1. Kapitel

»Fräulein Hilde, ich bitte vielmals um Entschuldigung, dass ich so ohne Voranmeldung hereinplatze, aber es gibt wichtige Neuigkeiten von Ihrem Vater!«

»Hauptmann Brehm?«, erwiderte die Frau überrascht. »Was haben Sie hier zu su … zu su … Mann, Brehm, was ha … zu su … zu su … zu su …«, tönte es aus dem Autolautsprecher. Alexandra Berger schaltete entnervt vom CD-Player auf das Radio um. Mist, dabei hätte sie für das Magazin eigentlich noch eine Besprechung des Hörbuchs schreiben müssen!

»Heute ist einfach nicht mein Tag«, stöhnte sie und stellte den Ton leiser. Jetzt ließ sie auch noch der CD-Player im Stich, sprang auf der CD hin und her oder blieb an einer Silbe hängen! Bestimmt war das Schlagloch eben daran schuld, das sie zu spät bemerkt hatte. Mit einem lauten »Rums« war ihr rechtes Vorderrad hindurchgerumpelt, und dann hatte es gleich noch einmal einen heftigen Ruck gegeben, als das Hinterrad hineingeplumpst war.

Das Navigationsgerät hatte Alexandra auch schon vor einer Weile ausgeschaltet, nachdem sie von der nervigen Frauenstimme dreimal auf einen Waldweg gelotst worden war, der sich dann als unpassierbar erwiesen hatte. Stattdessen lag nun eine Straßenkarte auf dem Beifahrersitz, auf dem Alexandra den Weg zum Klosterhotel »Zur inneren Einkehr« nachvollzog. Zum wiederholten Mal lenkte sie den Wagen an den Fahrbahnrand und warf einen Blick auf die Karte.

»Mal sehen«, murmelte sie. »Da liegt Lengenich, und ich müsste mich eigentlich genau … hier befinden.« Sie sah nach links und entdeckte, zwischen ein paar Bäumen versteckt, eine Kapelle. »Richtig, du bist da eingezeichnet«, sagte sie und tippte auf das kleine Kreuz auf der Karte gleich neben der mit rosa Textmarker hervorgehobenen Straße. Verfahren kann ich mich auch allein, dachte Alexandra, warf dem schwarzen, an der Windschutzscheibe befestigten Gerät einen grimmigen Blick zu und fuhr weiter.

Sie sah kurz auf die Uhr neben der Tachoanzeige und verzog den Mund. Mit fast zwei Stunden Verspätung würde sie ihr Ziel erreichen, aber das konnte sie nicht der Wegbeschreibung des Klosterhotels anlasten. Drei Baustellen hatten auf ihrer Strecke gelegen, die sie weitläufig hatte umfahren müssen. Dafür hatte Alexandra auch einige Irrwege in Kauf nehmen müssen, da die Baufirmen großzügig auf Umleitungsbeschilderungen verzichtet hatten. Dachten diese Leute denn, hier wären nur Einheimische unterwegs? Alexandra überlegte, ob sie in ihrem Artikel über das Klosterhotel nicht besser eine andere Route vorschlagen sollte. Damit würde sie sich nach ihrem Aufenthalt im Kloster noch einmal in Ruhe beschäftigen.

Sie griff nach ihrem Diktiergerät, das in der Mittelkonsole steckte, schaltete es ein und sprach ins Mikrofon: »Prüfen, ob Anfahrt über Aachen, Trier oder Luxemburg einfacher möglich ist.« Dann legte sie das Gerät auf den Beifahrersitz und warf dabei noch einmal einen raschen Blick auf die Karte.

Nach ein paar Kilometern tauchte am Straßenrand ein Ortsschild auf, und beim Näherkommen konnte sie den Ortsnamen Lengenich erkennen. »Na bitte, wer sagt’s denn!«, meinte sie zufrieden und bremste auf die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit ab.

Sie fuhr vorbei an Bauernhöfen, die schon bessere Zeiten erlebt hatten, und frisch renovierten Einfamilienhäusern. Ihre Besitzer mussten es sich leisten können, in dieser Abgeschiedenheit zu leben, in der Arbeitsplätze rar gesät waren. Zu ihrer Rechten sah Alexandra eine Wirtschaft, gleich daneben ein leer stehendes Ladenlokal, in dem sich, den Überresten der Leuchtreklame nach zu urteilen, einmal ein Lebensmittelgeschäft befunden hatte. Aber das schien schon vor langer Zeit geschlossen worden zu sein.

