15. Kapitel

»Da sind Sie ja!«, erklang eine atemlose Männerstimme.

Alexandra fuhr zusammen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete sie, Wildens Mörder hätte sich angeschlichen, um sie beide nun im Schutz der Nacht aus dem Weg zu räumen.

Aber dann erkannte sie im Lichtschein, der von Tobias’ Gesicht reflektiert wurde, wer da mit einer Taschenlampe vor ihnen stand.

»Bruder Johannes?«, entfuhr es ihr. »Was machen Sie denn hier?«

»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie erschreckt habe. Ich wollte mir nicht noch länger die Beine in den Bauch stehen«, gab er zurück und richtete den Strahl der Lampe zu Boden. »Ich hatte im Foyer auf Sie gewartet, um Sie ins Haus zu lassen, und dann auf einmal sah ich einen Wagen auf den Platz einbiegen. Aber dann habe ich gewartet und gewartet, und Sie kamen nicht. Also habe ich mich auf die Suche nach Ihnen gemacht. Ich hatte schon fast befürchtet, Ihnen wäre etwas zugestoßen.« Dann ließ er den Lichtstrahl über sie wandern. »Wo ist Kater Brown?«, fragte er zögerlich. »Haben Sie ihn denn nicht mitgebracht?«

»Nein, er ist noch beim Tierarzt und wird versorgt«, sagte Alexandra. »Wir wissen auch noch nichts Genaues. Außer dass jemand den kleinen Kerl ganz offensichtlich vergiften wollte. Hoffentlich überlebt er!«

»Auf jeden Fall ist der Kater jetzt in guten Händen«, meinte Bruder Johannes bedrückt. »Ich hoffe auch, er kommt durch.« Nach einer kurzen Pause fügte der Mönch hinzu: »Hören Sie, das mit Doktor Erzbauer tut mir ehrlich leid, das hätte böse enden können …«

»Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, Bruder Johannes«, versicherte Alexandra. »Sie konnten es ja nicht wissen.«

»Nur gut, dass Sie so schnell einen anderen Tierarzt gefunden haben! Wie, sagten Sie noch mal, heißt der Veterinär, zu dem Sie gefahren sind?«

»Oh, fragen Sie mich nicht nach dem Namen!«, antwortete sie ausweichend. »Ich glaube, der Arzt heißt … Glogauer oder so ähnlich. Na ja, er hat ja unsere Telefonnummern, und sobald wir Kater Brown wieder abholen können, wird er sich melden.«

»Lassen Sie sich bitte eine Rechnung geben«, sagte Bruder Johannes. »Der Kater hat schließlich auf unserem Grund und Boden das Gift gefressen, also werden wir auch für die Kosten aufkommen.«

»Warten wir erst einmal ab, ob alles gut geht«, warf Tobias ein. »Wir wissen ja nicht mal, wie lange Kater Brown noch behandelt werden muss.«

»Verstehe«, sagte Bruder Johannes. »Dann werde ich beten, damit sich dieses Sprichwort nicht bewahrheitet. Sie kennen es doch sicher?« Auf Alexandras verständnislosen Blick hin fügte er seufzend hinzu: »›Die Neugier ist der Katze Tod.‹«

»Um Himmels willen!«, rief sie. »Kater Brown darf nichts passieren! Immerhin brauchen wir die kleine schwarze Spürnase bei unserer Mördersuche noch.«

»Dann hat Bruder Andreas’ Computerübersicht Ihnen nicht weiterhelfen können?«, erkundigte sich der Mönch.

»Nur bedingt«, antwortete Tobias. »Wir haben erfahren, dass Wilden ungewöhnlich gut gelaunt war, als er das Kloster verließ. Aber das führt uns nicht zum Täter.«

»Bernd Wilden wollte wegfahren und sich am nächsten Tag mit jemandem treffen, doch da sein Handy und sein Laptop verschwunden sind, haben wir keinerlei Anhaltspunkte, mit wem er wo verabredet war.« Alexandra ließ die SMS, die Assmann ihr geschickt hatte, unerwähnt. Während Bruder Johannes und Tobias rekapitulierten, was sie bisher zusammengetragen hatten, zog sie ihr Handy aus der Tasche und schrieb eine SMS an Kurt Assmann.

Gerät schon erhalten? Bitte, melden Sie sich bei mir!

Hoffentlich antwortete der Mann bald!

Tobias sah auf die Uhr. »Oje. Es ist schon fast ein Uhr. Ich würde mich jetzt gern aufs Ohr legen. Es war ein unerwartet hektischer Tag.«

»Das kannst du laut sagen«, stimmte sie ihm zu und stieß sich vom Zaun ab, dann gingen sie im Schein von Bruder Johannes’ Taschenlampe zu dritt zurück zum Kloster.

