5. Kapitel

»Ich habe Ihnen doch gesagt, Herr Wilden, dass die Bibliothek nicht …« Der Mönch, der auf Alexandra zugestürmt war, war etwa so groß wie sie und ein wenig beleibt. Das rötliche Haar trug er glatt nach hinten gekämmt, der krause Bart ließ ihn wie einen zerstreuten Professor wirken.

»Oh, entschuldigen Sie bitte!«, sagte er und errötete leicht. »Ich hatte mit jemand anderem gerechnet …«

»Alexandra Berger«, stellte sie sich vor und gab ihm die Hand. »Vom Magazin Traveltime

»Ach, Sie sind die Journalistin, von der Bruder Johannes gesprochen hat! Angenehm, ich bin Bruder Dietmar. Entschuldigen Sie meinen Ausbruch, doch ich hatte einen anderen Gast erwartet …«

Alexandra schmunzelte. »Herrn Wilden, richtig?«

»Ja, genau. Ich habe ihm bereits mehrfach gesagt, dass die Gäste unseres Hotels die Bibliothek nur in Begleitung eines der Mönche betreten dürfen. Aber da er dies einfach nicht akzeptiert, habe ich jetzt den hier mitgebracht, um dem einen Riegel vorzuschieben.« Er hielt einen Schlüssel in die Höhe. »Herr Wilden hat unberechtigt wertvolle Bücher abfotografiert, um sie im Internet probehalber zum Verkauf anzubieten. Angeblich hat er in kürzester Zeit Hunderte von Anfragen erhalten. Doch wir sind nicht am Verkauf unserer Bibliothek interessiert, und das haben wir diesem Mann auch versucht klarzumachen.«

»Ja, Herr Wilden macht es einem schwer, ihn zu mögen«, stellte Alexandra fest.

»Ach, niemand hier kann ihn leiden, nicht mal seine Angestellten. Er ist mit einer Gruppe leitender Angestellter im Hotel, damit sie gemeinsam einen unserer Motivationskurse absolvieren. Unserem Kursleiter fährt er ständig über den Mund und macht irgendwelche Verbesserungsvorschläge. Er nörgelt hier und kritisiert da.«

»Ja, das kann ich mir vorstellen. Dann werden Sie also jetzt die Bibliothek abschließen?«

»Die Bibliothek und jeden anderen Raum, in dem Wilden nichts zu suchen hat. Sie dürfen sich natürlich gern hier umsehen, aber solange er im Haus ist, bleibt diese Tür abgeschlossen.«

»Danke, auf das Angebot werde ich ganz bestimmt zurückkommen«, versicherte Alexandra ihm mit einem freundlichen Lächeln und verließ den Raum. »Oh, was machst du denn hier?«, entfuhr es ihr, als sie im Korridor vor der Bibliothek Kater Brown entdeckte. Er saß am Treppengeländer und schaute ihr entgegen, als hätte er auf sie gewartet. Prompt kam er zu ihr und strich um ihre Beine.

»Erstaunlich«, sagte Bruder Dietmar, der die Tür zur Bibliothek abschloss. »Das habe ich ja noch nie erlebt! Kater Brown ist normalerweise sehr zurückhaltend, vor allem gegenüber unseren Gästen. Sogar bei uns zieht er es meistens vor, uns aus sicherer Distanz zu beobachten. Eigentlich kommt er nur von sich aus näher, wenn sein Napf gefüllt wird.«

»Ich fühle mich geehrt, Kater Brown«, sagte Alexandra und hockte sich hin, um das weiche schwarze Fell des Katers zu streicheln. Er fing sogleich an zu schnurren und miaute zwischendurch immer wieder leise. »Du bist ja richtig gesprächig!«

»Ebenfalls vor allem dann, wenn es ums Essen geht«, bemerkte Bruder Dietmar lachend. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Klosterhotel, wenn Sie möchten. Oder hat Bruder Johannes Sie bereits herumgeführt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Dazu hatte er noch keine Gelegenheit.«

Gefolgt von Kater Brown, der offenbar nicht von Alexandras Seite weichen wollte, gingen sie an einem Büro vorbei, in dem man die Verwaltung des Klosterhotels eingerichtet hatte. Dort saßen zwei Mönche an hochmodernen Computern, ein Anblick, der Alexandra im ersten Moment ein wenig stutzig machte.

»Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich wundern. Der Raum wirkt wie ein Fremdkörper in diesen altehrwürdigen, schlichten Mauern«, bemerkte Bruder Dietmar mit einem Seitenblick auf Alexandra. »Aber wir wollen die Technik wirklich nur in dem Umfang einsetzen, der unbedingt nötig ist. Der Rest des Hauses entspricht ganz den Erwartungen unserer Gäste. Es soll alles bescheiden und einfach wirken. Außer Ihnen bekommt auch niemand die Verwaltung zu sehen, also wird die Illusion nicht gestört.« Bruder Dietmar schloss die Tür und gab Alexandra mit einer Geste zu verstehen, dass die Führung weiterging.

»Wenn man vom iPad am Empfang absieht«, fügte sie schmunzelnd an.