Auf der linken Straßenseite wies ein Schild auf den Parkplatz eines Schwimmbades hin. Als Alexandra einen Blick auf die angrenzenden Liegewiesen warf, staunte sie nicht schlecht. Obwohl auf dem Parkplatz nur zwei Fahrzeuge standen, wimmelte es auf dem Freibadgelände von Kindern. Wie kann es in einem so winzigen Dorf so viele Kinder im schulpflichtigen Alter geben?, fragte sich Alexandra.

Drei Kilometer weiter fand sie die Antwort. An der Einfahrt zu einem weitläufigen Grundstück prangte ein großes Schild mit der Aufschrift Schullandheim Lengenich. »Daher also der Besucherandrang im Freibad«, murmelte sie. Im Vorbeifahren entdeckte sie zwischen den dicht stehenden Bäumen ein herrschaftlich wirkendes Gebäude, das Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erbaut worden sein musste, vielleicht sogar noch etwas früher. Es wirkte wie der Landsitz einer vermögenden Industriellenfamilie von anno dazumal.

In ihre Überlegungen versunken, hätte Alexandra beinahe den Wegweiser verpasst, der zwischen zwei Häusern nach rechts zeigte und die Richtung zum Kloster Lengenich angab. Zum Glück befand sich hinter ihr kein Wagen, sodass sie eine Vollbremsung machen konnte, um in die schmale Straße einzubiegen. Aber schon wenige Meter später endete Alexandras Abbiegeversuch an einem Holzgatter, das die komplette Fahrbahn versperrte. Privatweg! Durchfahrt verboten!, verkündete die krakelige Aufschrift auf dem Pappschild. Das alles wirkte amateurhaft, aber es änderte nichts an der Tatsache, dass ihr die Weiterfahrt hier verwehrt wurde.

Alexandra griff wieder nach der Landkarte und sah sich die Alternativrouten an, die zu ihrem Ziel führten. Nein, sie war nicht bereit, weitere Umwege in Kauf zu nehmen. Außerdem befand sie sich hier eindeutig auf der offiziellen Route zum Kloster, das belegte allein schon das Hinweisschild an der Hauptstraße. Dies konnte also unmöglich ein Privatweg sein!

Ratlos sah sie sich um, dann setzte sie den Wagen zurück und fuhr im Schritttempo weiter.

Nach einigen Metern entdeckte sie auf der linken Straßenseite eine weitere Wirtschaft. Der Biergarten vor dem Haus war trotz des schönen Wetters völlig verwaist. Alexandra stellte das Auto auf dem asphaltierten Parkplatz gleich neben dem Gebäude ab, griff nach ihrer Schultertasche, stieg aus und betrat kurz darauf das Lokal.

Die Wirtschaft verströmte den Charme längst vergangener Tage, einer Zeit, die Alexandra selbst nie erlebt hatte. Ihr kam es vor, als hätte sie eine Zeitreise in die Fünfzigerjahre angetreten, in denen Plastikelemente auch ganz unverhohlen nach Plastik hatten aussehen dürfen. Um die schlichten orangefarbenen Deckenlampen über den momentan nicht besetzten Tischen auf der rechten Seite des Gastraums schwirrten zahlreiche dicke Fliegen. Offenbar waren sie alle klug genug, einen Bogen um die klebrigen braunen Fliegenfänger zu machen, die wie abstrakte Kunstwerke um die Kabel der Lampen gewickelt worden waren.

An der Theke links neben der Tür saßen zwei Männer in robuster Arbeitskleidung. Beide drehten sich zu Alexandra um, bedachten sie mit einem kurzen abschätzenden Blick und wandten sich dann gleich wieder ab. Vermutlich handelte es sich bei ihnen um Landwirte aus dem Ort oder aus der näheren Umgebung, da ihre Gesichter von Wind und Wetter gegerbt waren, wie es bei Menschen der Fall war, die einen Großteil ihres Lebens unter freiem Himmel verbrachten und dabei schwere körperliche Arbeit verrichteten.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie zu den beiden, die ihr weiterhin den Rücken zeigten. »Ich möchte zum Klosterhotel ›Zur inneren Einkehr‹, aber der Weg wird durch einen Zaun versperrt. Wissen Sie zufällig, ob es eine Umleitung gibt, bei der ich nicht so einen riesigen Umweg in Kauf nehmen muss?«

Der eine Mann stieß den anderen an, sagte leise etwas zu ihm, dann begannen sie beide zu lachen, nahmen aber von Alexandra weiterhin keine Notiz.

