12. Kapitel

Der Fahrer des Kurierdienstes schien den Kater, der vor ihm auf der Fahrbahn saß, nicht zu sehen. Sein Blick war auf ein anderes Hindernis gerichtet. Mit aufgerissenen Augen starrte er Alexandra an, die nur noch zwei Meter von Kater Brown entfernt dastand. Als der Kater hinter sich das Motorgeräusch des Transporters hörte, drehte er sich erschrocken um, bewegte sich jedoch nicht vom Fleck. Erst da löste sich Alexandra aus ihrer Starre und hechtete nach vorn und damit auf den heranrasenden Wagen zu. Wie durch ein Wunder bekam sie Kater Brown zu fassen, der kläglich miaute, drückte ihn an sich und rollte sich mit ihm nach rechts herum in Richtung der Büsche, die einen Teil der Zufahrt zum Grundstück säumten.

Hoffentlich lenkt der Fahrer den Wagen nicht vor Schreck in die gleiche Richtung, dachte sie voller Angst.

Als sie schließlich liegen blieb, klopfte ihr das Herz bis zum Hals, und sie spürte, wie ihr vor Erleichterung die Tränen in die Augen stiegen. Sie lebte, und Kater Brown lebte auch! Vorsichtig setzte sie sich auf. Der Kater zappelte, wand sich aus ihren Armen und sprang auf den Boden neben Alexandra. Dort setzte er sich hin und begann, sich ausgiebig zu putzen. Ab und zu hielt er inne, um ihr einen rätselhaften Blick zuzuwerfen.

»Bitte, gern geschehen, mein Kleiner«, murmelte Alexandra, die sich einbildete, Dankbarkeit in den grünen Katzenaugen zu lesen.

Der Fahrer des Transporters hätte sie und Kater Brown bestimmt in voller Fahrt unter sich begraben, wenn sie nicht das Tier geschnappt und sich zur Seite weggerollt hätte!

Tobias rannte gerade wutentbrannt auf den Wagen zu. Der Fahrer stieg aus, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und sah sich besorgt nach Alexandra um.

Frau Büchel kam ebenfalls aus dem Gebäude gestürmt und hielt auf den Kurierfahrer zu. Alexandra wollte sich aufrappeln, doch sie fühlte sich wie benommen. Deshalb blieb sie, wo sie war, und sah zu, wie die beiden auf den Fahrer losgingen.

Nach einer Weile, als ihre Beine nicht mehr so zitterten, stand sie auf und ging zu der kleinen Gruppe, die immer noch heftig diskutierte.

»Du kannst jetzt aufhören, den Mann zur Schnecke zu machen, Tobias«, sagte sie und brachte zu ihrem eigenen Erstaunen ein Lächeln zustande. »Wir haben es ja überlebt.«

Tobias’ Gesicht war vor Zorn gerötet. »Ja, aber dieser Idiot kann trotzdem nicht einfach so auf ein Grundstück rasen, auf dem es von Schülern nur so wimmelt.«

Alexandra nickte. »Ja. Danke, dass du mich so lieb verteidigst.« Sie sah an ihm vorbei zu Frau Büchel, die den Mann noch immer mit Vorwürfen überhäufte. »Oje. Ich glaube, wenn sie gleich in dieser Laune den Kurierdienst anruft, dann ist der Gute die längste Zeit Fahrer gewesen.«

»So, und jetzt knöpfe ich mir die Lukasse vor«, erklärte Frau Büchel und marschierte auf die drei Schüler zu, die in einiger Entfernung stehen geblieben waren, um das Geschehen zu beobachten. Sie machten nicht den Eindruck, als bereuten sie ihr Handeln sonderlich. »Das wird für die Burschen Konsequenzen haben.«

Alexandra hätte die Standpauke, die die Jungen erwartete, mit Freuden verfolgt, doch da kam der Fahrer auf sie zu. Er wirkte zerknirscht, als er ihr die Hand reichte. »Tut mir leid«, sagte er und konnte ihr dabei kaum in die Augen sehen. »Ich war so in Eile … Da habe ich einfach nur aufs Gas gedrückt.«

Alexandra nickte nur und ging dann zu Kater Brown, um ihn hochzunehmen. Als sie ihm über den weichen Kopf streichelte, schmiegte er sich sofort an sie und begann zu schnurren. Er schien den Schrecken zum Glück überwunden zu haben.

Mit dem Kater auf dem Arm stieg Alexandra in ihren Wagen und wartete, bis sich Tobias zu ihnen gesellte. Erst dann entließ sie Kater Brown aus der Umklammerung und setzte ihn Tobias auf den Schoß.

Puh, das war ja gerade noch mal gut gegangen! Kater Brown ließ sich von dem Brummen des Motors einlullen und schloss die Augen. Er war froh, von diesem schrecklichen Ort fortzukommen. Er mochte den großen Park mit seiner Unruhe und den vielen Menschen nicht. Und die drei Jungen, die ihn aus dem Auto geholt hatten, konnte er erst recht nicht ausstehen! Schon als sie ihn durch die Scheibe hindurch angestarrt und dabei so laut geredet und gelacht hatten, war ihm klar gewesen, dass sie nichts Gutes im Schilde führten. Und dann war es ihnen irgendwie gelungen, die Tür zu öffnen und ihm ein Handtuch überzuwerfen, damit er nichts sehen konnte.