»Ach, das. Ja. Das Benutzen von Tablet-PCs war eine der Bedingungen, damit wir den Kredit bekommen. Und die Dinger ebenfalls.« Er griff in seine Kutte und holte ein Handy hervor – genauer gesagt, ein Smartphone. »Diese Kompromisse mussten wir eingehen.«

Alexandra runzelte die Stirn. »Aber warum?«

»Eine von Hand geführte Buchhaltung kann nicht auf Tastendruck die aktuellen Zahlen auswerfen, und die Leute von der Bank bestanden darauf, jederzeit diese Zahlen anfordern zu können, ohne erst tagelang auf die Unterlagen warten zu müssen.« Er zuckte bedauernd mit den Schultern. »Offenbar sind wir für die Bank trotz all unserer Bemühungen ein etwas wackliger Kandidat, und nach dem Debakel mit unserem Abt will man uns den Kredit immer nur in den Häppchen überlassen, die wir gerade benötigen. Offenbar will man so verhindern, dass noch mal jemand mit ein paar Millionen untertaucht.«

Alexandra nickte. »Na ja, aus Sicht der Bank kann man das verstehen. Aber wieso die Handys?«

»Wir sollen wie die Mitarbeiter in jedem anderen Hotel jederzeit erreichbar sein. Es geht nicht, dass wie früher in einem einzigen Raum in unserem Kloster ein klobiges altes Telefon mit Wählscheibe steht, das keine Anrufe aufzeichnen und keine SMS empfangen kann.« Bruder Dietmar wiegte den Kopf hin und her. »Anfangs war ich ziemlich skeptisch, weil das ja etwas … etwas sehr Weltliches ist, aber mittlerweile bin ich wie die meisten meiner Brüder von dieser Technik richtig begeistert.« Sie hatten das Ende des Korridors in diesem Trakt erreicht, der Gang bog nach links ab. Bruder Dietmar öffnete eine Tür mit der Aufschrift Saal I, und mit einem Mal wurde Stimmengewirr laut.

Gut ein Dutzend Männer und Frauen standen vor im Kreis angeordneten Staffeleien und traktierten Leinwände mit Ölfarbe. Ein paar der Anwesenden wandten sich kurz um und nickten Bruder Dietmar und Alexandra zu, die sich suchend umschaute.

»Wo ist denn das Modell oder das Stillleben, das sie malen sollen?«, fragte sie.

Der Mönch schüttelte den Kopf. »Wir arbeiten in diesem Kurs nicht mit Modellen oder vorgegebenen Motiven. Die Teilnehmer sollen auf der Leinwand Gefühle zum Ausdruck bringen oder malerisch bestimmte Themen umsetzen. Heute geht es um den Begriff ›Teamwork‹.« Er deutete auf die Leinwand einer Frau mit kurzen schwarzen Haaren, die ein Spektrum aus verschiedenen Farben gemalt hatte. »Sehen Sie, wenn ich diese Arbeit richtig verstehe, ist hier folgender Aspekt von Teamwork dargestellt: Die Farben geben sich gegenseitig Halt und stützen einander. Würde eine der Farben sich an einer anderen Position befinden oder fehlen, wäre das Spektrum fehlerhaft und damit unbrauchbar.«

»Aha«, sagte Alexandra nur und ließ sich von dem Mönch aus dem Saal führen.

»Das ist übrigens die Gruppe, mit der Herr Wilden hier ist«, erläuterte er, als sie weiter durch den Korridor gingen. »Sie belegen im Augenblick die meisten Zimmer, die übrigen sind Gäste, die allein oder zu zweit hergekommen sind. Sie unternehmen ausgedehnte Wanderungen, wofür sich die Lage des Klosters natürlich hervorragend eignet. Oder sie nehmen am Schweigekreis teil.«

»Schweigekreis?«

»Ja, der trifft sich immer in Saal IV, den wir deshalb auch nicht betreten können. Die Teilnehmer sitzen dort ein bis zwei Stunden im Kreis und schweigen, um die innere Ruhe wiederzufinden, die ihnen im Alltag abhandengekommen ist.«

Alexandra nickte. »Wenn alle Gästezimmer belegt sind, kann man aber doch sagen, dass Ihr Klosterhotel gut ankommt, oder?«

»Das ja«, bestätigte Bruder Dietmar. »Wir haben regen Zulauf. Dennoch wird es noch Jahre dauern, bis wir wirklich rentabel arbeiten können.«

»Ja, ich habe davon gelesen, dass das Kloster kurz vor dem Ruin stand. Wie konnte es überhaupt dazu kommen?«

»Das ist eine lange, unrühmliche Geschichte oder besser gesagt: Sie hat vor langer Zeit begonnen. Abt Bruno hat über Jahre hinweg die Bücher gefälscht und Gelder beiseitegeschafft, die unter anderem aus Förderprogrammen der EU stammten. Solche Zahlungen hat er dann auf ein zweites Konto überweisen lassen, weshalb das Geld bei uns nie angekommen ist. Die Verwendungsnachweise für diese Gelder waren von vorn bis hinten gefälscht, einschließlich der Belege beispielsweise für angebliche Umbauarbeiten. Unter anderem soll der komplette Dachstuhl erneuert worden sein, was Abt Bruno mit Scheinrechnungen belegt hat. In Wahrheit ist das Dach seit dem späten neunzehnten Jahrhundert nicht mehr umfassend saniert worden. Und als auf einmal eine Betriebsprüfung anstand, hat der Abt sich einfach abgesetzt. Er hat uns im Stich gelassen, uns wurde vom Finanzamt der Status der Gemeinnützigkeit aberkannt. Die Bank ist heute im Grunde genommen der wahre Eigentümer der gesamten Anlage, weil sie uns auf Vermittlung des Erzbischofs einen Kredit über mehrere Millionen bewilligt hat. Das sage ich selbstverständlich ganz im Vertrauen, das wissen Sie doch, nicht wahr?«

»Ja, natürlich«, versicherte Alexandra ihm. »Ich schreibe ohnehin Reisereportagen. Falls Bruder Johannes damit einverstanden ist, kann ich solche Details eventuell mitaufnehmen – aber nur dann. Vielleicht wird der eine oder andere Gast eher dazu bereit sein, einen Aufenthalt im Klosterhotel zu buchen, wenn er weiß, mit welchem Ehrgeiz Sie alle ans Werk gegangen sind, um Ihr Zuhause zu retten.«