Sie wollte gerade die Frage mit größerem Nachdruck wiederholen, als aus einem Nebenraum hinter der Theke eine Stimme ertönte:

»Habt ihr eigentlich schon mal was von Höflichkeit gehört?« Ein Perlenvorhang wurde zur Seite geschoben, und eine Frau erschien hinter dem Tresen. Sie trug die recht nachlässig blondierten Haare hochtoupiert, als wäre für sie die Mode irgendwann Anfang der Achtzigerjahre stehen geblieben. Dasselbe galt auch für die pinkfarbene Jeans und das hellgrüne Oberteil, die beide eindeutig etwas zu eng waren.

Die Wirtin lächelte Alexandra an. »Kommen Sie ruhig näher, junge Frau! Die zwei beißen nicht. Ich muss mich für den Hannes und den Karl entschuldigen. Diese Stoffel wissen einfach nicht, wie man sich benimmt.« Nach einem vorwurfsvollen Blick zu den zwei Männern sah sie wieder zu Alexandra. »Wissen Sie was? Wir zwei unterhalten uns einfach so über die Herrschaften, als wären sie gar nicht da. Und wenn wir schon dabei sind, kann ich ja auch gleich mal die Theke abwischen.« Ehe die Männer sich’s versahen, hatte die Wirtin ihnen die halb vollen Biergläser abgenommen und sie neben sich auf die Spüle gestellt. »Wer nicht da ist, kann auch nichts trinken, nicht wahr?«

Alexandra grinste, als sie vom Ende der Theke her beobachtete, wie Hannes und Karl empört die Augen aufrissen.

»Ach, hör schon auf, Angelika!«, protestierte der eine der Landwirte, der trotz seiner weißen Haare der Jüngere der beiden zu sein schien. »Gib mir …«

»Sieh an, du kannst ja doch reden, Hannes!«, unterbrach die Wirtin ihn in gespielter Begeisterung. »Dann bist du ja auch bestimmt in der Lage, der jungen Dame bei ihrem Problem zu helfen.«

»Seh ich etwa aus wie die Auskunft? Ich kann auch bei Harry mein Bier trinken. Da hab ich wenigstens meine Ruhe.«

»Mhm«, stimmte Angelika ihm zu. »Wenn du genug Geld dabeihast, um deinen Deckel zu bezahlen. Oder war das nicht der Grund, wieso Harry euch beide vor die Tür gesetzt hat?«

Der andere Mann, Karl, schüttelte frustriert den Kopf. Ihm musste noch mehr als seinem Zechkumpan an dem Bier gelegen sein, da er sich dazu durchringen konnte, sich zu Alexandra umzudrehen. »Sie sind fremd hier.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ja, deshalb brauche ich ja eine Auskunft.«

»Was er meint«, meldete sich nun auch Hannes zu Wort, »ist, dass Sie eine Fremde sind. Und wir in Lengenich haben’s nicht so mit den Fremden.«

»Pah! Ihr zwei habt’s nicht so mit Fremden«, korrigierte die Wirtin ihn.

»Nicht nur wir zwei«, widersprach Karl ihr. »Die meisten im Dorf …«

»Ja, ja, ich weiß«, schnitt ihm Angelika das Wort ab. »Nur dass die meisten im Dorf an den Fremden verdienen, also kann’s ja so schlimm auch wieder nicht sein.« Dann wandte sie sich an Alexandra. »Ich weiß nicht, ob Sie’s im Vorbeifahren gesehen haben, aber da vorn gibt es ein Schullandheim …«

»Das Gebäude, das aussieht wie eine Villa?«

»Ganz genau das«, bestätigte die Wirtin. »Das gehört der Stadt Bonn und wird das ganze Jahr hindurch von den Klassen der Bonner Schulen genutzt. Das bringt nicht nur Leben nach Lengenich, sondern auch Geld. Das Schwimmbad, der Imbiss, Harrys Kneipe und meine, wir profitieren alle davon …«

»Und das sind schon mehr als genug Fremde, die in unser Dorf einfallen! Und jetzt müssen diese bescheuerten Mönche auch noch so ein Walnusshotel aufmachen …«

»Das heißt Wellnesshotel, Hannes«, berichtigte Angelika ihn. »Und was die aufgemacht haben, ist eben kein Wellnesshotel. Aber um das zu wissen, müsstest du ja mal was anderes lesen als deine Revolverblättchen.«

»Angelika, so spricht man nicht mit seinen zahlenden Kunden«, hielt Karl ihr vor.