Natürlich hatte er sich mit Krallen und Zähnen zur Wehr zu setzen versucht, aber das Handtuch war zu dick gewesen, und er war von den lauten Jungen weggebracht und in einen dunklen, engen Raum gesperrt worden. Zum Glück hatte er schnell das kleine Fenster entdeckt, aus dem er bald nach seiner Entführung hatte entkommen können.

Und dann hatten sich die Ereignisse auch schon überstürzt. Alexandras Rufe … und das schreckliche Motorgeräusch, das immer lauter geworden war. Ein weißes Ungetüm war auf ihn zugeschossen. Obwohl er normalerweise sehr schnell laufen konnte, war er wie gelähmt gewesen und hatte das Blechmonster nur anstarren können. Gleich bist du mausetot, hatte er gedacht – und Alexandra auch. Doch da hatte sie ihn schon gepackt, und sie waren gemeinsam den Abhang heruntergerollt … Sie war schon ein Teufelsmädchen! Kein Zweifel, sie hatte ihm eines seiner sieben Leben gerettet …

»›Es wurde schon wieder hell‹, hat Frau Büchel gesagt«, überlegte Tobias nach einer Weile, während er Kater Brown streichelte, der seit der Abfahrt vom Schullandheim auf seinem Schoß lag und döste. »Damit scheidet der Polizist als Täter aus. Der Mord ereignete sich irgendwann nach zweiundzwanzig Uhr, und er kann sich nur im Schutz der Dunkelheit abgespielt haben, weil alles andere zu riskant gewesen wäre. Wenn es hell wird, kann man vom Kloster aus den Parkplatz und die Fläche rund um den Brunnen beobachten, ohne selbst gesehen zu werden.«

Alexandra nickte. »Trotzdem hätte ich es Pallenberg nicht zugetraut, dass er sich regelmäßig als Sanitäter für die Schulpartys zur Verfügung stellt. Vielleicht ist er doch nicht so faul, wie wir dachten.«

Tobias schnaubte. »Na, ich weiß nicht. Kann doch sein, dass er sich seine Arbeit nur danach aussucht, ob sie ihm Spaß macht oder nicht. Du hast ja gehört, was Frau Büchel sagte. Bisher wurde auf einer solchen Party noch nie ein Sanitäter gebraucht. Also kann Pallenberg an solchen Abenden eine ruhige Kugel schieben und den Wohltäter spielen. Und da von abgesehen, bekommt er von den Lehrern bestimmt das eine oder andere Bier spendiert. So war das gewiss auch gestern Abend. Und dann wurde er nach vielleicht einer Stunde Schlaf zum Kloster gerufen, um sich dort mit einem mysteriösen Todesfall zu befassen. Ihm ist gleich klar, dass ihm jede Menge Arbeit bevorsteht, wenn er von einem Tötungsdelikt ausgeht. Also sagt er einfach, es war ein Unfall, und damit hat sich die Sache. Eine kurze Notiz für die Akten, und weg mit dem Fall.«

»Oder er glaubt nach der Auseinandersetzung in Angelikas Kneipe, den Mörder zu kennen, und will ihn schützen, indem er die Ermittlungen erst gar nicht aufnimmt beziehungsweise verzögert.«

»Die verschworene Dorfgemeinschaft, die zusammenhält?«

»Ganz genau. Und je enger dieser Zusammenhalt ist, desto besser lässt sich ein Verbrechen vertuschen.« Alexandra setzte den Blinker, bog in die Einfahrt zum Klosterhotel ein und lenkte den Wagen in eine schmale Parklücke neben Kurt Assmanns Mercedes Cabrio.

Kaum hatte sie den Schlüssel im Zündschloss gedreht, hob Kater Brown den Kopf, stand auf und reckte sich auf Tobias’ Schoß. Der Blick, mit dem er ihn bedachte, schien zu sagen: Na los, öffne mir die Tür! Ich bin zu Hause.

»Ich finde, er hat uns schon ganz gut im Griff«, bemerkte Tobias und lachte, als er dem Kater zusah, wie er zielstrebig in Richtung Kloster davonflitzte.

Sie folgten Kater Brown langsam. Alexandra zog ihr Handy aus der Handtasche und wählte noch einmal Bernd Wildens Mobilfunknummer. Wieder meldete sich niemand. Alexandra seufzte frustriert. »Vielleicht gibt es ja irgendeine Möglichkeit, an Wildens Verbindungsnachweis für die letzten zwei Tage heranzukommen«, überlegte sie laut.