»Wissen Sie, wenn Sie von Ehrgeiz reden, dann hat Bruder Johannes jeden von uns übertroffen. Ohne ihn hätten wir das niemals geschafft. Er ist ein wirklicher Visionär.«

»Dann ist das hier alles seine Idee?«

»Ohne jeden Zweifel. Als er sah, was unser Abt angerichtet hatte, verlor er nicht den Mut, sondern überlegte, was wir tun können, um unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, anstatt zusehen zu müssen, wie uns unser Zuhause genommen wird. Er schloss sich eine Woche lang in seinem Zimmer ein, niemand durfte ihn stören, und dann … dann hatte er das alles hier ausgearbeitet. Er hatte genau überlegt, was so bleiben konnte, wie es war, und was umgebaut werden musste. Dann führte er endlose Verhandlungen mit unserem Orden. Sie können sich denken, dass die Ordensleitung zunächst von seinen Plänen nicht begeistert war. Doch schließlich stimmte sie zu. Vielleicht hat vor allem die Tatsache, dass wir zumindest teilweise und in einer Art Rotationsverfahren, wenn Sie so wollen, das monastische Leben weiterfühlen, dazu beigetragen, sie umzustimmen.« Bruder Dietmar fuhr sich mit der Hand durch den Bart. »Als Nächstes holte Bruder Johannes dann unzählige Angebote von Handwerksbetrieben ein, mit denen er sich an die Bank wandte. Dort war man zum Glück von seiner peniblen Art so angetan, dass man uns die nötigen Gelder zur Verfügung stellte.« Bruder Dietmar lachte. »Als dann die Bauarbeiten begannen, trieb Bruder Johannes die Handwerker mit seiner Art fast in den Wahnsinn. Er hatte mit ihnen einen verbindlichen Zeitplan vereinbart und wachte mit Argusaugen darüber, dass sie diesen Plan auch einhielten. Sobald es irgendwo eine Verzögerung gab, machte er dem betreffenden Betrieb die Hölle heiß und drohte mit Konventionalstrafen, sollte sich die Eröffnung des Hotels dadurch verschieben.«

»Ein sehr engagierter Bauherr, würde ich sagen.«

»Und sehr überzeugend«, ergänzte Bruder Dietmar schmunzelnd. »Alle Arbeiten waren früher als geplant abgeschlossen, und insgesamt konnten wir so fast hunderttausend Euro einsparen.«

»Beachtlich. So sollte woanders auch vorgegangen werden.«

Der Mönch stimmte Alexandra zu, und sie gelangten zu einer Wendeltreppe. Kater Brown, der vorgelaufen war, sprang zielstrebig die Stufen nach unten.

Durch einen Seiteneingang verließen sie das Hauptgebäude und gelangten auf einen schmalen gepflasterten Pfad, der an der kleinen Kapelle entlang in beide Richtungen verlief. Der Mönch bog nach links ab. Alexandra folgte ihm bis zu einer Steintreppe, die auf einer Rasenfläche endete. Als Alexandra nach oben sah, entdeckte sie ihr Zimmerfenster und den Mauervorsprung, auf dem der Kater balanciert sein musste, um in ihre Unterkunft »einsteigen« zu können.

Sie bogen abermals links ab. Alexandras Blick fiel auf mehrere gesondert stehende, kleinere Gebäude. »Was ist das da drüben?«, wollte sie wissen.

»Das linke ist das ehemalige Gästehaus, die anderen wurden einmal als Wirtschaftsgebäude genutzt«, erklärte der Mönch. »Der Stall, der Getreidespeicher, die Brauerei. Früher verlief um das Ganze herum noch eine Mauer, aber die wurde vor bestimmt zwanzig Jahren komplett abgerissen, um das Kloster für die Welt zu öffnen. Die Anlage sollte auf Außenstehende nicht so sehr wie ein Gefängnis wirken. Diese Gebäude benötigen wir derzeit nicht, trotzdem hat Bruder Johannes sie bereits in seine Planung einbezogen. Sie sollen nach und nach zu Unterkünften umgebaut werden, wenn das Hotel langfristig so ausgelastet ist, dass wir mehr Gäste unterbringen müssen.«

»Bruder Johannes hat offenbar an alles gedacht.«

»Oh ja«, entgegnete Bruder Dietmar stolz. »Er ist für uns alle ein Vorbild.«

Als sie um das lang gestreckte Gebäude herumkamen, zeigte der Mönch in Richtung des Kräutergartens. »Da ist ja Bruder Johannes. Vielleicht wollen Sie ja jetzt mit ihm reden?«

Alexandra schaute nach links und rechts, aber von Tobias war weit und breit nichts mehr zu sehen. »Wenn er ein wenig Zeit für mich hat …«

»Kommen Sie, wir fragen ihn!«, sagte Bruder Dietmar.

Während sie sich dem Mönch näherten, der vor einem der Beete kniete und Unkraut zupfte, hechtete Kater Brown im Zickzack durch den Kräutergarten, um einen Schmetterling zu jagen, der ihm aber immer wieder entwischte.

»Bruder Johannes!«, rief Bruder Dietmar, als sie nur noch ein paar Meter von ihm entfernt waren. »Hier ist Besuch für dich.«

Der Angesprochene erhob sich, drehte sich um und kniff die Augen gegen die bereits etwas tiefer stehende Sonne zusammen. Bruder Dietmar zog sich zurück.

