»Und was mache ich jetzt mit dir?«, fragte Alexandra den Kater, nachdem sich Tobias lachend in sein Zimmer verzogen hatte. Kater Brown hatte sich inzwischen hingelegt und auf den Rücken gedreht, damit Alexandra ihm den Bauch streicheln konnte. Eine Zeit lang tat sie ihm den Gefallen, doch als sie dann die Hand wegziehen wollte, schossen seine Vorderpfoten vor, legten sich sanft um ihr Handgelenk und dirigierten ihre Finger zurück zu seinem Bauch. Dabei schnurrte er genießerisch.
»Okay, aber im Gegensatz zu dir bin ich nicht nur zum Vergnügen hier«, sagte sie, traf jedoch mit ihrer Bemerkung auf taube Ohren. Der Kater räkelte sich auf dem kühlen Steinboden und konnte offenbar einfach nicht genug bekommen. Nach einer Weile setzte er sich auf und begann, sich zu putzen.
»Tja, sieht so aus, als hättest du erst mal genug Streicheleinheiten bekommen«, murmelte sie und richtete sich auf. Sofort sprang der Kater auf und folgte Alexandra in ihr Quartier. Dort machte er es sich auf der Fensterbank gemütlich und beobachtete jede ihrer Bewegungen.
Das Zimmer war wirklich winzig, die Einrichtung spartanisch: ein einfacher Stuhl, ein kleiner Schreibtisch, ein schlichtes Bett, in einer Ecke ein Schrank, in dem man seine nötigsten weltlichen Besitztümer unterbringen konnte. Auf der anderen Seite war eine schmale Kabine abgeteilt worden, die gerade eben Platz für eine Dusche, ein Waschbecken und eine Toilette bot. Das einzige Zugeständnis an die Tatsache, dass es sich bei dieser Kammer heute um ein Hotelzimmer handelte, war das Telefon auf dem Schreibtisch. Einen Fernseher oder einen Radiowecker suchte man vergeblich. An der Decke hing eine nackte Energiesparlampe.
»Eine Gefängniszelle ist vermutlich ähnlich komfortabel eingerichtet«, stellte Alexandra ernüchtert fest. Der kurze Blick in das Zimmer ihres Kollegen hatte sie erkennen lassen, dass es auch nicht besser ausgestattet war, sondern lediglich um gut die Hälfte größer.
Sie packte ihre Tasche aus und verstaute alles im Schrank. Immerhin ließ er sich abschließen, sodass sie dort auch ihren Laptop und andere Wertgegenstände unterbringen konnte, wenn es erforderlich sein sollte.
Kater Brown lag nach wie vor auf der Fensterbank und beobachtete Alexandra aufmerksam.
»Ist das hier sonst dein Zimmer?«, fragte sie. Der Kater sah sie mit großen grünen Augen an, ließ die flaumigen schwarzen Ohren spielen und fuhr sich mit der kleinen rosa Zunge über die Schnauze, als erwartete er von Alexandra irgendein Leckerli.
Plötzlich kam ihr ein beunruhigender Gedanke. Was, wenn dieses Hotel so authentisch ein Klosterleben simulierte, dass es zum Abendessen nur irgendeine wässrige Suppe mit einer kargen Gemüseeinlage gab? Alexandra hatte am Morgen zum letzten Mal etwas gegessen und nach der Irrfahrt durch die Eifel auf ein Mittagessen in einer Gaststätte verzichtet, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren. Die Vorstellung, nichts weiter als eine dünne Suppe zu essen zu bekommen, war äußerst unerfreulich.
Sie sah auf die Armbanduhr. Kurz vor halb drei. Vielleicht sollte sie sich gleich in Richtung Luxemburg auf den Weg machen und nach einem Supermarkt suchen, um sich für den Abend mit ein wenig Verpflegung einzudecken. »Und was fange ich solange mit dir an?«, fragte sie den Kater. »Soll ich dich hier allein lassen, oder kommst du mit nach draußen?« Sie ging zu ihm und warf an ihm vorbei einen Blick aus dem geöffneten Fenster, von dem aus sie freie Sicht auf das weitläufige grüne Tal im Hintergrund hatte, das im Sonnenschein erstrahlte. Gleich vor dem Fenster ging es einige Meter steil in die Tiefe, was Alexandra stutzig machte. Sie wusste zwar, dass Katzen ausgezeichnet springen konnten, aber diese Höhe erschien ihr doch etwas zu erheblich, um von einem Kater in einem einzigen Satz überwunden zu werden.
