Dreiundzwanzig

Die deutsche Botschafterin in Reykjavik, Frau Dr. Elisabeth Müller, eine imposante Persönlichkeit knapp über sechzig, nahm sie gegen Mittag persönlich in ihrem Büro in Empfang. Sie warf Sigurður Óli wohlgefällige Blicke zu. Für Erlendur in seiner braunen Strickweste unter dem abgewetzten Jackett schien sie kaum Interesse aufzubringen. Den Doktortitel hatte sie sich als Historikerin erworben. Man hatte Gebäck aus Deutschland und Kaffee für sie bereitgestellt. Sie nahmen auf der eleganten Sofagarnitur Platz, und Sigurður Óli bat um Kaffee. Er wollte nicht unhöflich sein. Erlendur lehnte dankend ab. Am liebsten hätte er sich eine Zigarette angezündet, aber er konnte sich nicht zu der Frage durchringen, ob es gestattet sei.

Es wurden einige höfliche Worte gewechselt, und sie entschuldigten sich, der Botschaft solche Umstände gemacht zu haben, worauf sie ihnen versicherte, dass es eine Selbstverständlichkeit sei, die isländischen Behörden zu unterstützen.

Die Anfrage in Bezug auf Lothar Weiser sei auf dem Dienstweg weitergeleitet worden, erklärte Elisabeth Müller ihnen, oder vielmehr Sigurður Óli, denn sie richtete das Wort nahezu ausschließlich an ihn. Es wurde Englisch gesprochen. Sie bestätigte, dass ein Mann dieses Namens in den sechziger Jahren in der Handelsmission der ehemaligen DDR tätig gewesen war. Es sei außerordentlich schwierig gewesen, an Informationen über ihn heranzukommen, da er zu jener Zeit dem Staatssicherheitsdienst in der DDR angehörte, der engste Verbindungen zum sowjetischen Geheimdienst gehabt habe. Sie teilte ihnen mit, dass ein bedeutender Teil der diesbezüglichen Akten nach dem Fall der Mauer zerstört worden sei und dass die wenigen Informationen, die ihnen zur Verfügung standen, größtenteils vom Bundesnachrichtendienst stammten.

»Er ist 1968 in Island spurlos verschwunden«, sagte Frau Dr. Müller. »Niemand weiß, was aus ihm geworden ist. Seinerzeit vermutete man, dass er höchstwahrscheinlich irgendeinen fatalen Fehler begangen hat und …« Frau Dr. Müller verstummte und zuckte die Achseln.

»… abgemurkst worden ist«, beendete Erlendur den Satz.

»Das ist vielleicht eine Möglichkeit, aber dafür haben wir bislang noch keinen Beweis. Ebenso gut könnte es sein, dass er seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hat und die Leiche mit dem diplomatischen Kurier entsorgt worden ist.«

Sie schenkte Sigurður Óli ein Lächeln, als wolle sie sagen, dass dies ihre Art von Humor sei.

»Ich weiß, dass es für Sie vermutlich komisch und absurd klingt«, fuhr sie fort, »aber für Angehörige des diplomatischen Korps liegt Island am Ende der Welt. Das Wetter ist der reinste Horror. Ewig dieser Sturm und dann die Dunkelheit und die Kälte. Im diplomatischen Dienst kommt es praktisch einer Strafversetzung gleich, wenn man nach Reykjavik geschickt wird.«

»Wurde dieser Mann also wegen irgendetwas strafversetzt, als man ihn nach Island schickte?«, erkundigte sich Sigurður Óli.

»Soweit uns bekannt ist, hat er für den Staatssicherheitsdienst der DDR gearbeitet, und er lebte in jüngeren Jahren lange in Leipzig.« Sie blätterte die Papiere durch, die vor ihr auf dem Tisch lagen. »In den Jahren zwischen 1953 und 1957, vielleicht sogar bis 1958, hatte er den Auftrag, die ausländischen Studierenden an der Universität Leipzig, von denen die meisten, wenn nicht alle, Kommunisten waren und ein Stipendium erhielten, dazu zu bringen, für ihn zu arbeiten und andere zu denunzieren. Es ging letzten Endes nicht um Spionage, sondern eher darum, die ausländischen Studenten zu observieren.«

»Denunzieren?«, fragte Sigurður Óli.