Alexandra stockte einen Moment der Atem, als sie Bruder Johannes sah. Zu dem grauen Haarkranz trug der schmale, ältere Mann einen kurz geschnittenen, sehr gepflegten grauen Bart. Die vollen, dunklen Augenbrauen bildeten einen interessanten Kontrast dazu. Als der Mönch Alexandra freundlich anlächelte, erschienen feine Fältchen in seinen Augenwinkeln. Alexandra blinzelte. Im ersten Moment war es ihr so vorgekommen, als stünde sie Sean Connery in seiner Rolle als William von Baskerville in Der Name der Rose gegenüber. Die Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Männern wurde zusätzlich unterstrichen durch die Kutte, die Bruder Johannes wie alle seine Mitbrüder trug.

»Sie müssen Frau Berger sein«, sagte der Mönch. Seine Stimme klang dunkel und ein wenig rau. Alexandra nickte und reichte ihm die Hand. »Ihr Kollege, Herr Rombach, hat Sie mir bereits beschrieben«, fügte Bruder Johannes erklärend hinzu.

Alexandra wollte lieber nicht darüber nachdenken, wie diese Beschreibung ausgefallen war, denn sie kannte Männer von Tobias Rombachs Schlag und deren Vokabular, wenn es darum ging, eine Frau zu beschreiben. Hoffentlich hatte Tobias sich diesmal, angesichts seines geistlichen Gesprächspartners, zurückgehalten.

»Aber keine Angst«, fuhr Bruder Johannes fort, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Er hat nur davon gesprochen, dass Sie schöne blonde Haare haben. Leider haben Sie ihn verpasst«, ergänzte er und deutete vage in Richtung des Eingangs.

»Oh, zu schade«, erwiderte sie ungewollt in einem spöttischen Tonfall, der den Mönch aufhorchen ließ.

»Sie beide verstehen sich nicht gut?«

Alexandra bekam vor Verlegenheit einen roten Kopf. Das Letzte, was sie wollte, war, unbeteiligte Dritte in ihren Dauerstreit mit Tobias hineinzuziehen.

»Das ist doch nur natürlich«, versicherte der Mönch ihr. »Wir sind zwar alle Gottes Kinder, aber wir müssen nicht immer alle miteinander auskommen.«

Sie zog die Brauen hoch. »Tatsächlich? Ich dachte, die Kirche predigt stets Frieden und Brüderlichkeit«, rutschte es ihr heraus, woraufhin sie verärgert über sich selbst die Augen verdrehte. Wie konnte sie nur so reden?

Bruder Johannes lächelte sie milde an. »Machen Sie sich deshalb keine Vorwürfe! Wir in unserem Kloster sehen die Welt so, wie sie ist. Wir sind Realisten und im steten Kontakt zu den Menschen. Es kann nun mal nicht jeder mit jedem gut auskommen. Die Welt wäre unerträglich, wenn das der Fall wäre. Sie wäre … so eintönig. Alle würden das Gleiche denken, jeder würde dem anderen recht geben und ihm Komplimente machen, weil er so einen guten Geschmack hat – nämlich den gleichen wie alle anderen.«

Alexandra fehlten sekundenlang die Worte.

»Kommen Sie, lassen Sie uns ein Stück in diese Richtung spazieren!« Der Mönch deutete auf die momentan ungenutzten Wirtschaftsgebäude. »Dahinter stehen ein paar Bänke, da können wir uns hinsetzen und uns unterhalten.«

Sie nahmen im Sonnenschein auf einer alten Holzbank Platz, die einen neuen Anstrich dringend nötig hatte. Kaum hatte Alexandra darauf Platz genommen, sprang Kater Brown auch schon auf ihren Schoß, um mit den Vorderpfoten ihre Oberschenkel durchzukneten.

»Hey, was gibt denn das?«, protestierte sie verdutzt. »Ich bin doch kein Kissen, das man durchwalkt, bevor man es sich gemütlich macht!«

Kater Brown miaute zweimal energisch. In Alexandras Ohren klang das wie ein Widerwort, doch dann rollte er sich auf ihrem Schoß zusammen und schloss die Augen. Als er Alexandras streichelnde Hände auf seinem Rücken spürte, fing er sogleich zu schnurren an.

»Also, was möchten Sie von mir wissen, Frau Berger?«, erkundigte sich Bruder Johannes.

Sie fasste kurz zusammen, was sie bereits von Bruder Dietmar erfahren hatte, und Bruder Johannes betonte, dass es ihr freistehe, diese Informationen in ihrem Artikel zu verwenden.

Natürlich, so räumte er ein, wäre es ihm lieber, wenn man die unrühmliche Vergangenheit nun endlich auf sich beruhen lassen könnte. Immerhin war dieses Kapitel jetzt abgeschlossen, sie hatten einen Neuanfang gewagt.

»Eine Sache kann ich in meinem Artikel ganz bestimmt nicht unerwähnt lassen«, fuhr Alexandra fort und machte sich Notizen. »Eine Übernachtung im Klosterhotel kostet ungefähr so viel wie die in einem luxuriösen Hotel einer Großstadt, und doch bieten Ihre Zimmer hier keinerlei Luxus. Die Einrichtung ist spartanisch. Wie können Sie genauso teuer sein wie ein Hotel in Toplage, obwohl alle sonst üblichen Annehmlichkeiten fehlen? Ich meine, wir befinden uns hier in der tiefsten Eifel. Außer Wanderwegen gibt es nicht viel Bemerkenswertes.« Sie hatte die Frage absichtlich etwas überspitzt formuliert, weil sie hören wollte, wie leidenschaftlich Bruder Johannes für sein Projekt eintrat, wenn es mehr oder weniger unverhohlen unter Beschuss genommen wurde.