»Kein Problem«, scherzte Tobias. »Wir suchen uns einfach einen Richter, der uns eine Generalvollmacht erteilt, diese Daten abzufragen. Dann fahren wir mal eben bei allen Mobilfunkanbietern im Land vorbei – schließlich wissen wir ja nicht, mit welchem Wilden überhaupt einen Vertrag abgeschlossen hat –, halten ihnen den richterlichen Wisch vor die Nase und lassen uns den Einzelverbindungsnachweis aushändigen, sobald wir den richtigen Ansprechpartner gefunden haben.« Er schaute demonstrativ auf die Uhr. »Hm, wenn wir uns beeilen, sind wir vielleicht bis Montag wieder zurück.«

»Blödmann!« Alexandra schüttelte den Kopf. »Ich habe gerade an etwas ganz anderes gedacht. Euer Magazin stellt doch von Zeit zu Zeit Technikneuheiten vor, und ich weiß, dass ihr erst vor Kurzem ein Sonderheft zum Thema ›Computer‹ herausgebracht habt. Vielleicht hat da ja irgendjemand auch was über Telekommunikation geschrieben. Wenn dem so ist, kannst du den Kollegen möglicherweise um Hilfe bitten und ihn fragen, ob er irgendwie herausfinden kann, mit wem Wilden zuletzt telefoniert hat.«

Tobias sah sie verdutzt an. »Stimmt, daran hatte ich jetzt gar nicht gedacht … Ich werde gleich mal nachhören, wer dafür der beste Ansprechpartner ist.« Er gab ihr zu verstehen, schon einmal vorauszugehen, während er die Nummer seiner Redaktion wählte.

Alexandra kraulte Kater Brown, der sich inzwischen auf dem Brunnenrand zusammengerollt hatte, hinter den Ohren und betrat dann das Foyer. Bruder Hartmut stand hinter dem Tresen und telefonierte, nickte ihr jedoch freundlich zu.

»Ja, bis zum Vierzehnten … sieben Personen … ist notiert … Ja … die Bestätigung geht am Montag per Brief an Sie raus … Vielen Dank … Ihnen auch … Auf Wiederhören.« Er legte den Hörer zur Seite und wandte sich Alexandra zu.

»Können Sie mir sagen, wo sich Bruder Johannes im Augenblick aufhält?«

»Ich rufe ihn sofort an«, versprach er ihr und griff wieder zum Hörer.

Während er darauf wartete, dass Bruder Johannes sich meldete, trat Tobias zu ihnen. Alexandra warf ihm einen fragenden Blick zu, doch er zuckte mit den Schultern.

»Heute ist die Redaktion nur mit ein paar Leuten besetzt, aber Susi versucht, den Redakteur und die Autoren zu erreichen«, berichtete er leise. »Sie weiß, dass die Sache eilt, doch wir haben Wochenende, und ich habe keine Ahnung, wie schnell die Autoren reagieren werden.« Er grinste schief. »Ich habe vorsichtshalber ausrichten lassen, dass es sich um eine sehr knifflige Sache handelt. Das ist für die Jungs genau der richtige Ansporn. Die sind ganz heiß auf alles, was nach Herausforderung klingt.«

»Entschuldigen Sie, Frau Berger«, meldete sich Bruder Hartmut zu Wort. »Bruder Johannes wird in einer Viertelstunde in seinem Zimmer auf Sie warten.«

»Ah, da sind Sie ja!«, rief Assmann in diesem Moment und eilte mit einem arroganten Lächeln auf sie zu. »Ich habe alles vorbereitet. Sie können gleich mit den Verhören anfangen.«

»Den Verhören?«, wiederholte Tobias verwundert.

»Ja.« Assmann schaute mit wichtiger Miene von einem zum anderen. »Sie wollten doch die Mitarbeiter befragen, oder habe ich das falsch verstanden?«

»Grundsätzlich ist das richtig«, erklärte Alexandra geduldig. »Aber wir hatten eine Unterhaltung im Sinn, bei der die Leute sich wohlfühlen und nicht den Eindruck bekommen, sie müssten jedes Wort auf die Goldwaage legen, weil es vielleicht gegen sie verwendet werden könnte.«

Assmann zuckte ratlos mit den Schultern. »Aber genau das wird doch anschließend geschehen, wenn Sie den Schuldigen gefunden haben.«

»Das ist richtig. Trotzdem möchten wir uns zwanglos mit den Mitarbeitern unterhalten. Immerhin sind wir nicht von der Polizei. Wenn die Leute nicht mit uns reden wollen, müssen sie das auch nicht.«

»Sie werden Ihre Fragen beantworten, davon können Sie ausgehen«, versicherte Assmann ihr.

Bestimmt hat er ihnen mit einer Abmahnung gedroht, dachte Alexandra ärgerlich. Bernd Wilden hatte in Kurt Assmann wirklich einen würdigen Assistenten gefunden!

Tobias wechselte einen kurzen Blick mit ihr. »Wir wollten sowieso mit den Leuten reden. Also können wir es auch jetzt gleich hinter uns bringen.«

»Ja, einverstanden.« Sie wandte sich an Bruder Hartmut: »Richten Sie Bruder Johannes doch bitte aus, dass er sich noch Zeit lassen kann. Wir reden zuerst mit Wildens Angestellten, danach kommen wir zu ihm.«

Der Mönch lächelte sie beruhigend an. »Er wird dafür Verständnis haben, dass Sie erst die Gelegenheit nutzen möchten, Herrn Wildens Mitarbeiter zu befragen. Schließlich ist es in unser aller Interesse, Licht in diese Angelegenheit zu bringen.«

Assmann nickte zufrieden, und Alexandra ärgerte sich im Stillen noch mehr. Sie hätte lieber zuvor gewusst, was die Bewegungsprofile ergeben hatten, die Bruder Andreas auf den Computer hatte übertragen wollen. Dann hätte sie die Möglichkeit gehabt, die Leute gegebenenfalls sofort mit einer falschen Aussage zu konfrontieren. Na gut, überlegte sie grimmig. Der Punkt geht an Assmann, aber das wird auch der einzige Punkt bleiben, den er für sich verbuchen kann.

