2. Kapitel

Alexandra folgte dem Verlauf der asphaltierten Straße, die zwischen Bäumen und Feldern hindurch bergauf führte und immer steiler anstieg. Schließlich schlängelte sie sich in Serpentinen durch einen Wald auf die andere Seite der Anhöhe. Von hier hatte Alexandra einen herrlichen Blick auf das Tal dahinter. Ein schmaler Bach plätscherte zwischen saftig grünen Wiesen dahin, auf denen ein paar Kühe und Pferde zufrieden grasten.

Noch einmal beschrieb die Straße eine Linkskurve, und dann auf einmal erhob sich vor Alexandra das von der Mittagssonne beschienene Kloster. Das Erste, was einem Betrachter auffiel, war die Schlichtheit des Gebäudes, die für ein Kloster selbstverständlich war, nicht jedoch für ein Hotel. Aber es war gerade dieses Dezente, Verhaltene, was Alexandra so beeindruckte.

Das Hauptgebäude bestand aus einem breiten Bauwerk mit weiß gestrichener Front. Ein dunkles Satteldach saß auf dem ersten Stockwerk; auf dem rechten Trakt ragte ein romanischer Glockenturm in die Höhe. Die grünen Läden an den recht kleinen Fenstern waren geöffnet. Rechts des Klosters konnte sie eine ebenso schlichte Kapelle erkennen, die von einem Bauzaun umgeben war.

Was sich hinter dem Hauptgebäude befand, war von Alexandras Position aus nicht auszumachen, aber nach den Fotos zu urteilen, die sie gesehen hatte, gab es dort noch etliche Nebengebäude. Die Straße verlief an dem Bauwerk vorbei ins Tal, doch kurz bevor sie wieder abschüssig wurde, zweigte ein Feldweg in Richtung Kloster ab, der auf einen Platz mit einem kunstvollen alten Brunnen führte. Links davor befand sich ein weitläufiger Parkplatz, der den Eindruck erweckte, als hätte man ihn erst vor Kurzem auf einem Stück Weideland angelegt. Mehrere Autos sowie ein Bus waren dort abgestellt worden, was darauf hindeuten mochte, dass das Hotel gut ausgelastet war. Vielleicht hatte aber auch nur eine Reisegruppe auf dem Weg durch die Eifel hier eine Rast eingelegt, um zu Mittag zu essen.

Alexandra hielt diese Beobachtung mit ihrem Diktiergerät fest, nachdem sie ihren Wagen auf dem Parkplatz abgestellt hatte. Als sie ausstieg, drückte sich der Kies durch die dünnen Sohlen ihrer Schuhe. Sie holte die Reisetasche aus dem Kofferraum und ging den Weg entlang, bis sie den schätzungsweise dreißig Meter entfernten Eingang erreicht hatte. Die Mittagssonne brannte ihr auf den Rücken; die Wärme wurde jedoch durch einen leichten Wind gelindert. Von der Weide auf der anderen Seite der Landstraße klang das Muhen von Kühen herüber. Ein Meisenpärchen flog laut zwitschernd dicht über Alexandras Kopf hinweg.

Die schwere Eingangstür war aus massiver Eiche und musste nach außen aufgezogen werden. Alexandra musste unwillkürlich an einen der Texte im Prospekt denken, mit dem für das Klosterhotel geworben wurde. Erfahren Sie sich selbst und die Kraft, die in Ihnen steckt!, hieß es dort.

Im Foyer fand der schlichte Stil seine Fortsetzung, da es in dem quadratischen Raum lediglich einen Holztresen und eine Sitzgruppe aus Korbmöbeln gab, die nur einer Hand voll Gäste Platz bot. Die Wände schmückten einige Ölbilder mit bekannten Eifeler Motiven. Hinter dem Tresen hingen ein großes Schlüsselbrett und eine Wandtafel mit farbigen Steckkarten, die vermutlich Auskunft über die Belegung der Zimmer gaben. Diese eigentlich vorsintflutlich anmutende Tafel erfüllte jedoch wahrscheinlich ihren Zweck genauso wie ein aufwendiges Computerprogramm.