Er nickte verstehend. »Sehen Sie, das ist Teil der Philosophie, die mit dem Namen des Hotels verbunden ist, ›Zur inneren Einkehr‹. Wir haben unser Konzept zuvor genau durchdacht. Bestimmt hätten wir einen Investor finden können, der die Klosteranlage in ein Luxushotel mit allem Drum und Dran verwandelt, doch so etwas bekommt der Gast überall. Wir wollten einen ganz anderen Weg gehen – zugegebenermaßen auch, weil wir die Möglichkeit haben wollten, das frühere Klosterleben eingeschränkt weiterzuführen. Davon abgesehen möchten wir unseren Gästen die Chance geben, wirklich zu sich selbst zu finden, und das kann man nur, wenn man nicht von dem Luxus umgeben ist, über den man jeden Tag verfügt. Wir haben ein Motto entwickelt, das unsere Geschäftsphilosophie auf den Punkt bringt: ›Verzicht – der neue Luxus.‹«

»Das klingt gut, ich glaube, das würde ich gern als Überschrift verwenden.«

»Das würde mich sogar freuen. Indem wir Verzicht üben, begreifen wir erst, wie viel wir eigentlich besitzen. Wir haben zum Beispiel auf keinem Zimmer einen Fernseher, weil wir gar nicht erst die Möglichkeit dieser Art von Zerstreuung anbieten wollen. Unsere Gäste sollen wieder sich und ihre wahren Bedürfnisse wahrnehmen – und so seelisch gesunden. Und natürlich verlangen wir dafür einen angemessenen Preis.«

Alexandra nickte nachdenklich.

»Um erfolgreich zu sein, müssen wir uns von anderen Hotels und Schönheitsfarmen unterscheiden. Davon sind wir überzeugt. Sie haben es ja angesprochen: Wir liegen in einer Region, die touristisch nicht sehr attraktiv ist, es sei denn, man möchte wandern oder die Natur erleben. Doch genau das kommt unserem Ansatz doch zugute. Hier können wir den Blick des Menschen auf sich selbst und auf Gottes Schöpfung, die ihn umgibt, schärfen. Die erste Resonanz zeigt, dass wir mit diesem Ansatz auf dem richtigen Weg sind.«

»Sie sind augenblicklich ausgebucht, nicht wahr?«

»Wir haben noch gar nicht richtig für uns werben können. Trotzdem hat sich das Besondere unseres Klosterhotels schon herumgesprochen.« Er nickte zufrieden. »Mit einer solchen Reaktion hatte ich nicht gerechnet, wenn ich ehrlich sein soll. Natürlich habe ich gebetet, dass wir keinen Schiffbruch erleiden, aber zum Glück war ich auch nicht der Einzige, der an den Erfolg geglaubt hat. Wenn die Bank mein Konzept für ein Luftschloss gehalten hätte, wäre uns nicht ein Cent an Krediten gewährt worden. Bruder Dietmar hat Ihnen ja bereits davon erzählt.«

»Ja, und er hat Sie und Ihre Leistung ganz besonders hervorgehoben. Er sagte, ohne Sie wäre das Projekt niemals Wirklichkeit geworden.«

Bruder Johannes schüttelte den Kopf. »Kein Projekt ist jemals das Werk eines Einzelnen. Die Idee mag von einer Einzelperson stammen, aber dann müssen alle an einem Strang ziehen, um sie zu verwirklichen. Meine Brüder haben so wie ich all unsere Kraft in dieses Klosterhotel gesteckt, und der erste Erfolg scheint uns recht zu geben.«

Es war eindeutig, dass Bruder Johannes die entscheidende Rolle, die er bei der Umgestaltung des Klosters gespielt hatte, aus Bescheidenheit herunterspielte, aber Alexandra würde das respektieren. Wenn er nicht im Rampenlicht stehen wollte, gab es für sie keinen Grund, ihn in den Mittelpunkt zu rücken.

Ein sonderbares Geräusch ließ sie aufhorchen, und als Alexandra erkannte, wer es verursachte, brach sie in fröhliches Gelächter aus. »Lieber Himmel, ich wusste nicht, dass Katzen schnarchen können«, murmelte sie verblüfft. »Und erst recht nicht so laut.«

Bruder Johannes stimmte in ihr Lachen ein. »Offensichtlich kann Kater Brown Sie besonders gut leiden. Bei keinem von uns würde er sich auf den Schoß legen.«

Alexandra kraulte den Kater unter dem Kinn, und das Schnarchen brach ab. Dafür schmatzte Kater Brown zufrieden. »Woher hat er eigentlich den Namen?«

»Den habe ich ihm gegeben«, sagte Bruder Johannes. »Er saß eines Tages im Refektorium auf dem Platz, der früher der Stammplatz von Bruder Gerald war. Möge Gott seiner Seele gnädig sein! Ich weiß nicht, ob Sie es schon gesehen haben, aber am Halsansatz hat der Kater einen kleinen weißen Fleck, und wenn er sich kerzengerade hinsetzt und den Hals streckt, dann erinnert das an den weißen Kragen eines Geistlichen. Na ja, kurz und gut: Der Kater saß auf Bruder Geralds Platz, dieser Mitbruder erinnerte mich in seiner Art stets an Heinz Rühmann, und von da war der Weg nicht mehr weit zu Pater Brown und dann zu Kater Brown.«

Alexandra lächelte. »Ich glaube, ich sollte den Kater in meinem Artikel erwähnen. Ist doch eigentlich kurios, dass in einem ehemaligen Kloster ausgerechnet eine schwarze Katze die gute Seele ist. So viele Menschen glauben immer noch, schwarze Katzen bringen Unglück, und Ihr Hotel boomt trotzdem.«

Den Abend verbrachte Alexandra vor ihrem Laptop, um ihre ersten Eindrücke vom Klosterhotel festzuhalten. Dabei arbeitete sie die Checkliste ab, die sie schon vor einer Weile erstellt hatte, um während einer Reise nichts Wichtiges zu vergessen. Kater Brown war seit dem Nachmittag nicht mehr von ihrer Seite gewichen. Jetzt lag er zusammengerollt vor dem geschlossenen Fenster auf der Fensterbank und schlief fest, nachdem er zuvor noch etwas von den Katzenleckerli erbettelt hatte, die Alexandra aus dem Supermarkt mitgebracht hatte.