Zu dritt begaben sie sich ins Refektorium, einen weitläufigen, L-förmigen Saal mit hoher, kuppelartiger Decke, an der mehrere schlichte Kronleuchter hingen.

Zwei Tischreihen mit Holzbänken zu beiden Seiten erstreckten sich über die ganze Länge des Raumes. In Abständen waren diese Reihen unterbrochen, damit man vom äußeren in den inneren Bereich des Saals gelangen konnte, ohne erst um die gesamte Tafel herumgehen zu müssen. Die zehn Mitarbeiter, die zusammen mit Wilden für das Wochenende hergekommen waren, saßen wie die Hühner auf der Stange auf der inneren Bank und schauten nervös hin und her. Assmann hatte ihnen offenbar massiv zugesetzt.

»Wir haben bereits alles vorbereitet«, erklärte Wildens Assistent. Dabei zeigte er auf einen Tisch im linken Teil des Saals, der durch eine mobile Stellwand vom Rest des Raumes abgetrennt worden war. Auf diesem Tisch standen zwei Schreibtischlampen, die so ausgerichtet waren, dass sie eine Tischhälfte und den Stuhl auf dieser Seite in grelles Licht tauchten. Alexandra drängte sich unwillkürlich der Verdacht auf, dass Assmann die ursprünglichen Glühbirnen durch viel stärkere hatte ersetzen lassen.

Dieses Arrangement erinnerte, passend zu Assmanns Wortwahl, an ein Verhörzimmer in einem Kellerraum oder einer alten, längst nicht mehr genutzten Fabrikhalle. Obwohl diese Szene in ihrer Klischeehaftigkeit beinah lächerlich wirkte, verursachte sie Alexandra eine Gänsehaut.

Sie hatte Assmann schon bei ihrer ersten Begegnung unsympathisch gefunden, doch je länger er sich in ihrer Nähe aufhielt, desto größer wurde ihre Abneigung gegen diesen Mann, der so wirkte, als wäre er in einer anderen Zeit geboren worden.

»Aha«, sagte sie nur, stieß Tobias, den der Anblick gleichermaßen irritiert hatte, leicht an und wandte sich nach rechts. Sie nickte den wartenden Mitarbeitern freundlich zu. Manche von ihnen wirkten trotzig, andere wiederum ängstlich oder unsicher.

Alexandra blieb stehen, stellte sich und Tobias vor und begrüßte die Anwesenden. Dass sie Tina Wittecker bereits kannte, ließ sie absichtlich unerwähnt.

»Frau Drach, kommen Sie«, sagte Assmann dann in einem sehr bestimmenden Tonfall, der die Frau zusammenzucken ließ. Schnell stand sie auf und ging zu ihm. »Sie setzen sich schon mal dahinten an den Tisch und …«

»Nein, nein, bitte entschuldigen Sie, Frau Drach!« Alexandra fuhr zu Kurt Assmann herum. »Was soll das werden? Bitte lassen Sie uns die Befragung auf unsere Art und Weise und in der von uns gewünschten Reihenfolge durchführen! Ich halte nämlich nichts von solchen … Stasimethoden.« Sie wies mit dem Kopf zu der von Assmann arrangierten »Sitzgruppe«. »Wir werden uns mit unseren Gesprächspartnern nach dahinten an den letzten Tisch zurückziehen. Dort können wir in Ruhe reden. Ohne grelle Lampen, ohne Stellwände, okay?«

Assmann, dem die Zornesröte ins Gesicht gestiegen war, stemmte die Arme in die Seiten. »Frau Berger, das finde ich unerhört! Ich habe alles vorbereitet, um ein geeignetes Ambiente zu scha …« Weiter kam er nicht, da die Kollegen in Erheiterung ausbrachen, als Kater Brown in aller Seelenruhe zu ihm geschlendert kam, kurz an seinen Hosenbeinen schnüffelte und dann zweimal hintereinander lautstark nieste.

Als wollte er die öffentliche Demütigung dieses Mannes noch unterstreichen, trottete er dann weiter und sprang auf den Tisch, auf den die Lampen gerichtet waren. In der Wärme der starken Glühbirnen ließ er sich nieder und blickte sich hoheitsvoll zu Assmann um.

Alexandra hätte bei diesem Anblick fast laut aufgelacht. Deutlicher hätte Kater Brown wohl kaum zum Ausdruck bringen können, was er von diesem Mann hielt. Um Kurt Assmann jedoch nicht gegen das Tier aufzubringen, bemühte sie sich, ernst zu bleiben.

Kopfschüttelnd sah Assmann zu, wie sie die Sekretärin bat, wieder Platz zu nehmen, und stattdessen Norbert Hellinger zu sich an einen der hinteren Tische rief.

Missmutig gesellte er sich zu ihnen und nahm ebenfalls Platz.

