»Und was machen wir nun?«, fragte Tobias.
»Erst mal gehe ich unter die Dusche, dann esse ich einen Happen«, erklärte Alexandra. »Ich habe noch ein Sandwich von gestern. Wenn du möchtest, kannst du eine Hälfte haben.«
»Oh, ich glaube, du bist vom Klosterleben infiziert worden! Ich hätte nie gedacht, dass du einmal ganz christlich mit mir dein karges Mahl teilen würdest.«
Alexandra grinste. »Freu dich nicht zu früh! Ich habe dir nur ein halbes Sandwich angeboten, aber nicht die Hälfte vom Kartoffelsalat und von den Chips, die ich auch noch in meinem Zimmer habe.« Sie zögerte einen Moment und meinte dann: »Ich weiß ja nicht, wie du das handhaben wirst, doch vielleicht werde ich mir bei der Berichterstattung einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen können. So gut das Konzept auch ist: Man bezahlt in diesem Hotel andererseits aber auch recht viel dafür, dass einem etwas vorenthalten wird. Die Zimmer sind winzig, um zehn Uhr abends wird der Strom abgestellt …«
Tobias klopfte ihr lachend auf die Schulter. »Du bist jetzt ja nur sauer, weil du nichts zu essen bekommen hast.«
»Nein, aber ich kann mich auch zu Hause hinsetzen, stundenlang schweigen und auf das Mittagessen verzichten. Das kostet mich nichts. Und ich spare sogar noch ein paar Euro, weil ich mein Mittagessen für den nächsten Tag aufhebe.«
Tobias ging langsam neben ihr her weiter. »Stimmt irgendwie schon … Doch ich glaube, von allein und in seinem gewohnten häuslichen Umfeld kommt man nicht darauf, einmal bewusst zu schweigen oder auf etwas zu verzichten.«
Alexandra zuckte nur mit den Schultern. »Da wir gerade von Mittagessen reden – was hältst du davon, wenn wir uns ins Auto setzen und irgendwo essen gehen? Du weißt ja, vor vier Uhr können wir mit Wildens Mitarbeitern sowieso nicht reden.«
»Gute Idee, ich kriege nämlich auch allmählich Hunger.« Tobias sah auf die Uhr. »Ich schlage vor, wir befragen das Navi in meinem Mietwagen, wo wir in der Gegend ein brauchbares Restaurant finden können.«
»Dein Navi kannst du schonen. Auf dem Weg hierher habe ich an einer Wirtschaft angehalten, weil in Lengenich jemand die Straße in Richtung Kloster blockiert hatte. Ich meine, ich hätte da eine ziemlich umfangreiche Speisekarte gesehen.«
»Oh. Hausmannskost. Herrlich.« Doch seine Miene strafte seine Worte Lügen.
»Hausmannskost liegt voll im Trend«, hielt sie dagegen. »Sushi und Tapas sind längst auf dem absteigenden Ast. Zwei Scheiben Schweinebraten, dazu Klöße und Rotkohl – das ist das, was in der nächsten Zeit die Speisekarten beherrschen wird. Oder Leberkäse mit Spiegeleiern.«
»Das glaubst du ja selbst nicht!«
Alexandra war vor ihrem Zimmer angekommen. »Okay, ich gehe duschen und ziehe mich um, danach können wir losfahren. Unterwegs erzähle ich dir von meiner merkwürdigen Begegnung im Keller.«
Es war halb eins, als Alexandra frisch geduscht und in sauberer Jeans und dunkelblauer Bluse auf dem Bett saß, um ihre Schuhe anzuziehen. Es waren erst ein paar Stunden vergangen, seit sie auf den Toten im Brunnen gestoßen waren, doch seitdem war sie pausenlos beschäftigt gewesen, ohne einen nennenswerten Schritt weiterzukommen. Das Wichtigste ließ weiter auf sich warten, nämlich die Gespräche mit Wildens Mitarbeitern.