Das Gespräch mit Bruder Johannes war recht informativ gewesen, und seine Einstellung, mit der er auf den Ruin des Klosters reagiert hatte, würde den Aufhänger für ihren Artikel liefern. Um möglichen späteren Beschwerdebriefen ihrer Leser vorzubeugen, würde sie darin auch vor dem Fehlen jeglicher Luxusausstattung »warnen«. Alexandra machte sich Notizen, was der Fotograf, der höchstwahrscheinlich Mitte der kommenden Woche das Klosterhotel besuchen würde, alles ablichten sollte. Sie wollte vor allem eine Aufnahme haben, die das Kloster im ersten Licht des neuen Tages zeigte.

Nachdem sie die Datei gesichert hatte, beschloss sie, nach ihren Mails zu sehen. Alexandra öffnete gerade die erste, als auf einmal das Licht im Zimmer ausging. Sie stutzte, stand auf und tappte zur Tür, betätigte ein paarmal den Schalter, aber nichts geschah. Hm, sie würde sich wohl ins Foyer begeben und einen der Mönche nach einer neuen Glühbirne fragen müssen. Hoffentlich war der Empfangstresen noch besetzt!

Doch auch der Flur vor ihrem Zimmer lag im Dunkeln. Nur ein schwacher grünlicher Schein ging von den Notausgang-Schildern aus, die in Abständen an der Wand befestigt waren. Auch in den anderen Gästezimmern schien es dunkel zu sein, jedenfalls drang kein Licht unter einem Türspalt auf den Gang hinaus. Alexandra sah auf die Leuchtanzeige ihrer Armbanduhr: 22:00 Uhr. Erst da stieg eine Ahnung in ihr auf. Ein Blick auf ihren Laptop bestätigte ihre Vermutung: Seine Anzeige verriet ihr, dass er nicht länger aus der Steckdose gespeist wurde, sondern auf Akkubetrieb umgeschaltet hatte. Von nun an würde sie noch etwa zwei Stunden Zeit haben, um ihre Arbeit zu erledigen.

Seufzend blätterte sie durch den Prospekt, den die Klosterverwaltung ihr zugeschickt hatte, und nach einiger Suche entdeckte sie den sehr versteckt untergebrachten Hinweis, dass um zweiundzwanzig Uhr die Nachtruhe begann und alle Aktivitäten bis zum nächsten Morgen eingestellt wurden. Ein wenig verärgert über dieses »Kleingedruckte«, ergänzte sie ihren Artikelentwurf um einen Vermerk, dass sie auf diesen Punkt ausdrücklich hinweisen musste.

Wenigstens spendete der Monitor ihres Computers genügend Licht, damit sie sich ausziehen konnte. Eine Katzenwäsche im kleinen »Bad« musste für heute genügen. Als sie dann allerdings den Rechner herunterfuhr, sich ins Bett legte und auch die Taschenlampe im Handy ausschaltete, meinte Alexandra im ersten Moment, keine Luft mehr zu bekommen. Sie empfand die Finsternis, in die ihr Quartier getaucht war, als erdrückend. Doch dann schalt sie sich selbst eine Närrin. Das war ja albern! Was sollte ihr hier, mitten unter Mönchen, schon passieren?

Sie zwang sich, tief durchzuatmen, und nach einigen Minuten fühlte sie sich etwas besser, zumal sich ihre Augen an die Schwärze gewöhnt hatten und sie vage Konturen erkennen konnte. Entschlossen schwang sie die Beine aus dem Bett und stand auf. Mit ausgestreckten Armen tastete sie sich zum Fenster vor, weil sie einen Blick nach draußen werfen wollte. Als sie dabei den schlafenden Kater Brown berührte, gab der ein leises Maunzen von sich, kümmerte sich dann aber weiter nicht mehr um die Störung.

Alexandra beugte sich vor und kniff die Augen zusammen, da sie Mühe hatte zu erkennen, wo der Hügel endete und wo die schwarze Nacht begann. Im Zuge ihrer Recherchen war sie schon relativ viel herumgekommen, aber noch nie war sie ihrem Zuhause so nahe gewesen und hatte sich zugleich wie auf einem anderen Planeten gefühlt. Nur allmählich konnte sie die Sterne ausmachen, die immer zahlreicher wurden, je länger Alexandra nach oben sah.

Es war ein faszinierendes Schauspiel, wie sie es so lange nicht mehr erlebt hatte und das sich nur in einer Umgebung wie dieser entfalten konnte, in der der Himmel noch relativ frei von Umweltverschmutzung war. Weil die Grenze zwischen Himmel und Erde sich in der Schwärze verlor, fühlte Alexandra sich fast so, als schwebte sie im Weltraum.

Sie wusste nicht, wie lange sie so vorgebeugt am Fenster gestanden hatte, doch auf einmal spürte sie Müdigkeit in sich aufsteigen. Höchste Zeit, schlafen zu gehen!, sagte sie sich. Morgen wartet eine Menge Arbeit auf mich …

Ein hartnäckiges, für ihre Ohren viel zu lautes Glockenläuten riss Alexandra aus dem Schlaf. Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass es erst sechs Uhr war.

Alexandra stöhnte genervt. Eigentlich war dieses Klosterhotel allenfalls für Masochisten zu empfehlen.