Die Frau nickte. »Du hast recht. So spricht man nicht mit seinen zahlenden Kunden. Nur habt ihr beide gestern Abend anschreiben lassen, und für das, was ihr mir heute weggetrunken habt, habe ich auch noch keinen Cent gesehen. Also erzähl mir nichts von zahlenden Kunden!«

»… und jetzt kommen noch mehr Fremde her«, fuhr Hannes unbeirrt fort. »Wir haben hier überhaupt keine Ruhe mehr.«

»Fahr mal ins nächste Dorf!«, empfahl Angelika ihm. »Dann kannst du dir angucken, was Ruhe bedeutet.« Auf Alexandras ratlosen Blick hin erklärte sie ihr: »Nicht ganz dreißig Häuser, davon stehen zwölf leer, weil da nichts mehr los ist, weil es da kein Geschäft mehr gibt und die Leute zu alt sind, um in einer Gegend zu leben, in der sie für jede Kleinigkeit auf andere angewiesen sind. Freiwillig will da keiner hinziehen. Wir in Lengenich können froh sein, dass wir das Schullandheim haben, sonst säh’s hier genauso aus.«

Alexandra nickte. »Eigentlich bin ich nur hereingekommen, um nach dem Weg zu fragen …«

»Tut mir leid, junge Frau, aber wenn die beiden Herrschaften erst mal in Fahrt gekommen sind, muss ich einfach Kontra geben«, sagte die Wirtin und lächelte entschuldigend. »Sie haben davon gesprochen, dass die Straße in Richtung Kloster gesperrt ist? Dann hat der alte Kollweck wieder zugeschlagen. Ihm gehört der Hof links von der Abzweigung. Die ersten paar Meter Straße waren früher mal die Zufahrt zu seinem Hof, aber dann hat das Land beschlossen, genau da eine Straße zu bauen. Kollweck hat sich lange gesträubt, die Fläche herzugeben. Wenn Sie mich fragen, ging es ihm nur darum, die paar Quadratmeter möglichst teuer zu verkaufen. Aber irgendwann ist den Leuten von der Verwaltung der Geduldsfaden gerissen, und dann haben sie ihn einfach enteignet. Das Ganze ist schon viele Jahre her, trotzdem macht er von Zeit zu Zeit die Straße dicht und behauptet, dass das immer noch sein Grund und Boden ist.«

»Und was soll ich jetzt machen?«, fragte Alexandra. »Ich habe mir auf der Karte angesehen, was für einen Umweg ich ansonsten fahren muss. Soll ich die Polizei rufen?«

Die Wirtin winkte ab. »Ach was, das dauert viel zu lange. Da hilft nur eines: den Krempel aus dem Weg räumen und Kollweck meckern lassen.« Sie sah die beiden Männer an der Theke auffordernd an, und als sie nicht reagierten, sagte sie: »Braucht ihr noch eine ausdrückliche Einladung, oder bewegt ihr jetzt euren Hintern hier raus und helft der jungen Dame?«

»Ist doch nicht mein Problem«, grummelte Karl und linste an Angelika vorbei nach seinem Bierglas, das nach wie vor auf der Spüle stand.

»Je schneller ihr für sie Kollwecks Hindernis aus dem Weg räumt, desto eher bekommt ihr euer Bier zurück.«

Schnaubend erhoben sich die beiden von ihren Hockern und zogen von dannen, jedoch nicht, ohne Alexandra missmutige Blicke zuzuwerfen.

»Na also«, meinte Angelika, »gleich haben Sie freie Fahrt. Sie glauben gar nicht, wozu Karl und Hannes fähig sind, wenn man ihnen droht, ihnen ihr Bier vorzuenthalten.«

»Danke, das war sehr nett von Ihnen«, sagte Alexandra und lachte. Sie verabschiedete sich und verließ das Lokal, um zu ihrem Wagen zu gehen.

Als sie zum zweiten Mal die Abzweigung in Richtung Kloster nahm, stellte sie erleichtert fest, dass Hannes und Karl das Gatter tatsächlich an den Fahrbahnrand geschoben hatten. Ein dritter, etwas älterer Mann stand bei ihnen, fuchtelte aufgebracht mit den Armen und redete lautstark auf sie ein.

Die drei waren so in ihre hitzige Diskussion vertieft, dass sie Alexandra gar nicht bemerkten, die kurz angehalten hatte und ihren Helfern durch das geöffnete Seitenfenster einen Dank zurief. Schmunzelnd gab sie wieder Gas.


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