Sie beugte sich weiter vor und entdeckte des Rätsels Lösung: Etwa einen halben Meter unter dem Fenster verlief ein Mauervorsprung, gerade breit genug, dass sich eine Katze darauf fortbewegen konnte. Er war allerdings leicht abgerundet, sodass ein Einbrecher sich kaum daran würde festhalten können, um sich nach oben zu ziehen und ins Zimmer einzusteigen. Also konnte sie getrost das Fenster offen lassen, damit Kater Brown auch noch einen Weg ins Freie fand, nachdem sie das Zimmer verlassen hatte.
Doch diese Rechnung hatte sie ohne den Kater gemacht. Gerade als Alexandra die Tür schließen wollte, sprang er von der Fensterbank, hastete durchs Zimmer und zwängte sich durch den Türspalt. »Oh, du hast es dir also doch noch anders überlegt«, sagte sie und schloss ab.
Kater Brown strich um ihre Beine herum, dann legte er sich auf die Fensterbank am Ende des Korridors und schlug die Pfoten unter.
Alexandra kraulte ihn noch einen Moment und machte sich schließlich auf den Weg.
Kater Brown blieb liegen und sah der Frau mit den langen blonden Haaren nach, wie sie sich langsam entfernte. Er mochte sie, auch wenn sie sich zuerst vor ihm erschreckt hatte. Aber sie war nett und hatte ihn ausgiebig gekrault. Dazu hatte sie sich sogar extra neben ihn gehockt. Die meisten Menschen bückten sich nur kurz und tätschelten ihm den Kopf, blieben aber dabei diese großen Gestalten mit den langen Beinen, mit denen sie oft ziemlich unvorsichtig umgingen, wenn er ihren Weg kreuzte. Doch die blonde Frau war sehr umsichtig mit ihm gewesen.
Vielleicht würde er sie ja in den Keller führen können, um ihr seine Entdeckung zu zeigen. Mit ein bisschen Glück würde diese Frau verstehen, was er von ihr wollte.
Kater Brown kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und beschloss, erst einmal eine Weile zu dösen.
Jenseits der luxemburgischen Grenze entdeckte Alexandra am Rande des verschlafenen Dörfchens Vianden einen kleinen, aber gut sortierten Supermarkt, in dem sie sich zunächst mit Sandwiches, Kartoffelsalat und einigen Tüten Chips eindeckte, ehe sie zur angrenzenden Tankstelle fuhr, um den Wagen vollzutanken.
Der Mann an der Kasse legte die Zeitung zur Seite, in der er geblättert hatte, nahm ihre Kreditkarte entgegen und zog sie durch das Lesegerät. Doch es tat sich nichts. Nur die Anzeige Bitte warten blinkte immer wieder auf.
»Ist ja typisch«, murmelte der Tankwart und wiederholte die Prozedur. »Ab Freitagnachmittag schaltet das Rechenzentrum auf Wochenende um, und ich kann zusehen, wie ich hier mit meiner Kundschaft klarkomme.«
»Na ja, auf ein paar Minuten kommt es mir nicht an«, sagte sie und betrachtete weiter die blinkende Bitte warten-Anzeige.
»Und?«, fragte er. »Müssen Sie heute noch zurück nach Düsseldorf?« Mit einer Kopfbewegung deutete der Tankwart auf ihren Wagen. Offenbar hatte er das Kennzeichen gesehen.
»Nein, zum Glück nicht. Von dort bin ich heute Vormittag erst aufgebrochen, und die Fahrt bis zum Klosterhotel hat mir gereicht.«
Der Mann verzog die Mundwinkel. »Oh, Sie sind bei den Scheinheiligen abgestiegen.«
»Den Scheinheiligen?«, wiederholte sie neugierig. »Wie meinen Sie das?«
»Na, sehen Sie sich den Verein doch mal an!«, ereiferte er sich so plötzlich, als hätte er nur auf eine Gelegenheit gewartet, sich irgendeinen angestauten Frust von der Seele zu reden. »So fromm, wie die alle tun, sind die auch nicht.«
»Ich verstehe nicht …«
»Überlegen Sie doch mal. Da tun die ständig so, als hätten sie kein Geld, und dann macht sich deren Boss mit ein paar Millionen aus dem Staub. So viel Geld muss man erst mal haben! Möchte wissen, wie die diese Menge Kohle zusammengetragen haben. Ob da alles legal gelaufen ist, wage ich mal zu bezweifeln.«
Alexandra zuckte mit den Schultern. »Ich habe mich vorab über das Kloster erkundigt und bin nirgendwo auf Hinweise gestoßen, dass außer dem Abt noch irgendjemand gegen Gesetze verstoßen hat«, sagte sie, um dem Mann mehr zu entlocken.