Sie hielt sich die Ohren zu und wollte sich auf die Seite drehen, doch auch das war nicht möglich. Kater Brown hatte sich offensichtlich irgendwann in der Nacht auf ihren Bauch gelegt und dort gemütlich zum Schlafen zusammengerollt. Und er schien nicht bereit zu sein, dieses warme Plätzchen zu verlassen. Nur das leichte Zucken seiner Ohren verriet, dass auch er das dröhnende Glockengeläut hörte.

Nach endlosen zehn Minuten kehrte wieder Ruhe ein, und Alexandra kuschelte sich erneut ins Kissen. »Nur noch einen Moment«, murmelte sie, »nur den Traum zu Ende träumen …«

»Alexandra? Bist du da?«

Sie stöhnte leise. Warum konnte man sie nicht in Ruhe lassen? Da hatten endlich die Glocken aufgehört zu läuten, und nun brüllte Tobias den ganzen Flur zusammen! Wahrscheinlich wollte er sich und aller Welt beweisen, dass er im Gegensatz zu ihr, Alexandra, ein Frühaufsteher war. Na ja, vielleicht ging er ja wieder weg, wenn sie nicht reagierte. Oder er kam zu der Überzeugung, dass sie bereits ihr Zimmer verlassen hatte. Hauptsache, er hörte mit dem Lärm auf!

Aber er lärmte weiter, und kurz darauf war auch noch eine zweite Stimme zu vernehmen. Eine tiefere Stimme, die sagte: »Wenn Sie sich Sorgen machen, werde ich jetzt die Tür öffnen.«

Die Tür öffnen? Hatte sie das richtig verstanden? Nur weil sie nicht gleich um sechs Uhr aufstand, wollte man die Tür öffnen, um sie aus dem Bett zu zerren? War das wirklich ein Hotel, oder war sie versehentlich in ein Gefängnis geraten?

Ein Schlüssel wurde ins Schloss geschoben. Sofort war Alexandra hellwach und sprang aus den Federn. Kater Brown wurde ein Stück durch die Luft gewirbelt und landete mit einem protestierenden Miauen auf der Matratze.

Alexandra bekam die Türklinke zu fassen, gerade als jemand von außen die Tür aufziehen wollte. »Hey, hey, hey, langsam!«, rief sie aufgebracht. »Was soll das?«

Sie öffnete die Zimmertür einen Spaltbreit. Auf dem Flur standen Tobias und ein hünenhafter Mönch.

»Du bist ja doch da«, sagte Tobias und klang sehr erleichtert.

»Natürlich bin ich da. Nur weil ich nach dem Sechsuhrläuten noch fünf Minuten liegen bleibe, musst du nicht gleich den Schlüsseldienst bestellen!«

»Fünf Minuten?«, gab er zurück. »Wir haben fast neun Uhr.«

»Was?« Sie sah auf die Armbanduhr. Tatsächlich. Es war drei Minuten vor neun. »Ich bin wohl noch mal eingeschlafen«, murmelte sie. »Augenblick, ich ziehe mich nur schnell an, dann bin ich sofort da. Ähm … ist irgendwas passiert? Warum die Aufregung?«

Tobias hob beschwichtigend die Hand. »Gleich«, erwiderte er. »Mach dich erst mal fertig.«

Als Alexandra zehn Minuten später mit Kater Brown im Schlepptau ihr Zimmer verließ, lehnte Tobias an der Wand neben seiner Unterkunft. Er stieß sich ab und ging Alexandra entgegen.

»Tut mir leid, dass ich dich eben so angefahren habe, aber ich dachte wirklich, es wäre erst kurz nach sechs.« Als er lächelnd nickte, fragte sie: »Also, was gibt es?«

»Wir waren in Sorge um dich. Wir dachten nämlich, du wärst auch verschwunden.«

»Auch?«

»Ja, Wildens Mitarbeiter vermissen ihren Chef. Er ist weder zum Frühstück noch kurz darauf zum ersten Motivationskurs erschienen«, sagte Tobias.

»Der Chef des Sklaventreiberverbandes? Vermisst ihn tatsächlich irgendjemand? Und möchte ihn wirklich jemand wiederfinden?«

Tobias kratzte sich am Kopf. »Nein, im Ernst. Komisch ist das schon … Sein Cayenne steht unverschlossen auf dem Parkplatz, der Schlüssel steckt noch, aber Wilden ist nirgends zu finden.«

»Würde mich nicht wundern, wenn ihn jemand erschlagen und verscharrt hätte«, brummte sie und bemerkte Tobias’ missbilligenden Blick. »Was denn? Vielleicht hat er mit seiner unerträglichen Art irgendwem den letzten Nerv geraubt.«

Darauf erwiderte Tobias nichts.

»Ach komm, er wird schon wieder auftauchen! Gibt es eigentlich noch Frühstück?« Alexandra konnte Tobias’ Sorge um diesen Choleriker beim besten Willen nicht teilen. Okay, sie wünschte ihm auch nicht, dass ihm etwas Ernstes zugestoßen war, aber sie hätte mit der Suche nach ihm wenigstens zwei Tage gewartet, um erst mal die Ruhe zu genießen.

»Nein, das wird bis sieben Uhr serviert, und das ist schon ein großes Zugeständnis an die Gäste. Früher läuteten die Glocken um fünf Uhr, und bis um halb sechs hatten alle gegessen.«

»Oh, dann will ich mich natürlich nicht beschweren«, merkte sie mit einem schiefen Grinsen an, doch ihre anfängliche Begeisterung für das Konzept des Klosterhotels erhielt einen weiteren Dämpfer.