»Entschuldigen Sie, Herr Assmann«, sagte Tobias. »Wir möchten gern allein mit den Leuten reden.«

»Tut mir leid, aber das geht nun wirklich zu weit«, ereiferte sich Kurt Assmann. »Schließlich möchte ich wissen, was hier gesprochen wird. Sie setzen sich einfach über meine Arrangements hinweg, leiten selbst die Befragungen der Verdächtigen und …«

»Der Verdächtigen?«, fiel Norbert Hellinger ihm empört ins Wort. »Wer hat Sie denn zum Kommissar ernannt, dem es zusteht, uns zu verdächtigen, Herr Assmann? Und was heißt, Sie wollen zuhören, was hier gesprochen wird? Wenn ich mit den beiden Journalisten rede, ist das ganz allein meine Sache, und wenn mir ihre Fragen nicht gefallen, werde ich sowieso kein Wort mehr sagen. Und eines vorweg …« Er schenkte Assmann ein spöttisches Lächeln. »Ich werde ohnehin nichts von mir geben, was Sie für eine Abmahnung missbrauchen könnten. Sie halten sich für unglaublich schlau, doch in Wahrheit sind Sie nur ein kleiner dummer Junge, der seinem zweifelhaften Vorbild nachzueifern versucht. So und nicht anders sieht’s aus!«

»Wir leben in einem freien Land«, konterte Assmann und rettete sich damit in eine Plattitüde der übelsten Art. Er lehnte sich auf der Bank zurück und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. »Und von Ihnen …«, er bedachte Hellmann mit einem hochnäsigen Blick, »lasse ich mir schon gar nicht vorschreiben, wo ich mich hinsetzen darf und wo nicht.«

Nun platzte Alexandra der Kragen. »Wissen Sie, Herr Assmann, wenn Sie so engagiert sind, sollten wir vielleicht kurzerhand die Reihenfolge ändern und Sie vorziehen.«

»Mich vorziehen?« Er sah verständnislos zwischen Tobias und ihr hin und her. »Was soll das heißen?«

»Wir befragen Sie zuerst. So erhalten Sie die Möglichkeit, Ihren Kollegen mit gutem Beispiel voranzugehen«, erklärte Tobias, um dessen Mundwinkel es belustigt zuckte.

»Warum … warum sollte ich Ihre Fragen beantworten?«

Alexandra lächelte ihn gespielt harmlos an. »Ja, wissen Sie denn nicht, dass Sie auf unserer Liste der Verdächtigen ganz oben stehen?«

Assmanns Gesicht war inzwischen puterrot angelaufen, und er sprang entrüstet auf und ging davon. »Fangen Sie jetzt schon wieder mit diesen unsinnigen Unterstellungen an? Das muss ich mir nicht bieten lassen!« Sie tauschte einen raschen Blick mit Tobias und wandte sich an Norbert Hellinger, der sie anlächelte. »Sie machen so einen zufriedenen Eindruck«, stellte sie fest. »Wie kommt das?«

»Den mache ich immer, wenn dieser Schnösel eins auf den Deckel bekommt. Leider ist das viel zu selten der Fall.« Hellinger warf sein langes graues Haar über die Schulter zurück und zupfte an seinem Bart, der ihm bis auf die Brust reichte. »Aber jetzt, da Wilden nicht mehr ist, wird das sicher noch öfter passieren.« Er legte den Kopf schräg. »Die werden sich noch wundern.«

»Wer wird sich noch wundern?«, wollte Alexandra wissen.

»Na, die Damen und Herren vom Vorstand. Als Wildens Assistent dürfte Assmann die besten Chancen haben, zumindest kommissarisch dessen Posten zu übernehmen, doch das wird auch schon alles sein. Dann wird seine Karriere nämlich bald einen jähen und tiefen Absturz erleben.«

»Wieso?«

»Weil Assmann ein Blender ist, der nur solange den Kopf über Wasser halten kann, wie er jemanden hat, den er imitieren und dem er nacheifern kann. Er hat sich von Wilden abgeguckt, wie man seine Mitarbeiter von oben herab behandelt. Aber das funktioniert alles nur, solange es jemanden gibt, der die Hände schützend über ihn hält. Ohne starke Rückendeckung und eine Vorlage, an der er sich orientieren kann, ist Assmann nämlich so hilflos wie ein Fisch auf dem Trockenen. Wenn er die Arbeit kommissarisch erledigt, kommt früher oder später ein Vorgang auf seinen Tisch, mit dem er überfordert ist. Dann wird der Vorstand begreifen, dass Assmann in Wahrheit eine Null ist, und man wird ihn feuern.«

»Aber Sie und einige Ihrer Kollegen sind doch schon viel länger mit dabei«, wandte Tobias ein. »Wieso sollte man ausgerechnet den zu Wildens Nachfolger ernennen, der als Letzter eingestellt wurde?«

»Weil Assmann ein Blender ist.« Hellinger zuckte mit den Schultern. »Er versteht es, sich zu verkaufen und gleichzeitig die Konkurrenz schlechtzureden.«