Alexandra durchquerte das recht kleine Foyer und tippte mit der flachen Hand auf die Glocke, die auf dem langen Tresen stand. Eine Fliege, die offenbar auf der abgewandten Seite auf der Glocke gesessen hatte, flog summend auf und suchte sich irgendwo einen ruhigeren Platz. Gleich darauf wurde eine Tür geöffnet, die in ein Büro hinter dem Empfang führte. Ein hochgewachsener, kräftiger Mann Ende zwanzig mit kurz geschnittenem blondem Haar kam nach vorn. Er trug eine dunkelbraune Mönchskutte, um die Taille lag ein grobes Hanfseil.

»Guten Tag und herzlich willkommen im Klosterhotel ›Zur inneren Einkehr‹! Mein Name ist Bruder Andreas. Was kann ich für Sie tun?« Die Begrüßungsformel kam ihm so leicht über die Lippen, als hätte er sie allein in der letzten Stunde schon zwanzig Mal gesagt.

»Für mich wurde ein Zimmer reserviert. Entweder auf den Namen Alexandra Berger oder auf den der Redaktion, für die ich arbeite: Traveltime. Ich bin hier, um für unser Reisemagazin einen Artikel über Ihr Hotel zu schreiben.«

»Aha.« Bruder Andreas hatte offenbar nur mit halbem Ohr zugehört. »Einen Augenblick, ich muss das erst heraussuchen.« Er blätterte in einem ausladenden querformatigen Buch. »Traveltime? Ist das die Verlagsgruppe DNK?«

»Ja, richtig.«

»Oh, dann haben wir …«, begann er, kam aber nicht weiter, da in diesem Moment eine Tür links neben dem Tresen aufgerissen wurde und ein Mann ins Foyer stürmte, der gut einen halben Kopf kleiner war als Alexandra. Er trug einen leuchtend roten Trainingsanzug, der ihm etwas zu weit war und der den Eindruck erweckte, als hätte er ihn eben erst gekauft und gleich anbehalten. Sein mittelbraunes Haar trug der Mann ordentlich gescheitelt, was ihn etwas jünger erscheinen ließ. Dennoch schätzte Alexandra ihn auf Mitte vierzig.

»Sagen Sie mal, wie lange soll ich denn noch darauf warten, dass der Kurier eintrifft?«, fuhr er Bruder Andreas an und schob sich vor Alexandra.

»Herr Wilden«, erwiderte der Mönch in einem Tonfall, der deutlich machte, dass er sich mit aller Macht beherrschen musste, um ruhig und freundlich zu bleiben. »Ich sagte Ihnen doch bereits, ich rufe Sie an, sobald der Kurier das Päckchen für Sie abgegeben hat.«

»Bislang haben Sie mich aber nicht angerufen!«

»Bislang ist der Kurier auch noch nicht hier gewesen«, gab der jüngere Mann zurück, wobei es ihm nun sichtlich schwerfiel, seine Gereiztheit zu verbergen. Offenbar kennt auch die Geduld eines Mönchs ihre Grenzen, überlegte Alexandra und bemühte sich, ein Schmunzeln zu unterdrücken.

»In welchem Ton reden Sie eigentlich mit mir?« Der Mann namens Wilden erhob die Stimme und schlug mit der flachen Hand auf den Tresen, woraufhin sich Bruder Andreas zu seiner vollen Größe aufrichtete und den Wüterich vor dem Tresen nun um mehr als einen Kopf überragte. »Und überhaupt: Der Kurier ist noch nicht da gewesen! Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, oder was?«

Dürfte für Bruder Andreas keine Schwierigkeit sein, dachte Alexandra. Laut sagte sie jedoch: »Entschuldigen Sie, aber ich war gerade im Begriff einzuchecken. Wenn Sie so freundlich wären …«

Wilden drehte sich ruckartig zu ihr um und kniff die Augen zusammen, als bemerkte er sie erst jetzt. »Schön, dass Sie sich bei mir entschuldigen«, knurrte er. »Wenigstens einer hier weiß, wie man sich benimmt.« Dabei warf er dem Mönch hinter dem Tresen einen missbilligenden Blick zu. »Und Sie …«

»Augenblick mal«, beschwerte sich Alexandra, die sich so nicht behandeln lassen wollte. »Ich stehe hier, um einzuchecken, und wenn Sie eine Beschwerde haben, dann warten Sie bitte schön, bis Sie an der Reihe sind.«

Der Mann schüttelte verständnislos den Kopf. »Sie werden doch noch fünf Minuten warten können, oder nicht? Ich erwarte einen Kurier, der mir äußerst wichtige Unterlagen bringt, und …«