Ein wenig missmutig schüttelte sie den Kopf. Sosehr das Verhalten des Polizisten Pallenberg sie auch dazu herausgefordert hatte, es dem Mann zu zeigen, überwogen in ihr mit einem Mal die Zweifel daran, überhaupt etwas erreichen zu können. Hatte sie sich zu viel vorgenommen? In diesem Moment näherten sich auf dem Flur Schritte. Es klang nicht wie das typische Klatschen der Sandalen, die die Mönche trugen, sondern wie das harte Stakkato von hohen, spitzen Absätzen.
Als sie die Tür öffnete, erblickte sie eine rothaarige Frau, die sie am Morgen bereits kurz gesehen hatte, als man noch auf der Suche nach Wilden gewesen war. Die Frau steuerte auf das vorletzte Zimmer vor Alexandras Unterkunft zu und hielt den Schlüssel in der ausgestreckten Hand.
»Hallo«, rief Alexandra.
Die Rothaarige erwiderte den Gruß.
»Alexandra Berger«, stellte Alexandra sich vor. »Wir sind uns heute Morgen vor dem Kloster schon einmal über den Weg gelaufen.«
Die Frau schenkte ihr ein zurückhaltendes Lächeln. »Tina Wittecker.«
»Sie sind also schon von der Wanderung zurück?«
Tina lachte und winkte ab. »Da bin ich gar nicht erst mitgegangen. Was glauben Sie, wie weit ich mit diesen Absätzen hier in der Pampa kommen würde?« Sie zog ein Hosenbein hoch, um den Blick auf ihre spitz zulaufenden High Heels freizugeben.
Alexandra stimmte in Tinas Lachen ein. Einmal mehr fragte sie sich, wie jemand auf solchen Stelzen gehen konnte, ohne nach zwei oder drei Schritten umzuknicken. »Oh, das ist allerdings ein gutes Argument gegen eine Wanderung. Aber meinen Sie denn, damit wären Sie auch durchgekommen, wenn Wilden nicht … zu Tode gekommen wäre?«
Tina Wittecker runzelte die Stirn, als hätte sie Alexandras Frage nicht verstanden.
»Na ja, so wie ich den Mann gestern erlebt habe, kann ich mir nicht vorstellen, dass er ohne Weiteres einverstanden gewesen wäre, wenn Sie die Wanderung nicht mitgemacht hätten …«
Tina warf ihr einen kurzen, prüfenden Blick zu. »Wissen Sie, man musste schon ein Gefühl dafür haben, was den richtigen Umgang mit Bernd Wilden betraf«, erklärte sie und nickte Tobias zu, der neben Alexandra erschienen war. »Man musste im Umgang mit ihm die gleichen schweren Geschütze auffahren wie er. In diesem speziellen Fall hätte er mir wahrscheinlich mit einer Abmahnung gedroht. Daraufhin hätte ich ihm einen Brief zur Unterschrift vorgelegt, mit dem er sich verpflichtet hätte, für alle Behandlungs-und Folgekosten aufzukommen, sollte ich wegen meiner ungeeigneten Schuhe stürzen und mich verletzen.«
Alexandra musste unwillkürlich lächeln. »Beliebt war er als Chef sicher nicht …«
Die rothaarige Frau zögerte einen Moment. »Ich glaube, jeder aus unserem Verband würde Bernd Wilden als einen Tyrannen beschreiben. Was Sie hier von ihm zu sehen bekommen haben, war Wilden, wie wir ihn jeden Tag ertragen mussten.«
»Aber doch sicher nicht in jeder Abteilung, oder?«, wandte Tobias ein, nachdem er sich vorgestellt hatte. »Ich meine, als Geschäftsführer wird er doch keine Zeit gehabt haben, sich in alles einzumischen.«