»Wird der Vorstand ihn denn nicht durchschauen?«

»Sehen Sie, Assmann verkörpert ein Image, das zurzeit sehr in ist. Er ist jung und voller Elan, er hat Rhetorikkurse absolviert und kann schlau daherreden. In seinen Vorträgen arbeitet er mit komplizierten Grafiken und ausgefeilten Schaubildern, er wartet mit Statistiken und überraschenden Prognosen auf. Mit all dem Schischi täuscht er gekonnt darüber hinweg, dass alles, was er sagt, nur heiße Luft ist. Er ist in gewisser Weise noch schlimmer als Wilden.«

Alexandra nickte. »Halten Sie es für möglich, dass er Bernd Wilden … aus dem Weg geräumt hat, um dessen Platz einzunehmen? Ich meine, Herr Assmann hat einen ziemlich teuren Geschmack, den er sich als Assistent eines Geschäftsführers eigentlich nicht leisten kann.«

»Hm.« Hellinger versank einen Augenblick in nachdenkliches Schweigen. »Ja, möglich wäre es. Bei seiner Neigung zur Selbstüberschätzung kann ich mir vorstellen, dass er glaubt, Wildens Job mit links machen zu können.«

»Und … wüssten Sie sonst noch jemanden, der vom Tod Ihres Geschäftsführers profitieren würde?«

»Keine Ahnung. Ich war’s jedenfalls nicht.« Norbert Hellinger zwinkerte Alexandra zu. »Ich weiß, worauf Sie hinauswollen.«

»Okay, dann dürfte Ihnen auch klar sein, dass Sie in unseren Augen ein Motiv für eine solche Tat hätten.«

»Und welches Motiv sollte das sein?«

»Sie könnten sich beispielsweise von Wilden schikaniert gefühlt haben«, erklärte Tobias, »und sauer sein, weil Ihr Arbeitsplatz durch die Abschaffung des Zivildienstes praktisch überflüssig geworden ist.«

»Schikaniert?«, wiederholte Hellinger und lachte laut auf. »Das waren alberne Machtspielchen, aber keine Schikanen. Ich wusste ja, Wilden will mich loswerden. Es ging ihm nicht darum, mich zu quälen. Er wollte bloß, dass ich kündige, auf meine Abfindung verzichte und für jemanden Platz mache, der für ein Viertel meines Gehalts genauso viel arbeiten muss. Wenn jemand schikaniert wird, dann wird es das arme Schwein sein, das meine Nachfolge antritt. Die Bezahlung wird nämlich ein Witz sein.« Er sah Tobias und Alexandra eindringlich an. »Ich habe damals noch aus Überzeugung meinen Zivildienst geleistet; ich wollte niemals in die Situation kommen, einen Menschen töten zu müssen. Daran hat sich nichts geändert. Töten würde ich auch heute nur, um mein eigenes oder ein drittes Leben zu retten. Wilden stellte keine Bedrohung für mein Leben dar, nicht mal eine für meine Stelle. Er konnte mich nicht rausschmeißen, ohne tief in die Tasche greifen zu müssen. Und dieser Hanswurst Assmann steht vor dem gleichen Problem. Der Vorstand macht eine Menge mit, doch meine Abfindung würde nach so vielen Dienstjahren so unverschämt hoch ausfallen, dass sie mich lieber in ein Büro setzen und Ordner zählen lassen. Das kommt sie immer noch billiger zu stehen.«

»Gut«, sagte Alexandra und sah auf ihre Notizen. »Dann wär’s das für den Moment. Vielen Dank, Herr Hellinger. Aber … Sie könnten bitte hier auf diesem Blatt noch notieren, wo Sie sich wann aufgehalten haben, und zwar in der Zeit von acht Uhr am Freitagabend bis zum Auffinden der Leiche heute Morgen. Versuchen Sie, die Angaben so präzise wie möglich zu machen, und vermerken Sie bitte auch, wo Sie Herrn Wilden zuletzt gesehen haben.«

Norbert Hellinger sah sie argwöhnisch an. »Ich dachte, Sie verdächtigen mich nicht. Was soll denn das jetzt?«

»Wir verdächtigen Sie tatsächlich nicht, genauso haben wir auch keinen Ihrer Kollegen im Visier«, meldete sich Tobias zu Wort. »Wir möchten nur herausfinden, wer sich im fraglichen Zeitraum wo im Gebäude oder auch außerhalb aufgehalten hat. So können wir mit etwas Glück feststellen, wer der absolut Letzte war, der Wilden noch lebend gesehen hat.«

»Machen sie sich keine Sorgen, Herr Hellinger«, fügte Alexandra hinzu. »Wir bringen Licht in die Sache.«

Es war kurz nach neunzehn Uhr, als sie den zehnten und letzten Mitarbeiter befragt und Gesprächsnotizen angefertigt hatten. Um achtzehn Uhr hatten die Mönche ihnen allen belegte Brote gebracht. Jeder von ihnen hatte eine Scheibe Brot bekommen, je zur Hälfte mit Wurst und mit Käse belegt. Offenbar war das nach dem aus Gründen der Enthaltsamkeit entfallenen Mittagessen alles, was sie heute noch zu essen bekommen würden. Beim Anblick des Brotbelags war Alexandra heilfroh, am Mittag bei Angelika eingekehrt zu sein.