»Ja, ich weiß nicht, wie Sie das nennen wollen«, sagte Frau Dr. Müller. »Seine Mitmenschen zu bespitzeln. Lothar Weiser stand in dem Ruf, besonders geschickt darin zu sein, junge Leute auf seine Seite zu ziehen. Er hatte einiges anzubieten, Geld beispielsweise oder gute Noten. Zu dieser Zeit war die Lage vor allem wegen der Entwicklungen in Ungarn sehr angespannt. Die jungen Menschen verfolgten durchaus mit, was dort vor sich ging, und die Stasi wiederum hatte die jungen Leute im Visier. Weiser schlich sich bei ihnen ein, und nicht nur er, sondern viele andere ebenfalls. Leute wie Weiser gab es an allen Universitäten der DDR — und generell in den kommunistischen Ländern.

Es ging darum, die Menschen zu überwachen, um genau zu wissen, was sie dachten. Der Einfluss von Ausländern konnte gefährlich sein, auch wenn die meisten wahrscheinlich sowohl das Studium als auch den Sozialismus ernst genommen haben.«

Erlendur warf ins Gespräch, dass Lothar Weiser ausgezeichnet Isländisch gesprochen habe.

»Gab es damals isländische Studenten in Leipzig?«, fragte er.

»Darüber habe ich leider keine Informationen«, entgegnete Frau Dr. Müller. »Das müssten Sie aber selbst herausbekommen können.«

»Aber was wurde später aus Lothar Weiser, nachdem er Leipzig verlassen hatte?«, fragte Sigurður Óli.

»Ihnen wird das alles sehr abwegig vorkommen«, entgegnete sie. »Geheimdienst und Spionage. Sie kennen so etwas hier auf Ihrem Eiland im Nordatlantik vermutlich nur vom Hörensagen.«

»Vermutlich«, erwiderte Erlendur lächelnd. »Ich kann mich nicht erinnern, dass wir hier einen einzigen richtigen Spion gehabt hätten.«

»Weiser nahm anschließend seine Tätigkeit im diplomatischen Dienst der DDR auf. Da war er nicht mehr bei der Stasi. Er ist in der ganzen Welt herumgekommen und hat bei den DDR-Vertretungen in allen möglichen Ländern gearbeitet. Unter anderem auch hier in Island. Er hatte aus irgendwelchen Gründen ein ganz besonderes Interesse an Island, das kann man schon daran ablesen, dass er in jungen Jahren Isländisch gelernt hat. Er war wohl so etwas wie ein Sprachgenie. Hier genau wie andernorts hatte er die Aufgabe, einheimische Informanten zu rekrutieren. Das war vergleichbar mit dem, was er früher in Leipzig gemacht hatte. Falls es an ideologischer Begeisterung mangelte, was nicht allzu selten der Fall war, konnte er Geld bieten.«

»Gab es Isländer, die für ihn gearbeitet haben?«, fragte Sigurður Óli.

»Es muss nicht sein, dass er hier in Island Erfolg gehabt hat«, sagte Frau Dr. Müller.