Tina Wittecker schenkte ihm ein spöttisches Lächeln. »Ich leite den Mahlzeitendienst. Ich habe acht Mitarbeiterinnen, die an jedem Tag in der Woche unterwegs sind, um Essen auszufahren. Dabei folgen sie einem ausgeklügelten Zeitplan, der gewährleistet, dass diese Fertigessen spätestens um halb eins bei unseren Kunden sind. Um Beschwerden vorzubeugen, muss dieses Essen seinen Empfänger warm erreichen. Damit das funktioniert, haben wir an vier Stellen in der Stadt kleine Büros angemietet, in denen die Essen erhitzt werden, ehe meine Frauen es ausliefern. Ich mache diesen Job jetzt seit siebzehn Jahren. Ich habe als Fahrerin angefangen und mich hochgearbeitet, und es war meine Idee, das Aufwärmen zu dezentralisieren, weil das Stress, Zeit, Benzin und damit bares Geld spart. Vor drei Jahren hat Herr Wilden den Posten des Kreisgeschäftsführers übernommen. Nach ungefähr zwei Monaten kam er auf einmal in mein Büro geschneit und erzählte mir, er sei in den letzten zwei Wochen an insgesamt vier Tagen jeweils einer meiner Mitarbeiterinnen hinterhergefahren, und zwar in allen vier Fällen über die komplette Strecke. Mit einer Videokamera hatte er die gesamte Fahrt dokumentiert und anschließend mit der Stoppuhr ausgewertet. Dabei wollte er festgestellt haben, dass die von den Frauen genommenen Fahrtrouten unwirtschaftlich sind. Sie sollten doch an zentraleren Stellen parken und von da aus gleich mit drei oder vier Warmhalteboxen zu den Kundinnen laufen. Das würde sehr viel mehr Zeit sparen, meinte er.«
Als Tina Wittecker eine Pause folgen ließ, warf Alexandra augenzwinkernd ein: »Ich nehme an, Sie waren von seinen Vorschlägen ganz begeistert.«
»Ich bin aufgestanden, habe vier Boxen mit Fertigessen übereinandergestapelt und ihn aufgefordert, damit bis nach oben in sein Büro zu gehen. Nachdem er dann versucht hat, die vier Boxen ein paar Meter weit zu tragen, fiel ihm dann alles herunter und verteilte sich auf dem Fußboden. So viel zu seinem ach so schlauen Vorschlag!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Danach hat er mich weitgehend in Ruhe gelassen, von Kleinigkeiten abgesehen. Ich möchte meine Kollegen nicht um den Spaß bringen, Ihnen ihre schönsten Erlebnisse zu schildern, das dürfen die später gern selbst machen.« Nach einer kurzen Pause stutzte sie. »Wieso wollen Sie das eigentlich wissen?«
»Wir stellen ein paar Nachforschungen an, was die Umstände von Wildens Tod angeht«, erklärte Alexandra.
»Er ist im Übereifer im Dunkeln in den Brunnen gestürzt«, sagte Tina Wittecker schulterzuckend. »Wahrscheinlich wollte er feststellen, wie viel Wasser drin ist, um sich dann über den Pegel zu beschweren.«
»Sein Tod scheint Sie nicht sehr zu berühren«, stellte Tobias fest.
Tina Wittecker warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Sie haben doch gehört, was ich erzählt habe. Natürlich habe ich ihm nicht den Tod gewünscht, ich kann aber auch nicht behaupten, dass ich traurig bin, von jetzt an meine Ruhe vor ihm zu haben. Aber soweit ich weiß, hat dieser Polizist doch gesagt, dass es ein Unfall war, oder nicht?«
»Ja, doch er hat den Toten auch nicht genauer untersuchen können. Außerdem«, Alexandra wechselte einen raschen Blick mit Tobias, »haben wir verschiedene Äußerungen aus dem Kreis Ihrer Kollegen mitbekommen, die Zweifel an einem Unfalltod aufkommen lassen«, bluffte sie.