»Und der noch nicht eingetroffen ist, wie ich eben gehört habe. Also sind Sie derjenige, der im Augenblick warten muss.«

»Hören Sie, Frau … wie auch immer Sie heißen. Ich weiß nicht, ob Ihnen das Laurentius-Hilfswerk in Kaiserslautern ein Begriff ist, aber ich bin der Kreisgeschäftsführer dieser Einrichtung, und auch wenn ich nicht im Büro bin, laufen die Geschäfte weiter.«

»Das mag ja sein«, erwiderte sie, »doch offenbar läuft jetzt erst mal nichts, solange Ihr Kurier Ihnen nicht die Unterlagen gebracht hat. Sie können die Zeit vielleicht nutzen und einen Spaziergang an der frischen Luft unternehmen. Möglicherweise kommt Ihnen ja dann Ihr heiß ersehnter Kurier entgegen.«

»Für wen halten Sie sich, dass Sie mir Vorschriften machen wollen?«, fauchte Wilden.

»Für die Frau, die vor Ihnen an der Reihe ist. Lassen Sie mich also jetzt bitte einchecken!«

Wilden schaute sie ungläubig an. Dann zuckte er mit den Schultern und drehte sich wieder zum Empfang um. »Sagen Sie mir sofort Bescheid, wenn der Bote kommt, verstanden?«

Bruder Andreas nickte nur und blätterte angelegentlich im Gästebuch vor sich.

»Hach!«, machte Wilden, warf die Arme in die Luft und verließ mit stampfenden Schritten das Foyer.

Alexandra stellte sich wieder an den Tresen. »Nettes Kerlchen«, bemerkte sie.

»Tut mir leid«, begann der Mönch. »Aber Bernd Wilden ist … er ist mit einer größeren Gruppe hier, und … ich wollte ihn nicht verärgern …« Hilflos hob er die Schultern. »Wissen Sie, dieser Herr Wilden macht mich einfach rasend … und nicht nur mich.« Der Mönch wollte weitersprechen, aber dann verstummte er abrupt. »Bitte entschuldigen Sie, ich habe mich soeben völlig vergessen. Ich kann mich doch nicht bei Ihnen über einen anderen Gast beklagen.« Er grinste schief. »Sagen Sie, könnten Sie noch mal reinkommen und dabei so tun, als wären Sie noch nie hier gewesen? Ich glaube nämlich, wenn Sie Ihren Artikel nach dem ersten Eindruck schreiben, den Sie von mir bekommen haben, dann werden wir das Hotel demnächst schließen müssen, weil dann niemand mehr hier ein Zimmer bei uns haben will.« Wieder zuckte er mit den Schultern. »Das ist alles noch so neu für mich … Ich bin ins Kloster gegangen, um dem Herrn zu dienen, aber nicht, weil ich Pförtner spielen wollte. Ich … ich habe mich daran noch nicht richtig gewöhnt.«

Sie lächelte ihn aufmunternd an. »Schon gut, machen Sie sich keine Sorgen! Fangen wir also einfach noch mal von vorn an! Für mich ist ein Zimmer reserviert worden, entweder auf Alexandra Berger oder auf Traveltime oder auf die Verlagsgruppe DNK.«

Bruder Andreas nickte. »Verlagsgruppe DNK … hier ist es.« Er nahm ein farbiges Kärtchen aus einer Schachtel und steckte es an die Tafel, um das belegte Zimmer zu markieren. Plötzlich stutzte er. »DNK? Ach, dann gehören Sie zu dem anderen Gast, nicht wahr?«

»Zu welchem anderen Gast?«, fragte sie und versuchte, den Eintrag in dem Buch zu entziffern, in dem Bruder Andreas die Reservierung nachgeschlagen hatte.

»Ich meine Herrn Ro …« Weiter kam er nicht, da in diesem Moment eine männliche Stimme ertönte.

»Alexandra? Alexandra Berger! Da bist du ja!«

Alexandra erstarrte, denn sie hatte die Stimme sofort erkannt. Nein, dachte sie. Bitte nicht! Nicht Tobias Rombach! Ganz langsam, als könnte sich ihre Vermutung doch noch als Irrtum entpuppen, wandte sie den Kopf. Aber das Schicksal meinte es heute offenbar gar nicht gut mit ihr.