Zwischendurch war Bruder Andreas ein paarmal vorbeigekommen, um die Zettel der Befragten abzuholen und die Zeitangaben und Beobachtungen in das Computerprogramm zu übertragen. Der Form halber schrieben Alexandra und Tobias ebenfalls auf, wo sie sich wann aufgehalten und wen sie dabei gesehen hatten. Vielleicht halfen ihre Angaben ja, jemand anders einer Falschaussage zu überführen.

»Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir so schlau sind wie zuvor«, murmelte Alexandra enttäuscht und überflog ihre Notizen. »Also … Hellinger scheint keinen Grund gehabt zu haben, Wilden zu ermorden. Leybold aus der Personalabteilung ist rundum mit seiner Arbeit zufrieden, jedenfalls behauptet er das. Angeblich hat es ihm nie etwas ausgemacht, sich von Wilden Vorschriften machen zu lassen.«

Tobias holte seinen Notizblock hervor und blätterte darin. »Anna Maximilian hat gar nichts von Wildens Tod, weil sie nicht qualifiziert ist, zur Leiterin der Finanzen aufzusteigen, wenn Wiesmann, der momentan die Finanzabteilung unter sich hat, auf den Geschäftsführerposten wechselt. Ich glaube, sie kommt von allen am wenigsten infrage, weil es ja nicht mal sicher ist, dass ihr Chef Wildens Nachfolger wird. Allein aufgrund von Wunschdenken jemanden umzubringen wäre verdammt voreilig.«

»Yasmin Tonger behauptet, Wilden habe sich nicht von ihr getrennt und das auch nicht beabsichtigt, und ihre Kollegin Drach macht auf mich nicht den Eindruck, dass sie überhaupt intelligent genug ist, um so eine Tat zu planen«, ergänzte sie. »Damit bleiben als wahrscheinlichste Verdächtige nach wie vor Groß, Wiesmann, Dessing und Kramsch, weil die alle von Wildens Tod hätten profitieren können.«

»Vergiss Assmann nicht!«, warf er ein.

»Habe ich nicht vergessen, weil mir gerade ein Gedanke durch den Kopf gegangen ist. Assmann ist zwar ehrgeizig, aber ziemlich unfähig, wenn er auf sich gestellt ist. Jetzt nimm mal an, er weiß das. Dann wäre es doch beruflicher Selbstmord, wenn er Wilden tötet und auf dessen Posten nachrückt, den er gar nicht ausfüllen kann.«

»Du meinst, es könnte eher einer der vier anderen gewesen sein, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen?«

»Einer … oder mehrere«, überlegte sie. »Vielleicht sogar die ganze Bande gemeinsam.« Alexandra runzelte die Stirn. »Lass mich mal laut nachdenken: Der Vorstand setzt sich überwiegend aus alten Männern zusammen, also wird eine Frau bei ihnen wahrscheinlich schlechte Karten haben. Damit kann Viola Dessing den Posten vergessen. Edwin Groß ist der Jüngste aus der Gruppe, Volker Kramsch der Älteste. Wenn wir Wiesmann mal außer Acht lassen, dann könnte Kramsch den Posten übernehmen, bleibt sechs oder sieben Jahre darauf hocken und wird pensioniert. Danach kann Groß ihn beerben und hat dann immer noch sicher zehn oder zwölf Jahre vor sich. Viola Dessing könnte den Bereich von Kramsch mit übernehmen. Als Leiterin hat man da bestimmt nicht so viel zu tun, schließlich gibt es genug Mitarbeiter, die die Arbeit erledigen. Wenn sie zwei Bereiche leitet, kann sie eine ordentliche Gehaltserhöhung fordern. Solange sie nicht das doppelte Gehalt bekommt, spart der Verband immer noch etliche Tausend Euro im Jahr. Wiesmann … der bleibt auf seinem Posten, weil er da eine ruhige Kugel schieben kann. Die Abteilungen liefern ihm die Zahlen, er muss sie nur an der richtigen Stelle in der Tabelle einsetzen, und drei Tastendrucke später zaubert er Listen, Statistiken und Grafiken aus dem Drucker. Die Überwachung der Ausgaben ist eigentlich auch nicht viel Arbeit. Ich meine, was soll denn das? Er bekommt einen Antrag für eine Anschaffung vorgelegt, er überprüft, ob die im Haushalt vorgesehen ist und ob der Betrag den veranschlagten Kosten entspricht. Wenn das nicht der Fall ist, lehnt er den Antrag ab, und die Sache hat sich für ihn erledigt …«

Tobias verzog in gespieltem Selbstmitleid den Mund. »Weißt du was? Ich glaube, ich habe den falschen Job.« Dann meinte er lobend: »Das ist eine gute Theorie, weißt du das? Ein solches Komplott könnte gut funktionieren, weil einer den anderen in der Hand hat und weil jeder vom anderen profitiert. Sie wären allesamt bald Assmann los und könnten sich gegenseitig in die Tasche wirtschaften. Das einzige Problem dabei …«

»Wie soll man’s ihnen nachweisen?«, beendete sie seufzend seinen Satz.