»Ach, kommen Sie«, hielt der Tankwart dagegen. »Wie der Herr, so ’s Gescherr. So heißt das doch, nicht wahr? Als hätte sich da nur der Boss bedient! Und selbst wenn der als Einziger in die Kasse gegriffen hat, sind die anderen nicht besser. Ich habe von regelmäßigen Saufgelagen gehört, und die Chrissie, die Tochter vom Hausmeister des Landschulheims, soll von einem dieser Kuttenträger schwanger sein.«
»Na ja, Mönche sind auch nur Menschen.« Sie hörte selbst, wie abgedroschen ihre Bemerkung klang, doch sie wollte den Mann am Reden halten.
»Nee, nee. Das sind doch Kirchenleute. Die Kirche soll lieber den Armen helfen, anstatt dem Papst zig Weltreisen im Jahr zu spendieren.« Er schüttelte murrend den Kopf. »Ich wünschte, ich hätte ein paar Millionen, mit denen ich mich absetzen könnte.« Stirnrunzelnd sah er wieder auf das Display. »Ah, jetzt geht’s.« Er reichte ihr die Kreditkarte und den Kassenbon. »Gute Fahrt wünsche ich Ihnen.«
»Ja, danke«, sagte sie mit ein wenig Bedauern in der Stimme. Eigentlich hätte sie noch gern etwas mehr über die Gerüchte erfahren, die das Kloster zum Thema hatten, aber offenbar war der Tankwart nur so lange an Smalltalk mit einer Kundin interessiert, bis der Bezahlvorgang abgeschlossen war. Nicht, dass Alexandra viel auf dieses pauschalisierende Gerede gegeben hätte, doch es war immer interessant, dem »Volk aufs Maul zu schauen«, wie sie das in der Redaktion nannten.
Der Mann hatte bereits wieder die Zeitung aufgeschlagen. Mehr war ihm also nicht zu entlocken. Mit einem kurzen Gruß verließ Alexandra die Tankstelle und ging zu ihrem Wagen.
Es war gegen vier Uhr, als Alexandra ins Klosterhotel zurückkehrte. Nachdem sie die Einkäufe im Schrank verstaut hatte, verließ sie ihr Zimmer und lief dabei ausgerechnet wieder Bernd Wilden in die Arme. Er hatte soeben ein neues Opfer gefunden, einen Mönch, der damit beschäftigt war, den langen Korridor zu fegen.
»Können Sie dafür nicht einen nassen Aufnehmer benutzen, verdammt noch mal?«, zeterte er, als er den Mann mit dem Besen erreicht hatte. »Mit diesem Ding wirbeln Sie mehr Staub auf, als Sie überhaupt wegfegen können.«
»Tut mir leid, aber dann wird der Fußboden rutschig, und wir wollen nicht, dass jemand stürzt«, gab der ältere, etwas beleibte Mönch leise zurück. Er trug sein weißes Haar so kurz geschnitten, dass man fast meinen konnte, er hätte eine Glatze.
»Dann stellen Sie eben Schilder auf, dass der Boden rutschig ist«, entgegnete Wilden, der plötzlich bemerkte, dass Alexandra ein Stück von ihm entfernt vor ihrem Zimmer stand und sich das Schauspiel ansah. »In einem vernünftigen Hotel ist das Personal im Übrigen für die Gäste unsichtbar. Da wird gefegt und gewischt und sauber gemacht, wenn niemand da ist, der sich davon gestört fühlen könnte.«
Alexandra hatte von diesem Auftreten jetzt wirklich genug, auch wenn Wildens Unverschämtheiten diesmal nicht gegen sie gerichtet waren. Energisch ging sie auf die beiden Männer zu. »Sagen Sie, Herr Wilden, müssen Sie sich eigentlich immer und überall so aufblasen?«
Wilden drehte sich zu ihr um. »Reden Sie mit mir?«
»Mit wem denn sonst?«, konterte sie.