In der Tür, die aus dem Foyer tiefer ins Kloster hineinführte, stand ein Mann, den sie nur allzu gut kannte. Er war in etwa so groß wie Alexandra, von schlanker Statur und dunkelhaarig, und rein objektiv betrachtet hätte man ihn durchaus als gut aussehend bezeichnen können. Alexandra fand jedoch, dass ihm das gewisse Etwas fehlte. Besonders nervig war aber die Machodenkweise, die seinen Verstand fest im Griff hatte.

»Tobias?«, fragte sie. »Wieso bist du hier?«

Tobias Rombach kam auf sie zu und streckte die Arme aus, als wollte er sie wie eine gute alte Freundin an sich drücken. Bevor er ihr zu nahe kommen konnte, streckte sie ihm die Hand entgegen, ergriff die seine und schüttelte sie.

»Ich soll für unser Magazin BMI einen Artikel über das Klosterhotel schreiben«, antwortete er. »Herr Hütter war der Ansicht, wenn wir schon beide über die ›Innere Einkehr‹ schreiben, dann wäre es sinnvoller, wenn wir zur gleichen Zeit hier übernachten. So recherchieren wir sozusagen unter denselben ›Bedingungen‹.«

Alexandra nickte nachdenklich. Grundsätzlich war das ein Argument, dem sie nicht widersprechen konnte. Eine Reisereportage war genauso wie eine Restaurantkritik immer nur eine Momentaufnahme, in die unendlich viele Faktoren einflossen. Man musste nur an zwei aufeinanderfolgenden Tagen in einem Lokal essen, und es konnten zwei völlig verschiedene Kritiken dabei herauskommen. Allerdings wusste sie auch, dass Florian Hütter, ihr Chefredakteur, ein ehemaliger Studienfreund von Tobias war, was der bekanntlich gern mit der Formulierung »Herr Hütter« zu verschleiern versuchte, wenn er einen lukrativen Auftrag ergattert hatte. Das hier war aber weder lukrativ, noch lag ein Urlaub in einem Kloster auf Tobias’ Linie, also konnte dem Ganzen nur ein anderes Motiv zugrunde liegen. Und über dieses Motiv brauchte Alexandra auch gar nicht lange zu rätseln: Tobias hatte bei diesem Auftrag wieder einmal die Gelegenheit gewittert, sich an sie heranzumachen! Und da war es für ihn wahrscheinlich ein Leichtes gewesen, Hütter entweder mit einem Pseudoargument oder mit der Wahrheit davon zu überzeugen, beim Chefredakteur von BMI ein gutes Wort für ihn einzulegen.

»Und wieso wollt ihr eure Manager ausgerechnet in dieses Kloster schicken?«, fragte sie. »Die stehen doch bekanntlich gar nicht auf Bescheidenheit.«

»Womit du den Beweis geliefert hast, dass du gar nicht weißt, wofür unser Magazin steht«, hielt Tobias triumphierend dagegen. »Es geht nicht immer nur darum, den starken Mann von Welt zu mimen. Genauso wichtig ist, dass man zwischendurch auch mal die Seele baumeln lässt und sich Urlaub vom Alltag nimmt.«

Während er redete, verdrehte sie Augen. Wie oft hatte sie solche und ähnliche Floskeln schon gehört! Doch Tobias ließ sich nicht beirren.

»Und genau das kann man hier machen. In der ›Inneren Einkehr‹ erfährt man Ruhe und kann neue Energie tanken, hier …«

»Ja, ja, schon gut, ich habe verstanden«, unterbrach sie ihn, da er offenbar mit seiner Litanei noch lange nicht am Ende war. »Ihr habt mit zwanzig Jahren Verspätung die New-Age-Philosophie entdeckt. Meinen Glückwunsch.«

»Spotte du nur!«, brummte Tobias. »Du willst ja bloß nicht zugeben, dass ich recht habe.«

Bruder Andreas nutzte die Redepause, die entstanden war. »Wenn Sie sich bitte hier eintragen würden, Frau Berger. Ich sage Bruder Jakob Bescheid, damit er Sie zu Ihrem Zimmer bringt.« Er schob Alexandra etwas hin, das sie stutzig werden ließ. Es war ein Tablet-PC, der in einer Hülle aus hartem, dunkelbraunem Leder steckte, was ihm etwas eigenartig Rustikales verlieh. Auf dem Display war ein Formular zu sehen, in das sie mit dem Stift, den der Mönch ihr hinhielt, ihre Personalien eintragen konnte. Sie begann, in Druckbuchstaben zu schreiben, und bevor sie ihrer Verwunderung über dieses moderne Gerät, das so gar nicht zum Ambiente zu passen schien, Ausdruck verleihen konnte, bemerkte Tobias:

»Ach, lassen Sie nur, Bruder Andreas! Ich kann Alexandra auch ihr Zimmer zeigen. Da müssen wir Bruder Jakob nicht aus seinem wohlverdienten Schlaf reißen.«

»Bruder Jakob aus dem Schlaf reißen?«, wiederholten der Mönch und Alexandra gleichzeitig.

»Na, kommt schon, Leute«, sagte Tobias und grinste breit. »Ihr kennt doch dieses Kinderlied … ›Bru-der Ja-kob, Bru-der Ja-kob, schläfst du noch?‹«

Alexandra richtete gequält den Blick zur Zimmerdecke. »Du bist dir auch für keinen Kalauer zu schade, wie?«

Tobias nahm diese Frage mit einem gelassenen Schulterzucken hin. »Solange meine Trefferquote insgesamt stimmt, kann ich damit leben, dass der eine oder andere Gag ins Leere läuft.«

»Und wo liegt deine Quote? Bei fünf Prozent? Oder eher darunter?«, konterte sie und hörte, wie der Mönch am Empfang zu kichern begann. Dann riss er sich wieder zusammen und hielt Alexandra den Schlüssel hin, an dem ein klobiger Plastikklotz hing, auf dem die Zimmernummer vermerkt war. Sie stutzte angesichts der eigenartigen Design-Mixtur. Nach dem Tablet-Computer hätte sie eigentlich mit einer Codekarte gerechnet, aber offenbar war die Klostertechnik doch noch nicht ganz in der Gegenwart angekommen. Andererseits hatte dieser Schlüssel etwas Urtümliches und seltsam Skurriles an sich, das in Alexandra nostalgische Erinnerungen an ihre Urlaube mit den Eltern weckte.

»Danke«, sagte sie und bückte sich, um nach ihrer Reisetasche zu greifen. Tobias kam ihr jedoch zuvor und nahm die Tasche an sich.

»Komm, lass mich dir helfen!«, meinte er, und Alexandra schluckte den Widerspruch, der ihr auf der Zunge lag, hinunter.

Sie verließen das Foyer durch die Tür, durch die Tobias eben eingetreten war, und gelangten in einen recht schmalen, schnurgeraden Gang. Die Wände waren weiß gestrichen. Schmucklose Wandlampen sorgten für die nötige Helligkeit. Auf der linken Seite fanden sich mehrere geschlossene Türen, die keine Nummer aufwiesen. Wahrscheinlich handelte es sich bei diesen Räumen also nicht um Gästezimmer.

»Hier lang«, sagte Tobias und bog mit ihr nach rechts in einen noch längeren Gang ein, der quer durch das Kloster zu verlaufen schien.

Im Inneren des alten Gemäuers war es angenehm kühl. Zwei Mönche kamen ihnen entgegen, die ihnen freundlich zunickten und sich an die rechte Wand drückten, um sie passieren zu lassen.

»Und jetzt nach links«, ließ Tobias verlauten, als sie am Ende dieses Gangs angelangt waren.

Alexandra fiel mit einem Mal etwas ein. »Du, ich habe eben deinen Wagen gar nicht gesehen. Oder gibt es hier noch einen zweiten Parkplatz?«

»Nein, nein.« Er winkte ab. »Ich habe auf dem Rückweg von Portugal einen kleinen Abstecher hierher gemacht. Ich bin über Frankfurt nach Luxemburg geflogen und von da mit einem Mietwagen weitergefahren, so einem winzigen Fraueneinkaufsauto …«

»Fraueneinkaufsauto?«, wiederholte Alexandra und kniff gereizt die Augen zusammen. »Warum hast du denn den Wagen überhaupt genommen, wenn er dir nicht gut genug ist? Oder wollte man dir nichts mit mehr PS anvertrauen?«

»Es gab nichts anderes mehr«, stellte er klar. »Außerdem geht es mir nicht um die PS, von denen dieser Polo im Übrigen genug hat. Ich habe nur lieber etwas mehr Platz im Wagen.«

»Ja, klar.« Sie grinste breit. »Du musst ja bequem deine Einkäufe aus dem Baumarkt und ein paar Kästen Bier verstauen können.«

»Sagt die Frau, die selbst einen protzigen Audi fährt!«

»Ein Audi, der fast dreißig Jahre auf dem Buckel hat, ist kein protziger Audi, sondern ein Klassiker.«

»Voilà, da sind wir. Letztes Zimmer auf der rechten Seite.« Er deutete auf die Tür am Ende des Gangs, in den durch ein schmales, hohes Fenster Sonnenlicht fiel.