Tina Wittecker sah Alexandra mit zusammengekniffenen Augen an. »Was denn für Äußerungen? Und von wem?«
»Es waren … sagen wir … vage Äußerungen. Unter anderem sagte gestern Abend ein Mann, dass die ›einzige Möglichkeit‹ darin bestehen würde, Wilden ›für immer zum Schweigen zu bringen‹«, behauptete Alexandra aufs Geratewohl. »Und heute Morgen am Brunnen bekam ich am Rande die Bemerkung mit, jetzt sei irgendwer ja ›endlich am Ziel‹.«
»Und nicht zu vergessen die Bemerkung – sie stammte übrigens von einer Frau aus Ihrer Gruppe –, das sei wohl die Rache dafür, dass er ›die Zicke abgeschossen‹ hat«, ergänzte Tobias.
»Ist Ihnen darüber etwas bekannt?«, fragte Alexandra. »Hatte Herr Wilden ein Verhältnis mit einer seiner Mitarbeiterinnen?«
»Mit einer? Pah!« Tina lachte spöttisch. »Mit etlichen, wäre genauer formuliert. Aber ich weiß das nur vom Hörensagen …«
»Hatte er mit Ihnen auch ein Verhältnis?«, erkundigte sich Tobias geradeheraus.
In den Augen der rothaarigen Frau blitzte es zornig auf. »Sehe ich so aus?«
»Sie sind eine attraktive Frau, warum sollte er kein Interesse an Ihnen gehabt haben?« Tobias schenkte ihr ein charmantes Lächeln, das sie jedoch nur mit einem hochmütigen Blick quittierte.
»An mir haben ständig Männer Interesse und manchmal auch Frauen, aber das heißt nicht, dass ich auch leicht zu haben bin. Und bevor Sie auch noch einen Versuch wagen: Ich bin bereits vergeben.«
Alexandra seufzte leise. »Gibt es eine Kollegin, die eine Affäre mit Bernd Wilden hatte und nun einen Grund haben könnte, sich an ihm zu rächen?«
Tina Wittecker zuckte mit den Schultern. »Wilden hielt sich für unwiderstehlich, und auch wenn ich’s nicht beschwören kann, wird er sehr wahrscheinlich versucht haben, seine Machtposition auszunutzen. Also, es wurden in diesem Zusammenhang mal seine beiden Sekretärinnen erwähnt, Yasmin Tonger und Regina Drach. Die beiden mussten ihn häufig auf Dienstreisen oder zu Kongressen begleiten, und was sich da in den Hotelzimmern abgespielt hat, das wissen nur die drei und der liebe Gott. Das haben Sie aber nicht von mir, damit das klar ist. Wenn Sie nachher die beiden zur Rede stellen und mich da reinziehen, werde ich alles abstreiten.«
»Und was ist mit der Bemerkung, dass da irgendwer jetzt ›am Ziel‹ angekommen sei?«, fragte Tobias. »Gibt es jemanden, der von Wildens Tod profitiert?«
Die Frau überlegte kurz. »Sein Assistent Kurt Assmann könnte den Posten ›erben‹; er darf als sein Stellvertreter fungieren. Und dann natürlich die Damen und Herren Groß, Dessing und Kramsch … und eventuell noch der Wiesmann.«
»Und wieso?« Alexandra notierte sich die Namen auf einem kleinen Block.
»Die leiten seit Jahren die drei wesentlichen Bereiche des Verbands: Verwaltung, Rettungsdienst, Soziale Dienste. Und Wiesmann hat die Finanzen unter sich. Eigentlich waren sie alle im Gespräch für die Nachfolge des vorangegangenen Kreisgeschäftsführers. Aber dann hat sich Wilden mit einer Klage wegen Ungleichbehandlung zu Wort gemeldet und den Vorstand so beeindruckt, dass der sich für ihn entschieden hat.«
»Er hat seine Einstellung eingeklagt?« Alexandra sah die Frau verdutzt an. »Das nenne ich ja einen guten ersten Eindruck.«
»Nein, er hat nicht geklagt, er hat nur damit gedroht. Sein Argument war, dass er als einziger Bewerber von außen keine Chance habe gegen die vier internen Kandidaten, und deswegen sei es diskriminierend, ihn nicht einzustellen.« Tina Wittecker verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. Ihre Augen blitzten. »Er hatte den Vorstand in eine Zwickmühle manövriert, aus der es keinen anderen Ausweg gab als seine Einstellung.«
»Der Vorstand hätte doch ein paar Außenstehende bitten können, sich zum Schein zu bewerben, dann wäre Wilden mit seiner Drohung gegen die Wand gelaufen«, wandte Tobias ein.