Sie hatten das Foyer erreicht. Durch das Fenster konnte Alexandra sehen, dass sich die anderen Gäste auf dem Platz vor dem Haupteingang versammelt hatten und mehr oder weniger lebhaft miteinander diskutierten. »Ein paar von ihnen machen aber keinen sehr besorgten Eindruck«, stellte sie fest.

»Jeder reagiert bei so etwas anders«, antwortete Tobias, dem es ganz offensichtlich nicht gefiel, dass sie das Ganze so lässig nahm.

Aber wie hätte sie es sonst nehmen sollen? Bei jeder ihrer Begegnungen hatte Wilden sich wie ein Ekel aufgeführt. Da machte es ihr nun nichts aus, eine Weile auf seine Gesellschaft zu verzichten.

»Ja, vermutlich können es ein paar von ihnen gar nicht erwarten, Wilden für vermisst, verschollen und tot zu erklären«, meinte sie.

Gemeinsam gingen sie nach draußen. Kater Brown schlenderte hinter ihnen her, ließ sich aber Zeit, als wüsste er, dass Alexandra sich nur zu der Gruppe der Hotelgäste begeben wollte, die am Rand des Platzes vor dem Haupteingang warteten.

»Hallo«, begrüßte sie vier Frauen, die zusammenstanden und sich leise unterhielten. »Wir kennen uns noch nicht. Mein Name ist Alexandra Berger, ich bin Journalistin.«

Die vier stellten sich vor, aber bis auf den Vornamen Yasmin der einen Frau und den Nachnamen Maximilian einer anderen konnte Alexandra sich auf die Schnelle keinen der Namen merken.

»Noch immer fehlt von Bernd Wilden jede Spur«, berichtete Frau Maximilian. Sie war zu stark geschminkt, und ihr Busen malte sich unter dem eng anliegenden T-Shirt deutlich ab. Offenbar trug sie absichtlich keinen BH, zumindest ließ das ihr etwas affektiertes Gehabe in Richtung eines sicher zwanzig Jahre älteren, grauhaarigen Mannes mit Schnauzbart und einem kleinen Kinnbart vermuten. Sein verträumter Blick verriet, dass ihm gefiel, was er sah. »Egal, wer von uns versucht, ihn anzurufen, er meldet sich nicht«, berichtete die Frau weiter. »Und in seinem Zimmer ist er auch nicht.«

»Vielleicht möchte er im Augenblick einfach nur nicht gestört werden«, gab Alexandra zu bedenken und drehte sich zu Tobias um. »Oder was meinst du dazu?«

»Ich weiß nur, dass sein Bett letzte Nacht nicht benutzt worden ist und der teure Wagen unverschlossen auf dem Parkplatz steht. Und der Zündschlüssel steckt. Warum steigt Wilden aus dem Auto aus, lässt den Schlüssel stecken und kehrt dann nicht in sein Zimmer zurück?«

Alexandra dachte kurz darüber nach. »Woher wissen wir denn, dass er auf den Parkplatz gefahren, ausgestiegen und dann zum Haus gegangen ist? Vielleicht hat er ja auch kurz vor dem allgemeinen Zubettgehen das Hotel verlassen, weil ihn jemand abholen wollte, ist zu seinem Wagen gegangen, hat irgendwas rausgenommen oder reingelegt, und als sein Bekannter oder seine Bekannte kam, um ihn abzuholen, hat er nicht mehr an den Schlüssel gedacht und ist in den anderen Wagen eingestiegen und weggefahren.«

»Wer soll ihn denn abends noch abholen?«, wunderte sich Tobias.

Sie schnaubte frustriert. »Ich kenne den Mann so gut wie gar nicht. Woher soll ich das also wissen? Ich überlege nur, was gestern Abend geschehen sein könnte.« Dann drehte sie sich um. »Was ist eigentlich mit Kater Brown los? Seit wir hier draußen sind, meckert er am laufenden Band.« Sie winkte dem Kater zu, der sich auf den Rand des Ziehbrunnens gesetzt hatte und in regelmäßigen Abständen miaute. Dabei ließ er Alexandra nicht aus den Augen. »Man könnte fast meinen, dass er nach mir ruft.«

»Sieh an«, scherzte Tobias. »Es gibt ja doch Männer, auf die du hörst, wenn sie dich rufen.«

»Wenigstens hat Kater Brown nicht ständig einen blöden Anmacherspruch drauf«, rief sie über die Schulter zurück.

Gerade als sie den Kater erreicht hatte, balancierte er über die großen, unregelmäßig geformten Steine des Randes auf die andere Seite des Brunnens und miaute weiter. Sobald Alexandra ihm folgte, verließ er seinen Platz und kehrte wieder zu seinem Ausgangspunkt auf der gegenüberliegenden Seite zurück. Dieses Schauspiel wiederholte sich einige Male.

»Wenn du so weitermachst, kommst du nie mehr zu den Streicheleinheiten. Ich müsste mich schon über den Brunnen beugen, und ich habe keine Lust, dass ich …« Sie verstummte, als sie sich tatsächlich ein Stück über den Brunnenrand lehnte und ihr Blick nach unten in den dunklen Schacht fiel. Für einen Moment meinte Alexandra, auf dem Grund des Brunnens schemenhaft eine Gestalt zu sehen, und sie wurde von einem so eigenartigen Gefühl gepackt, dass sie nach ihrem Handy griff, den Zoom betätigte und auf gut Glück in die Tiefe fotografierte.

Schließlich sah sie sich das Foto an und erstarrte mitten in der Bewegung.

»Stimmt was nicht?«, rief Tobias ihr zu und kam näher.

»Ich glaube, ich weiß, wo Herr Wilden geblieben ist«, sagte sie leise und zeigte in den Brunnenschacht.


Загрузка...