»Von den Mitarbeitern in dieser DDR-Vertretung damals«, warf Erlendur ein, »ist von denen noch jemand am Leben?«

»Uns liegen Personallisten aus dieser Zeit vor, aber wir haben niemanden ausfindig machen können, der noch am Leben ist und Herrn Weiser gekannt haben könnte oder wüsste, was aus ihm geworden ist. Eins steht aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit Sicherheit fest: dass seine Laufbahn hier in Island zu enden scheint, aber wie — das wissen wir nicht. Es hat den Anschein, als hätte er sich ganz einfach in Luft aufgelöst. Allerdings sind diese alten Geheimdienstprotokolle nicht immer verlässlich. Da gibt es enorme Lücken, genau wie in den Stasidokumenten. Als sie nach der Wiedervereinigung Deutschlands öffentlich zugänglich gemacht wurden, ging ein Großteil davon verloren, vor allem die Unterlagen über die Bespitzelungen im eigenen Land. Der Staatssicherheitsdienst wurde selbstverständlich aufgelöst. Um ehrlich zu sein, wir haben keinerlei Informationen über Lothar Weisers Schicksal, aber wir werden weiter am Ball bleiben.«

Für eine Weile trat Schweigen ein. Sigurður Óli nahm sich etwas von dem Gebäck. Erlendur verlangte es noch dringlicher nach einer Zigarette. Er sah aber nirgendwo einen Aschenbecher. Wahrscheinlich war das die Methode, um zu verhindern, dass Besucher sich eine anzuzündeten.

»Bei der ganzen Sache ist aber eines bemerkenswert«, fuhr Frau Dr. Müller fort, »nämlich dass es hier um Leipzig geht. Die Einwohner von Leipzig sind stolz darauf, dass im Grunde genommen von dort der Widerstand ausging, der letztendlich dazu führte, dass Honecker zurücktrat und die Mauer fiel. In Leipzig war der Protest am stärksten, und im Zentrum stand dabei die Nikolaikirche. Dort kamen die Menschen zusammen, sie beteten und protestierten stumm, und eines Abends verließen sie die Kirche und drangen in die Stasizentrale ein, die ganz in der Nähe lag. In Leipzig — und wahrscheinlich nicht nur dort — sieht man es so, dass es hier war, wo die Entwicklung einsetzte, die mit dem Fall der Mauer endete.«

»Genau«, sagte Erlendur.

»Komisch, dass so ein deutscher Agent hierzulande spurlos verschwindet«, sagte Sigurður Óli. »Das ist irgendwie …«

»Absurd?«, sagte Frau Dr. Müller und lächelte. »Es war in gewissem Sinne nicht unpraktisch für denjenigen, der ihn liquidiert hat, falls er denn liquidiert wurde, dass Weiser ein Agent war. Das wiederum kann man an den Reaktionen der damaligen Handelsvertretung der DDR ablesen, es gab damals keine Botschaft im eigentlichen Sinne. Sie haben gar nichts in der Sache unternommen. Eine derartige Reaktion ist typisch, wenn ein diplomatischer Skandal unter den Teppich gekehrt werden soll. Niemand sagt was. Man könnte glauben, es hätte nie einen Lothar Weiser gegeben. Aus unseren Unterlagen geht nicht hervor, dass seinetwegen jemals eine Untersuchung in die Wege geleitet worden wäre.«

Ihr Blick wanderte von Sigurður Óli zu Erlendur. »Der isländischen Polizei wurde sein Verschwinden nicht gemeldet«, sagte Erlendur. »Wir sind dem nachgegangen.«

»Deutet das nicht darauf hin, dass die Sache intern geregelt wurde?«, fragte Sigurður Óli. »Dass er von einem Kollegen umgebracht wurde?«

»Das könnte sein«, gab Frau Dr. Müller zu. »Aber wir wissen sehr wenig über Lothar Weiser und sein Schicksal.«

»Der Mörder ist womöglich auch bereits unter der Erde«, sagte Sigurður Óli. »Das ist doch alles eine Ewigkeit her. Falls dieser Weiser tatsächlich ermordet wurde.«

»Glauben Sie, dass er der Mann aus diesem See ist?«, erkundigte sich Frau Dr. Müller.

»Dazu können wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts sagen«, entgegnete Sigurður Óli. Sie hatten der deutschen Botschaft keine näheren Einzelheiten in Bezug auf den Skelettfund mitgeteilt. Er schaute zu Erlendur hinüber und erhielt ein zustimmendes Kopfnicken. »Das Skelett, das gefunden wurde, war mit einem Strick an ein russisches Abhörgerät angebunden«, sagte Sigurður Óli.