»Ich weiß, und das sagen auch alle anderen. Vielleicht hatte er ja irgendetwas gegen den Vorstand in der Hand, mit dem er die Leute erpressen konnte, keine Ahnung.«
»Na ja, es wäre nicht das erste Mal, dass Spendengelder veruntreut wurden«, gab Alexandra zu bedenken. »Und wenn Wilden davon Wind bekommen hatte …« Sie sah zu Tobias, dann wandte sie sich wieder an die rothaarige Frau. »Vielen Dank, Frau Wittecker, Sie haben uns sehr geholfen, und ich versichere Ihnen, dass wir die Informationen vertraulich behandeln werden.«
»Danke. Notfalls können Sie ja behaupten, Sie hätten das auch alles bei irgendeiner Gelegenheit zufällig mitangehört«, sagte sie mit einem bedeutungsvollen Augenzwinkern, dann nickte sie knapp und schloss die Tür zu ihrem Zimmer auf.
Schweigend gingen Alexandra und Tobias den Korridor entlang. Erst als sie um die nächste Ecke gebogen waren, sagte er auf einmal: »Weißt du, was ich nie verstehe?«
»Warum du immer einen Korb bekommst?«
»Sehr witzig. Nein, ich frage mich, warum sich eine Frau wie diese Wittecker so aufreizend kleidet, wenn sie doch längst vergeben ist. Die Bluse ist zwei Nummern zu eng. Dann diese knallenge Hose, dazu das Make-up. Und dann wundert sie sich, dass sie von Männern angequatscht wird … und sogar von Frauen.«
Alexandra schüttelte den Kopf. »Ich glaube, sie wundert sich gar nicht, sondern wartet nur darauf. Sie ist dieser Typ, der ständig Bestätigung sucht. Sie braucht die bewundernden Blicke der Männer und die neidischen der Frauen, dann fühlt sie sich gut. Sie möchte auf keinen Fall übersehen werden. Wir haben da mal eine Untersuchung in Auftrag gegeben, und die hat was Interessantes ergeben. Sechs von zehn Frauen, die von männlichen Testpersonen aus unterschiedlichen Altersgruppen ausnahmslos als besonders gut aussehend beurteilt wurden, gaben an, dass sie sich aufreizend kleiden, um beachtet zu werden, aber nicht, um den nächstbesten Mann abzuschleppen, der sich für sie interessiert. Sie wollen einfach wahrgenommen werden. Nur dann fühlen sie sich schön.«
»Probleme haben die!«, murmelte er.
»Möchtest du auch was über die Studie wissen, die wir drei Ausgaben später nachgelegt haben? Warum sich gut aussehende Männer wie balzende Gockel verhalten, wenn die Frauen sich doch eigentlich von selbst auf sie stürzen müssten?«
Er winkte hastig ab. »Danke, kein Bedarf. Das betrifft mich ja nicht, und dann hab ich dazu auch keinen Bezug.«
»Wer’s glaubt«, sagte Alexandra lachend und schaute sich um, als sie das Foyer erreichten. »Wo ist eigentlich Kater Brown?«
»Da draußen.« Tobias zeigte durch die offen stehende Tür nach draußen. »Der Herr hält Siesta.«
Der Kater hatte sich in der Nähe des Brunnens auf den Boden gelegt, der von der Sonne aufgeheizt wurde, und döste vor sich hin. Als Alexandra und Tobias aus dem Gebäude kamen, drehte er das rechte Ohr in ihre Richtung und lauschte aufmerksam, dann hob er den Kopf und blinzelte sie beide an.