»Wenn Sie schon meinen, Sie müssten mich ansprechen, dann sparen Sie sich wenigstens Ihren Sarkasmus! Ein einfaches ›Ja‹ hätte ausgereicht und mich nicht so viel Zeit gekostet.«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Müssen Sie sich immer so aufspielen? Ist das eine Art Zwang bei Ihnen?«
»Ich gebe Ihnen jetzt mal einen kostenlosen Ratschlag, den Sie sich zu Herzen nehmen sollten, junge Dame. Es gibt eine wichtige Regel, wie man sich als Untergebener in der Öffentlichkeit zu verhalten hat: Man soll sich nie mit einem Fremden anlegen. Es könnte ja sein, dass er schon morgen Ihr Vorgesetzter wird, und dann stehen Sie mit ganz, ganz schlechten Karten da.«
Alexandra konnte nun nicht mehr anders, sie musste laut lachen. Sie musterte Wilden von oben bis unten, und einmal mehr stellte sie fest, dass der Napoleon-Komplex nicht bloß ein Mythos war. »Wissen Sie was?«, sagte sie. »Sie können mich mal gernhaben, Sie kleiner Wichtel!« Damit drehte sie sich um, lächelte dem Mönch noch einmal zu und machte sich auf den Weg ins Foyer. Sie hatte vor, sich dort nach Bruder Johannes zu erkundigen, der ihr als Ansprechpartner genannt worden war, um sie mit Hintergrundinformationen zum Hotel zu versorgen. Am Empfang arbeitete mittlerweile ein anderer, etwas jüngerer Mönch. Das dunkelbraune Haar trug er länger als alle Mönche, die ihr bislang begegnet waren. Er stand vor der Tafel mit den Steckkarten und betrachtete sie.
»Verzeihung, darf ich kurz stören?«, fragte Alexandra.
Der Mönch drehte sich zu ihr um. Er hatte ein schmales Gesicht mit tief liegenden, dunklen Augen, die ihm eine ein wenig unheimliche Ausstrahlung verliehen. Möglicherweise war er aber auch nur übernächtigt. Als er Alexandra erblickte, verzog er den Mund zu einem Lächeln, dem sie ansehen konnte, dass es von Herzen kam.
»Was kann ich für Sie tun, Frau … Berger, richtig?« Seine Stimme hatte etwas angenehm Sanftes und bildete einen krassen Gegensatz zu seinem düsteren Erscheinungsbild.
»Ja, genau. Ich wollte nachfragen, ob Bruder Johannes wohl etwas Zeit für mich hat. Ich …«
»Stimmt, Sie sind die Journalistin«, unterbrach er sie. »Ich bin übrigens Bruder Jonas.« Er ergriff ihre Hand und drückte sie.
Der Mönch war eigentlich ein wirklich gut aussehender Mann, und er war noch recht jung. Was ihn wohl dazu veranlasst hat, sich für ein Leben im Kloster zu entscheiden?, überlegte Alexandra. Was immer es auch war, er hatte letztlich der Welt da draußen nicht entkommen können. Wie musste er sich jetzt fühlen, da das Kloster zum größten Teil zu einem Hotel umfunktioniert worden war? Seine Pläne, ein rein monastisches Leben zu führen, waren vom Schicksal vereitelt worden, was frustrierend sein musste.
»Bruder Johannes hatte am Telefon davon gesprochen, dass ich mit ihm wegen meines Artikels reden kann.«
»Er ist im Augenblick im Kräutergarten«, erwiderte der junge Mönch und zeigte auf einen Grundriss neben dem Empfang, der ihr zuvor gar nicht aufgefallen war. »Wenn Sie diesen Flur nehmen, bis zu dieser Tür dort, dann gelangen Sie geradewegs in den Kräutergarten.«
Sie prägte sich den Weg ein, dann nickte sie Bruder Jonas zu und verließ das Foyer.
Aus dem Refektorium, das sich auf der anderen Seite an den Empfangsbereich anschloss, war Stimmengewirr zu hören. Vermutlich saßen dort einige Gäste bei einem Kaffee zusammen.