»Ich verstehe«, sagte die deutsche Botschafterin nachdenklich. »Ein russisches Gerät? Was für Schlüsse ziehen Sie daraus?«

»Da gibt es diverse Optionen«, sagte Sigurður Óli.

»Könnte das Gerät aus der ostdeutschen Botschaft stammen? Oder dieser Handelsvertretung oder wie auch immer so etwas genannt wird«, warf Erlendur ein. »Selbstverständlich kann das der Fall gewesen sein«, erwiderte Dr. Müller. »Die Staaten des Warschauer Paktes haben überaus eng zusammengearbeitet, nicht zuletzt, wenn es um Spionage ging.«

»Im Zuge der Wiedervereinigung«, sagte Erlendur, »ich meine, als die beiden Botschaften hier zusammengelegt wurden, haben Sie da Geräte dieser Art bei den anderen gefunden?«

»Wir wurden nicht zusammengelegt«, erklärte Frau Dr. Müller. »Die DDR-Vertretung wurde aufgelöst, ohne dass wir etwas damit zu tun hatten. Aber ich werde der Sache mit diesen Apparaten nachgehen.«

»Was meinen Sie, bedeutet es, dass ein russisches Abhörgerät bei dem Skelett gefunden wurde?«, fragte Sigurður Óli.

»Dazu kann ich absolut nichts sagen«, antwortete Frau Dr. Müller. »Es fällt nicht in meinen Aufgabenbereich, darüber Spekulationen anzustellen.«

»Genau«, sagte Sigurður Óli. »Aber wir haben sowieso nichts anderes als Spekulationen an der Hand, und deswegen …«

Weder Erlendur noch Frau Dr. Müller gingen auf ihn ein, und das Gespräch geriet ins Stocken. Erlendur griff unwillkürlich in die Tasche seines Jacketts und tastete nach der Zigarettenschachtel. Er getraute sich nicht, sie aus der Tasche zu ziehen.

»Und was haben Sie verbrochen?«, fragte er.

»Verbrochen? Ich?«, erwiderte Frau Dr. Müller.

»Wieso wurden Sie in dieses grauenvolle Land am Arsch der Welt versetzt?«

Dr. Elisabeth Müller lächelte, aber ihr Lächeln kam Erlendur nicht ganz geheuer vor.

»Sind Sie der Meinung, dass eine solche Frage angebracht ist? Sie sprechen mit der Botschafterin der Bundesrepublik Deutschland.«

Erlendur zuckte die Achseln.

»Entschuldigen Sie, aber Sie haben selber gesagt, dass der Botschafterposten hier eine Art Strafversetzung bedeutet.

Es geht mich natürlich gar nichts an.«

Verlegenes Schweigen machte sich im Büro der Botschafterin breit, bis Sigurður Óli eingriff und sich räusperte, um sich dann für die Hilfe zu bedanken. Frau Dr. Müller erklärte kühl, dass sie sich mit ihnen in Verbindung setzen würde, falls es in Bezug auf Lothar Weiser neue Erkenntnisse gäbe, die ihnen von Nutzen sein konnten. Es war ihr anzuhören, dass sie nicht unverzüglich zum Telefon greifen würde.

Als sie die Botschaft verließen, unterhielten sie sich über die Möglichkeit, dass isländische Studenten in Leipzig studiert hatten, die dort möglicherweise mit Lothar Weiser in Berührung gekommen waren. Sigurður Óli wollte dem nachgehen.

»Bist du nicht reichlich unverschämt ihr gegenüber gewesen?«, fragte er.

»Mann, es geht mir auf den Geist, dieses Gerede, dass Island am Arsch der Welt liegt«, erklärte Erlendur und zündete sich die lang ersehnte Zigarette an.

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