Alexandra zwinkerte ihm zu, ohne mit einer Reaktion des Tieres zu rechnen. Doch gleich darauf setzte der Kater zu einem Miauen an, das aber bald in ein ausgiebiges Gähnen überging. Dann stand er auf, streckte jede Pfote einzeln und machte einen Buckel. Nachdem er sich noch kräftig geschüttelt hatte, um sich von dem Staub zu befreien, der an seinem Fell hängen geblieben war, folgte er Alexandra und Tobias zum Parkplatz.
»Bist du irgendwie nervös?«, wollte Tobias wissen, dem nicht entgangen war, dass Alexandra sich immer wieder zu Kater Brown umdrehte.
»Der Kater läuft uns nach, und ich finde es nicht gut, dass er uns auf den Parkplatz folgt. Wenn wir gleich losfahren, kann ich nicht sehen, ob er vielleicht irgendwo unter meinem Wagen sitzt.«
»Ach, komm schon! Der Bursche hat sich bislang so intelligent angestellt, da wird er nicht so dumm sein und sich unter ein anfahrendes Auto setzen. Notfalls kann ich ja auch aufpassen, bis du aus der Lücke gefahren bist.«
Alexandra sah ihn überrascht an. Zum ersten Mal spürte sie so etwas wie Sympathie. Dann kramte sie in ihrer Tasche nach Wildens Porsche-Schlüssel, den Bruder Johannes ihnen ausgehändigt hatte. »Wenn wir schon einmal hier sind, können wir auch gleich einen Blick in Wildens Wagen werfen. Vielleicht finden wir ja irgendetwas, das uns weiterhilft.«
Gesagt, getan. Nachdem sie die Ablagefächer, das Handschuhfach und den Kofferraum des Geländewagens durchsucht hatten, gab Alexandra einen entmutigten Laut von sich. »Fehlanzeige.«
»Mist. Heute Morgen in der allgemeinen Aufregung um Wildens Verschwinden habe ich kurz einen Blick in sein Zimmer werfen können. Es wirkte peinlichst aufgeräumt. Und mir ist nichts Verdächtiges aufgefallen. Vielleicht sollten wir uns nach dem Mittagessen aber trotzdem mal dort nach seinem Laptop umsehen. Mit etwas Glück bringt der uns weiter. Und wenn Wilden wichtige Unterlagen bei sich hatte, hat er die doch bestimmt auch in seinem Zimmer verwahrt …« Tobias drehte sich um und betrachtete das Kloster, das inmitten der grünen Landschaft ein friedliches Bild bot. Nichts deutete darauf hin, dass sich hier ein brutaler Mord abgespielt haben könnte. »Auch Wildens Handy wäre interessant.«
»Sollten wir das nicht besser jetzt erledigen?«, fragte sie. »Nicht, dass der Täter irgendwelche Beweise verschwinden lässt.«
»Ich glaube nicht, dass der Mörder jetzt erst auf die Idee kommt, belastendes Material beiseitezuschaffen. Wenn, dann hat er das gestern gleich nach der Tat erledigt. Und wenn wir davon ausgehen, dass der Täter unter Wildens Mitarbeitern zu suchen ist, haben wir im Augenblick auch nichts zu befürchten. Also ist es egal, ob wir sein Zimmer eine Stunde früher oder später auf den Kopf stellen.«
Alexandra nickte nachdenklich. »Wenn du meinst … Okay, dann fahren wir erst nach Lengenich und essen zu Mittag, danach sehen wir weiter.«
Als sie zu ihrem Wagen gingen, folgte Kater Brown ihnen ganz selbstverständlich. Er sah zu, wie Alexandra die Fahrertür aufschloss, einstieg und sich über den Sitz beugte, um die Beifahrertür zu öffnen. Diesen Moment nutzte er, um mit einem großen Satz auf Alexandras Schoß zu springen.