»Richtig. Das übersteigt unsere Möglichkeiten, denn dafür müsste ein Richter Durchsuchungsbefehle ausstellen, damit bei den vieren zu Hause und in den Büros alles auf den Kopf gestellt werden kann.«

»Selbst wenn wir Pallenberg mit dieser Theorie konfrontieren, wird der nichts unternehmen«, sagte sie. »Aber weißt du was? Ich rufe jetzt in Bitburg auf der Polizeidienststelle an, erkundige mich nach seinem Vorgesetzten und informiere ihn im Groben über unsere ›Ermittlungen‹. Wir haben inzwischen doch so einiges zusammengetragen, was die Polizei interessieren könnte. Vielleicht lässt sich die Sache ja beschleunigen …«

Sie stand auf, zog ihr Handy aus der Tasche und verließ das Refektorium. Nach ungefähr zehn Minuten kehrte sie mit hängenden Schultern zurück. »Fehlanzeige«, sagte sie und schlug mit der Hand zornig auf den Tisch. »Pallenbergs direkter Vorgesetzter war nicht mehr im Hause, und der diensthabende Beamte, den ich an der Strippe hatte, will ›dem Kollegen in Lengenich nicht vorgreifen‹, wie er mir erklärte. Offenbar hat der Mann das, was ich ihm zu sagen hatte, als das Gerede einer übereifrigen Journalistin abgetan.«

Ein leises Klingeln unterbrach ihre Unterhaltung. Tobias drückte tröstend Alexandras Arm und sah auf sein Handy. »Eine SMS von einem der Redakteure. Gut … aha … Gib mir doch mal Wildens Handynummer!«

Alexandra klickte die Anrufliste ihres Telefons an und hielt ihm das Display hin. Er tippte die Nummer ein und schickte sie dann als SMS an den Absender zurück. »Endlich eine Spur?«, fragte sie und hielt gespannt den Atem an.

»Noch nicht, aber der Redakteur scheint etwas erreichen zu können, wenn er die Nummer kennt. Mal abwarten.« Tobias sah wieder auf die Notizen, die während der Unterhaltungen mit Wildens Mitarbeitern entstanden waren. »Wir bleiben also vorerst auf uns gestellt. Na ja, unser Hauptproblem ist natürlich die Frage, ob die anderen die Wahrheit sagen.«

Alexandra seufzte. »Wir kommen irgendwie nicht richtig weiter.«

Tobias kniff die Augen zu und rieb sich über das Gesicht. »Hätten wir bloß nie angefangen, uns in diese Sache einzumischen!«, murmelte er niedergeschlagen.

»Ach, fang jetzt nicht so an! Unser Problem ist nur, dass uns nicht viel Zeit bleibt. Am Montagmorgen reist Wildens Team wieder ab, und wir bleiben mit einem dummen Gesicht zurück.«

»Wenn wir wenigstens Pallenberg von unserer Sicht der Dinge überzeugen könnten!« Tobias schüttelte den Kopf. »Auf den Mann könnte eine Beförderung warten.«

»Weißt du was? Wir sprechen jetzt erst mal mit Bruder Johannes«, schlug sie vor. »Vielleicht hat der inzwischen irgendetwas herausgefunden, das uns weiterhilft. Und wir können bestimmt einen ersten Blick auf die Daten werfen, die Bruder Andreas inzwischen verarbeitet hat. Könnte ja sein, dass wir da auf Widersprüche zu den Aussagen der Mitarbeiter stoßen.«

Kater Brown lag nach wie vor ausgestreckt auf dem Tisch und genoss die Wärme der Schreibtischlampen. Er hob träge den Kopf, blinzelte und miaute leise. Alexandra ging zu ihm und streichelte ihn ausgiebig, was ihn dazu veranlasste, sich auf den Rücken zu drehen. Sie verstand den kleinen Wink und kraulte ihm den Bauch.

»So, mein Junge, das muss für den Moment genügen«, erklärte sie. »Wir haben nämlich jetzt noch etwas zu erledigen. Am besten, du wartest nachher in meinem Zimmer auf mich. Ich habe dir das Fenster offen gelassen.«

»Ich würde mir das an seiner Stelle nicht zweimal sagen lassen«, meinte Tobias und lachte, als ein leichter Hieb mit dem Notizblock seinen Hinterkopf traf.

Kater Brown setzte sich auf und lauschte dem Geräusch der sich entfernenden Schritte. Mit verschlafenem Blick sah er sich im menschenleeren Saal um und kam zu dem Schluss, dass er Hunger hatte. Höchste Zeit, eine Kleinigkeit zu essen aufzutreiben. Zu schade, dass es für die Menschen nur so fade Wurst und so trockenen Käse gegeben hatte, sonst hätte er sich etwas erbetteln können. Alexandra hätte ihm bestimmt etwas abgegeben. Wie lange sie wohl noch hierbleiben würde? Normalerweise reisten die Gäste nach einigen Tagen wieder ab und wurden durch andere ersetzt.

Kater Brown wusste schon jetzt, dass er Alexandra sehr vermissen würde. Er musste sich unbedingt etwas überlegen, wie er sie noch eine Weile hierbehalten konnte. Ganz sicher würde ihm da etwas einfallen.

Aber jetzt wollte er sich erst mal etwas zu essen suchen.


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