Im Foyer fiel Alexandra etwas ein. »Ach, Bruder Johannes, dürfen wir uns mal in aller Ruhe im Keller umsehen? Nur, wenn es keine Umstände macht?«

»Glauben Sie, Sie finden da einen Hinweis auf den Täter?«

»Eigentlich nicht, aber wir hätten einfach ein besseres Gefühl, wenn wir wüssten, dass wir keine Möglichkeit außer Acht gelassen haben, nach Hinweisen zu suchen.«

Bruder Johannes nickte. »Ja, natürlich. Ich kann Sie beide gern morgen früh durch den Keller führen. Sagen wir, gleich nach dem Frühstück?«

»Einverstanden«, willigte Alexandra ein und sah, dass auch Tobias zustimmend nickte.

Bruder Johannes führte die kleine Gruppe weiter an und leuchtete ihnen den Weg zu ihren Zimmern. Er wartete, bis beide abgeschlossen hatten, dann entfernten sich seine Schritte auf dem Flur. Alexandra schmunzelte, denn sie musste unwillkürlich an die Bemühungen eines Herbergsvaters denken, der die Jungen und Mädchen in seinem Haus strikt voneinander getrennt hielt, um sie daran zu hindern, Dummheiten zu machen. Aber da bestand bei Tobias und ihr doch gar keine Gefahr! Schließlich wollte sie nichts von diesem Mann! Trotzdem musste sie wieder an den seltsamen Ausdruck in Tobias’ Augen denken und an die ungewohnte Befangenheit, die sie selbst in seiner Nähe ergriffen hatte. »Unsinn! Es lag nur an der romantischen Sommernacht«, sagte sie sich dann und lauschte noch einmal auf den Korridor hinaus. Als sie sicher war, dass sich niemand mehr draußen aufhielt, öffnete sie die Tür und huschte zu Kurt Assmanns Zimmer hinüber. »Herr Assmann, sind Sie da? Herr Assmann?«, fragte sie mit unterdrückter Stimme. Doch auch nach dreimaligem Klopfen regte sich nichts hinter der Zimmertür, und Alexandra schlich zurück in ihre Kammer. Kurt Assmann schien wirklich nicht ins Kloster zurückgekehrt zu sein. Hoffentlich war ihm nichts zugestoßen!

Im Licht des Laptopmonitors zog Alexandra sich aus und tappte ins angrenzende Bad. Dabei kreisten ihre Gedanken unaufhörlich um die Frage, wohin Assmann wohl gefahren war.

Vor dem Zubettgehen fuhr sie noch rasch den Computer runter und griff nach ihrem Handy. Seltsam, Kurt Assmann hatte sich immer noch nicht auf ihre SMS gemeldet! Seufzend deckte Alexandra sich zu. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn. Ob Kater Brown wohl noch lebte? Hoffentlich hatte Dr. Paressi ihn stabilisieren können! Wer hinter diesen Mauern war nur so grausam, ein unschuldiges Tier zu vergiften?

Alexandra stellte noch einmal sicher, dass ihr Handy noch ausreichend aufgeladen war, dann kuschelte sie sich in ihre Kissen und schloss die Augen. Sie musste einfach versuchen, noch ein wenig zu schlafen, sonst würde sie sich morgen wie gerädert fühlen.

Ein Geräusch riss Alexandra aus dem Schlaf. Als sie die Augen aufschlug, herrschte um sie herum noch tiefe Dunkelheit. Sie schaute auf die Uhr. Halb vier. Wer war um diese Zeit denn schon auf den Beinen?

Verschlafen setzte sie sich auf und lauschte, aber das Geräusch war zu leise, zu weit entfernt, um es bestimmen zu können. Hastig stand sie auf und tappte zur Tür, um sie einen Spaltbreit zu öffnen. Der Korridor war in Dunkelheit getaucht, nur die wenigen winzigen grünen Leuchtdioden, die den Fluchtweg kennzeichneten, spendeten einen schwachen Lichtschein.

Das scharrende Geräusch war nun etwas deutlicher zu hören, aber noch immer konnte Alexandra sich nicht erklären, von welcher Quelle es verursacht wurde. Alexandra war versucht, dieser Sache sofort auf den Grund zu gehen, doch dann besann sie sich eines Besseren. In ihrem kurzen Nachthemd wollte sie nun doch niemandem begegnen. In aller Eile zog sie sich an, dann griff sie nach ihrem Handy, schaltete die integrierte Taschenlampe ein und verließ das Zimmer.