Nachdem Alexandra einem anderen Korridor gefolgt war, von dem aus eine Treppe ins Obergeschoss führte, gelangte sie zu einer Tür mit Butzenscheiben, die in den Kräutergarten führte. Er lag eingebettet zwischen zwei lang gestreckten Gebäudetrakten. Im gegenüberliegenden Trakt befand sich Alexandras Zimmer, während der Teil, den sie soeben durchquert hatte, wohl die Unterkünfte der Mönche beherbergte. Jedenfalls hatten sich an den Zimmertüren dort keine Nummern befunden. Also waren sie zumindest derzeit noch nicht für den Hotelbetrieb vorgesehen.
Alexandra trat in die Wärme des Sommernachmittags hinaus, die sich im Hof zwischen den länglichen Gebäudetrakten staute. Der Kräutergarten präsentierte sich als eine Reihe gepflegter Beete. Unzählige kleine Schilder, die im Boden steckten, gaben eine genaue Auskunft darüber, was wo ausgesät oder gepflanzt worden war. In der Mitte befand sich ein Zierbrunnen, der so gar nicht in diese ansonsten so schlicht gehaltene Umgebung passen wollte.
Rechts von Alexandra wässerte ein Mönch mit einem Gartenschlauch die Beete. Er stand mit dem Rücken zu ihr, doch Alexandra erkannte in ihm Bruder Andreas, der sie bei ihrer Ankunft im Hotel begrüßt hatte.
Er war in seine Arbeit vertieft, und Alexandra wollte ihn nicht stören. Sie schaute nach links – und gab einen frustrierten Laut von sich, denn dort stand ein weiterer Mönch, den sie bislang noch nicht gesehen hatte. Er unterhielt sich angeregt, und das ausgerechnet mit Tobias Rombach. Da Tobias einen Notizblock in der Hand hielt und mitschrieb, musste der Mönch Bruder Johannes sein.
Nein, entschied Alexandra. Sie würde sich nicht dazustellen und sich mit den Resten einer bereits begonnenen Unterhaltung begnügen. Wenn sie Pech hatte, würde Bruder Johannes sie auf ihre Fragen hin an Tobias verweisen, dem er schon einiges erläutert hatte. Und dann würde sie sich mit Informationen aus zweiter Hand zufriedengeben müssen. Womöglich würde Tobias ihr sogar das eine oder andere wesentlich Detail verschweigen, weil er es exklusiv für seinen Artikel verwenden wollte.
Also machte Alexandra kehrt, bevor Pater Johannes oder Tobias sie entdeckte, und ging durch den Flur zurück, bis sie wieder zu der Treppe gelangte, die in den ersten Stock führte. Über das Schild an der Wand hatte man einen Zettel geklebt. Darauf war handschriftlich Säle I-IV vermerkt. Da nichts darauf hinwies, dass die besagten Säle nur dem Personal vorbehalten waren, beschloss Alexandra, sich im Obergeschoss einmal umzusehen.
Am Kopf der Treppe angekommen, fand sie sich vor einer Tür mit der Aufschrift Bibliothek wieder. Neugierig klopfte sie an, und als sich niemand meldete, drückte sie vorsichtig die Türklinke hinunter. Der Raum war in Dunkelheit getaucht. Sie ertastete links an der Wand einen Lichtschalter, und gleich erwachten mehrere Neonröhren flackernd zum Leben. »Wow«, entfuhr es Alexandra beim Anblick der unzähligen kostbaren Bücher, die hier verwahrt wurden. Die Wände waren bis unter die Decke mit Bücherregalen gesäumt. Zwischen den dicken, in Leder gebundenen Folianten klaffte nirgends eine Lücke. Mehrere parallel verlaufende Regalreihen füllten den inneren Teil des Raumes, der den etwas modrigen, aber trotzdem wunderbaren Geruch nach alten Büchern verströmte.
Fast andächtig ging Alexandra tiefer in die Bibliothek hinein und wanderte langsam an einem der Bücherregale entlang. Mit den Fingern strich sie über einen Regalboden und legte den Kopf schräg, um die Titel auf den Buchrücken entziffern zu können. Zu ihrem Bedauern waren sie alle in Latein, womit Alexandra bis auf wenige Begriffe kaum etwas anfangen konnte. Dennoch fand sie diese alten Bücher, die schon ihren Urgroßeltern oder deren Eltern hätten gehören können, einfach faszinierend.
»Nicht schon wieder!«, ertönte auf einmal eine energische Stimme von der Tür her, begleitet von hastigen Schritten in Sandalen, die sich klatschend über den Steinboden näherten.