Alexandra schloss auf und nahm Tobias die Tasche ab. »Also dann … Wir sehen uns später, ich möchte mich erst mal mit meiner Umgebung vertraut machen.«

»Lass dir ruhig Zeit«, gab er feixend zurück und sah zu, wie sie die Tür hinter sich schloss. Dann zählte er leise die Sekunden, bis Alexandra die Tür wieder öffnete und nach draußen auf den Gang kam.

»Das ist mein Zimmer?«, fragte sie ungläubig. »Dieser Mönch hat mir nicht zufällig den Schlüssel für die Abstellkammer gegeben, oder?« Sie drehte sich nach links und betrachtete die Abstände zwischen den Türen auf derselben Gangseite. »Schließ mal bitte dein Zimmer auf!«, forderte sie Tobias auf.

Mit einem Schulterzucken kam er ihrer Bitte nach und trat dann einen Schritt zur Seite, damit Alexandra in den Raum sehen konnte.

»Ich fasse es nicht!« Ihre Augen blitzten ärgerlich, als sie sich wieder zu Tobias umwandte. »Du hast dir einfach das größere Zimmer unter den Nagel gerissen! Das ist eine Frechheit!«

»Ich war halt vor dir hier«, hielt er gelassen dagegen. »Außerdem sind die beiden Zimmer auf den Verlag reserviert worden, aber nicht auf einen bestimmten Namen.«

Jetzt reichte es Alexandra wirklich! »Du warst vor mir hier? Was ist denn das für ein Argument? Wenn es danach geht, habe ich Anspruch auf das größere Zimmer. Schließlich war ich ursprünglich die Einzige, die herkommen sollte. Du hast dich bloß an mich drangehängt, um mir ein paar Tage rund um die Uhr auf die Nerven gehen zu können.« Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, wünschte sie, sie hätte kein Wort gesagt. Es war Tobias wieder mal gelungen, sie so weit aus der Reserve zu locken, dass sie unsachlich wurde. Das war ihr schon ein paarmal im Verlag passiert, wenn es zu Überschneidungen bei den Themen ihrer Magazine gekommen war. Obwohl es eindeutig gewesen war, dass Tobias sich bei ihren Ideen bedient hatte, um mit eigenen Artikeln zu glänzen, war er immer so geschickt vorgegangen, dass er keine Spuren hinterlassen hatte.

»Bruder Andreas hat mich gefragt, welches Zimmer ich haben wollte, das große oder das kleinere, und da habe ich mich für das große entschieden, weil ich schon in diesem Zwergenauto unterwegs sein muss«, erklärte er mit Unschuldsmiene. »Ich wusste nicht, wie groß der Unterschied zwischen beiden Zimmern sein würde.«

Sie brummte etwas Unverständliches.

»Wir können ja …«, begann Tobias nachdenklich.

Wollte er ihr tatsächlich vorschlagen, dass sie die Zimmer tauschten? Sollte sie auf ein solches Angebot eingehen? Oder würde sie sich nur selbst damit schaden, weil sie ihm damit die Gelegenheit gab, sie später als Diva hinzustellen, die sich nicht mit einem kleinen Zimmer begnügen konnte?

»… dein Bett in mein Zimmer schieben, dann haben wir gleich viel Platz«, beendete er seinen Satz und zwinkerte ihr zu.

Alexandra verdrehte die Augen und schnaubte frustriert. »Tobias, kannst du eigentlich ein einziges Mal auf deine anzüglichen Bemerkungen verzichten? Wird dir das nicht irgendwann mal langweilig? Oder wenigstens peinlich?«

Während er breit grinsend dastand, wandte sie sich ab und ging zurück in ihr Zimmer … als ihr plötzlich etwas Schwarzes entgegengeschossen kam und sie vor Schreck einen Schrei ausstieß.


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