Einen Moment überlegte sie, ob sie Tobias wecken sollte, aber dann entschied sie sich dagegen. Er würde sie nur wieder necken, ein Angsthase zu sein.

Auf leisen Sohlen wandte sie sich nach links und huschte bis zum Ende des Korridors, bog dann nach rechts ab und kam schließlich zu der Stelle, von der aus es auf der einen Seite zum Foyer, auf der anderen Seite zu den Unterkünften der Mönche ging. Dort befand sich auch die Kellertür, zu der Kater Brown sie gelockt hatte! Sie war nur angelehnt! Wieder lauschte Alexandra ein paar Sekunden in die Dunkelheit. Kein Zweifel, das Geräusch kam aus dem Keller!

Vorsichtig, um keinen Laut zu verursachen, zog sie die Tür weiter auf und schlich die schmale steinerne Wendeltreppe nach unten. Der große Kellerraum, in dem sie am Vortag auf Bruder Dietmar und Bruder Siegmund gestoßen war, war in ein diffuses Licht getaucht, das von einer rötlich schimmernden Glühbirne über der Tür ausging, vor der Kater Brown gesessen hatte. Es dauerte nur einen Moment, dann hatten Alexandras Augen sich an das Licht gewöhnt, und sie ging zu der Tür, die einen Spaltbreit offen stand. Durch den schmalen Spalt drang das Geräusch nun viel lauter an ihre Ohren. Es war ein aufgeregtes, hastiges Kratzen über Holz.

Alexandra spürte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten. Gebannt hielt sie den Atem an, nahm all ihren Mut zusammen und zog die Tür ein Stück weiter auf. Der angrenzende Raum war ebenfalls von rötlichem Licht erhellt, aber Alexandra konnte niemanden entdecken, der das Kratzen verursachte. Als sie den weitläufigen Gewölbekeller betrat, entfuhr ihr ein erschrecktes Keuchen. Zehn oder zwölf Steinsärge standen in Reih und Glied an einer der Wände! Alexandra fröstelte. Ruhten darin verstorbene Mitglieder der Bruderschaft?

Das Kratzen wurde lauter, und Alexandra fuhr herum. In einem Alkoven stand eine große Holzkiste … aus der das Kratzgeräusch kam! Fast lautlos schlich Alexandra näher und beugte sich ein wenig vor. Das Herz pochte ihr beinah schmerzhaft hart gegen die Rippen, doch sie zwang sich, die Hände auszustrecken und den Deckel vorsichtig anzuheben. Ein schreckliches Fauchen erklang – und etwas Dunkles schoss zischend auf Alexandra zu und über ihre Schulter hinweg tiefer in den Kellerraum hinein. Mit einem leisen Aufschrei ließ sie den schweren Deckel fallen.

Alexandra zitterte wie Espenlaub, als sie sich umdrehte und die schwarze Katze erkannte, deren gelbe Augen im Licht der getönten Glühbirne seltsam rötlich leuchteten. Wie ein Gesandter des Teufels, ging es Alexandra unwillkürlich durch den Sinn. Die Katze warf ihr noch einen rätselhaften Blick zu, dann jagte sie durch die offen stehende Tür in den Nebenraum und die Kellertreppe hinauf.

Alexandra wollte ihr eben folgen, als sie eine Bewegung zu ihrer Linken bemerkte. Erschrocken drehte sie sich um und richtete den Lichtkegel ihrer Handy-Taschenlampe auf den Schemen, der sich dort gerührt hatte.

»Da sind Sie ja, Frau Berger«, sagte eine vertraute, unangenehme Stimme. »Wir haben schon auf sie gewartet.«

»Herr Assmann, was … was machen Sie denn hier unten?«, flüsterte Alexandra, und namenlose Angst erfüllte sie.

»Du bist einfach zu neugierig«, vernahm sie eine andere Stimme, die sie kannte, aber ebenfalls nicht sofort zuordnen konnte. Aus der Dunkelheit löste sich eine Gestalt, die sich jedoch bewusst außerhalb des Lichtkegels der Handylampe hielt.

Alexandra blinzelte. Wer war der Mann?

Du bist einfach zu neugierig …

Plötzlich schossen Hände auf Alexandra zu und legten sich um ihren Hals. Sie drückten zu, sodass ihr die Luft wegblieb. Alexandra versuchte verzweifelt, sich zu wehren – doch es war vergebens! Sie spürte, wie alle Kraft ihren Körper verließ, und fürchtete schon, jeden Moment ohnmächtig zu werden. Doch ihre Sinne waren seltsam geschärft, und sie konnte alles um sich herum wahrnehmen.