»He!«, rief sie. »Was soll denn das?« Doch der Kater schien das als Einladung aufzufassen, drehte sich zweimal im Kreis und rollte sich auf Alexandras Oberschenkeln zusammen.
»Nein, nein, das geht nicht«, entschied sie und versuchte, das Tier hochzuheben und aus dem Wagen zu setzen. Aber sofort fuhr der Schlawiner die Krallen aus und bohrte sie in den Stoff ihrer Jeans. »Autsch, hör auf damit!« rief sie, doch Kater Brown dachte gar nicht daran.
»Na, seid ihr zwei ausnahmsweise einmal nicht einer Meinung?«, neckte Tobias sie und schmunzelte.
Alexandra konnte seine Erheiterung im Augenblick nicht teilen und fauchte: »Wie wär’s, wenn du dich mal nützlich machst und ihn mir vom Schoß nimmst?«
Vorsichtig streckte Tobias die Hände nach dem Kater aus. Dann passierte alles ganz schnell: Irgendwie gelang es Kater Brown, sich dem Griff zu entwinden und mit einer Pfote auszuholen. Zack! Auf Tobias’ rechtem Handrücken prangten drei blutende Kratzer.
»Na, das hast du ja fein hingekriegt, Freundchen«, grummelte er und nahm dankbar das Taschentuch an, das Alexandra ihm hinhielt.
»Ich würde dir ja auch ein Pflaster geben oder einen Verband anlegen«, sagte sie, »aber dafür müsste ich aussteigen, und das lässt Kater Brown ganz offenbar nicht zu.«
Tobias winkte ab. »Ist halb so schlimm.« Er beugte sich vor, um Alexandra anzusehen. »Noch einen Versuch, dieses Untier hochzunehmen, unternehme ich nicht. Dein Kater scheint fest entschlossen zu sein, mit dir Auto zu fahren, also gönn ihm das Vergnügen!«
»Erstens ist er nicht mein Kater …«
»Unsinn, so wie ihr euch benehmt, scheint ihr euch gesucht und gefunden zu haben. Also akzeptier es einfach, dass du jetzt einen Kater hast.«
»Er gehört doch ins Kloster. Die Mönche hätten bestimmt etwas dagegen, wenn ich ihn mit nach Hause nehmen wollte. Besonders Bruder Johannes scheint an ihm zu hängen …« Als sie den Kater jedoch betrachtete, der sie ruhig anblinzelte, musste sie wider Willen lachen. »Na, großartig, du hast also beschlossen, dich ein wenig von mir chauffieren zu lassen. Da will ich mal nicht so sein.«
Nachdem Alexandra den Wagen gestartet hatte, berichtete sie Tobias von der Unterhaltung mit den beiden Mönchen. »Egal, ob es etwas mit Wildens Tod zu tun hat oder nicht: Irgendetwas geht hier hinter den Kulissen vor, wovon nicht mal Bruder Johannes etwas weiß. Diese Story mit der vertauschten Bettwäsche kann ich Bruder Siegmund und Bruder Dietmar nicht abnehmen. So richtig passt die Geschichte auch nicht zu dem Tonfall, in dem die beiden zuvor miteinander geredet haben. Aber mir will nichts in den Sinn kommen, was die beiden Mönche in Wahrheit gemeint haben könnten.«
»Hältst du es für möglich, dass ein paar von ihnen mit Abt Bruno gemeinsame Sache gemacht haben könnten?«
Alexandra warf Tobias einen flüchtigen Seitenblick zu. »Hm, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Möglich wäre es, aber …« Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nur … was hätten sie davon? Ich meine, wenn der Abt einigen Mönchen etwas von den unterschlagenen Millionen abgegeben hätte, weil sie ihm in irgendeiner Weise bei seinen Gaunereien geholfen hätten, was sollten sie dann jetzt mit dem Geld anfangen? Sie können sich nichts Besonderes kaufen, sonst würden sie sich ja selbst entlarven.«
»Vielleicht versuchen sie, sich damit unauffällig abzusetzen«, gab Tobias zu bedenken. Mit einem leisen Lachen fuhr er fort: »Ist schon witzig. Da denkt man, man befindet sich an einem Ort, an dem die christlichen Werte noch hochgehalten werden, und dann stößt man in Wahrheit überall auf geheime Machenschaften. Möchte wissen, ob so was in anderen Klöstern auch an der Tagesordnung ist.«
Alexandra hob die Schultern. »Ich glaube, überall, wo Menschen in einer Gemeinschaft leben, gibt es Intrigen und heimliche Absprachen. Und vor persönlicher Gewinnsucht sind nur die wenigsten gefeit.« Sie passierten die Stelle, die am Vortag gesperrt gewesen war, und parkten den Wagen kurz darauf auf dem Parkplatz neben Angelikas Wirtschaft.
