verbunden ist? Die Personenkontrolle? Diese Hysterie? Die Einschränkung der Meinungsfreiheit? Diesen ganzen Krampf?«

»Sie hat also Erfolg bei dir gehabt?«

»Wer hat Erfolg bei mir gehabt?«

»Ilona!«

»Was meinst du denn damit, dass sie Erfolg bei mir gehabt hat?«

»Nichts.«

»Kennst du Ilona?«

»Überhaupt nicht«, sagte Emíl.

»Du bist doch selber hinter den Mädchen her. Hrafnhildur hat mir von einer aus dem« Roten Kloster »erzählt.«

»Zwischen uns ist gar nichts«, sagte Emíl.

»Ach nee!«

»Vielleicht erzählst du mir ja irgendwann mal mehr über diese Ilona«, sagte Emíl.

»Sie ist nicht so überzeugt wie wir. Sie findet Verschiedenes an diesem System verkehrt und will das ändern. Es ist hier genau dasselbe wie in Ungarn, mit dem einen Unterschied, dass die jungen Leute dort etwas unternehmen wollen. Gegen diesen Krampf angehen wollen.«

»Was soll das denn mit diesem« Krampf »?«, stieß Emíl hervor. »So ein verdammter Quatsch! Guck dir doch die Situation in Island an. Die Leute hausen frierend in den amerikanischen Militärbaracken, die Kinder hungern, und die Eltern haben kaum das Geld, um ihnen was Anständiges zum Anziehen zu kaufen. Unterdessen wird die speckfette Elite immer reicher und dicker. Ist das vielleicht nicht genauso gut ein ›Krampf‹? Was wäre dabei, wenn man zeitweilig die Leute überwachen und die Meinungsfreiheit einschränken müsste? Es geht darum, die Ungerechtigkeit abzuschaffen. Das kann Opfer fordern. Was ist schon dabei?«

Sie verstummten. Stille hatte sich über das Zeltlager gesenkt, und draußen war es stockfinster.

»Ich wäre zu allem bereit für eine isländische Revolution«, sagte Emíl. »Zu allem, um die Ungerechtigkeit aus der Welt zu räumen.«

Er stand am Fenster und blickte auf die Sonnenstrahlen, die durch die Wolken brachen, und einen fernen Regenbogen.

Beim Gedanken an den Sportverband musste er innerlich lächeln. Das Bild von Ilona erschien vor seinem inneren Auge, wie sie bei der Weihnachtsfeier in schallendes Gelächter ausbrach, und er dachte an den weichen Kuss, den er immer noch auf seinen Lippen spürte, an den Stern der Liebe und den traurigen Jüngling im Tale.

Загрузка...