Kaum hatte Alexandra den Motor abgestellt, stand Kater Brown auf und miaute auffordernd, als wartete er nur darauf, aussteigen zu dürfen. Es gefiel Alexandra gar nicht, den Kater in einer fremden Umgebung frei laufen zu lassen. Was, wenn er plötzlich doch auf die Idee kam wegzulaufen? Er würde sicher nie mehr zum Kloster zurückfinden. Andererseits schien das Tier entschlossen zu sein, bei ihr zu bleiben, und Alexandra war nicht erpicht darauf, auch mit Kater Browns Krallen nähere Bekanntschaft zu machen.
Zögerlich öffnete sie die Tür und rechnete mit dem Schlimmsten, doch der Kater lief nur ein paar Schritte weit, dann blieb er stehen und drehte sich zu ihr um. Nun komm schon!, schien der Blick aus glänzenden grünen Augen zu sagen. Seufzend kam sie der stummen Aufforderung nach und ging zum Kofferraum, um die Plastiktüte herauszuholen, in der sich Wildens Habseligkeiten befanden.
»Was hast du damit vor?«, erkundigte sich Tobias, der ein Stück entfernt stehen blieb und zusah, wie Kater Brown zu Alexandra schlenderte und den Kopf an ihren Beinen rieb. Unwillkürlich musste er grinsen, als sie den Kater hochnahm und ihn sich wie zuvor halb über die Schulter legte.
»Während wir aufs Essen warten, können wir diese Sachen einmal genauer unter die Lupe nehmen. Vielleicht finden wir ja irgendetwas Nützliches.« Sie stutzte und musterte ihn ein wenig irritiert. »Was grienst du so? Dir brennt doch schon wieder was auf der Seele …«
»Ach, nichts weiter«, meinte er belustigt. »Du tust immer so selbstbestimmt. Dabei hat der kleine Gauner dich nach kürzester Zeit im Griff. Er macht dir vor, dass er ganz vernarrt in dich ist, und schon tanzt du nach seiner Pfeife. Merkst du nicht, dass er nur zu faul ist, selbst zu laufen?«
Alexandra winkte ab. »Er macht mir das nicht vor, er mag mich wirklich.«
Gerade wollten sie die Tür zum Lokal öffnen, da wurde sie von innen aufgezogen und die Wirtin trat nach draußen. In einer Hand hielt sie ein paar Zettel, in der anderen einen Tesafilm-Abroller. »Oh, hallo«, sagte sie, als sie Alexandra erkannte. Dann legte sie den Kopf schräg und fragte: »Sie wissen, dass Sie da was auf der Schulter haben, oder?«
Alexandra nickte. »Das ist mein treuer Begleiter. Darf er mit hereinkommen?«
Angelika stutzte. »Wer ist Ihr Begleiter? Das schwarze Etwas oder der gut aussehende junge Mann an Ihrer Seite?«
»Nein, nein, Tobias Rombach ist mir nur zugelaufen.« Alexandra zwinkerte der Wirtin fröhlich zu. »Wenn sich bis morgen sein Besitzer nicht gemeldet hat, werde ich den Ärmsten wohl ins Heim bringen müssen.«