Ein Mann schleifte sie zu der Holzkiste hinüber und öffnete den Deckel. Scheinbar mühelos hob er sie hoch und legte sie in die Kiste. Als er sich wieder aufrichtete und den Deckel über ihr schließen wollte, sah Alexandra endlich sein Gesicht. Es war …

… Bernd Wilden! Mit einem Aufschrei fuhr Alexandra aus dem Schlaf und riss entsetzt die Augen auf. Ihr Atem ging in schnellen, abgehackten Stößen, sie war schweißgebadet und zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub. Es war nur ein Traum, sagte sie sich, als sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Es war nur ein böser Traum … Sie saß in ihrem Bett, sie war nicht in einer Holzkiste gefangen.

Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder beruhigt hatte. »Mein Gott«, murmelte sie und stand auf, um sich mit ausgestreckten Armen ins Badezimmer vorzutasten. In der Dunkelheit drehte sie den Wasserhahn auf, hielt die Hände unter den Strahl und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, bis sie sich besser fühlte. Das war’s jetzt wohl, dachte sie. Nach diesem Albtraum würde es ihr sicher nicht gelingen, noch einmal einzuschlafen …

Ein wiederholtes Summen ließ Alexandra aufschrecken. Einen Moment sah sie sich ängstlich im Zimmer um, in das das erste schwache Licht des Morgens fiel. Dann lenkte das leuchtende Handydisplay ihren Blick auf das Gerät, das auf dem Nachttisch lag. Sie hatte eine SMS erhalten!

Assmann!, war ihr erster Gedanke. Endlich!

Hektisch tastete sie nach dem Mobiltelefon und drückte die Freigabetaste. Die Nummer des Absenders sagte ihr nichts; nicht einmal die Vorwahl konnte sie im ersten Moment zuordnen.

Mit klopfendem Herzen öffnete Alexandra die SMS … und spürte, wie ihr Freudentränen in die Augen traten. Ein Foto leuchtete ihr entgegen: Es zeigte Kater Brown, wie er auf dem Behandlungstisch in der Praxis von Dr. Paressi saß … Alexandra blinzelte. Er war wohlauf, er lebte! Kater Brown lebte!

Und er hatte offenbar eine Nachricht für sie.

Holt mich hier ab!, stand in einer Sprechblase über seinem Kopf geschrieben.

Mit zitternden Fingern blätterte Alexandra weiter, um zum Text der SMS zu gelangen.

Ich dachte, das sollten Sie sehen. Ein Smiley, das ein Auge zusammenkniff, folgte. Rufen Sie mich ab 9 Uhr an! Gegen Mittag können Sie den Kleinen dann abholen. Gruß, Paressi.

Alexandra spürte, wie sich auf ihrem Gesicht ein Strahlen ausbreitete. Sie blätterte zurück und betrachtete wieder das Foto. Zugegeben, Kater Brown schaute noch ein wenig verschlafen in die Kamera, so als wäre er gerade erst aufgewacht, aber … er lebte, er war gerettet! Nur das zählte!

Nun gab es für Alexandra kein Halten mehr. Wie sie war, stürmte sie auf den Flur hinaus und klopfte an Tobias’ Zimmertür. Nichts geschah. »Tobias, wach auf! Ich muss dir was zeigen.«

Endlich ertönte leises Gemurmel, Füße tappten auf dem Boden, und im nächsten Moment wurde die Tür aufgestoßen. »Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, maulte Tobias, als er im Lichtschein ihres Handydisplays ihr Gesicht erkannte.

Alexandra hielt ihm strahlend Kater Browns Foto entgegen.

»Was ist …« Er verstummte und betrachtete das Bild. Sie konnte ihm ansehen, wie er zu verarbeiten versuchte, was er da gezeigt bekam. Dann begriff er, und mit einem Mal strahlte er über das ganze Gesicht.

»Gerade eben reingekommen«, flüsterte sie mit rauer Stimme. Ihre Kehle war auf einmal vor Freude wie zugeschnürt.

Ohne ein weiteres Wort schlang Tobias die Arme um sie und drückte sie an sich. In dem Moment verlor Alexandra endgültig die Beherrschung und ließ ihren Tränen freien Lauf. Dabei klammerte sie sich so fest an Tobias, als wären sie selbst soeben um Haaresbreite dem Tod entronnen.

Alexandra wusste nicht, wie lange sie so dastanden, aber irgendwann wurde ihr bewusst, dass sie lediglich ein kurzes Nachthemd und Tobias nichts als eine Boxershorts trug. Sie konnte seine nackte Haut unter ihren Händen spüren und löste sich verlegen von ihm. Fahrig wischte sie sich über das Gesicht. »Wir sollen ihn gegen Mittag abholen, hat Doktor Paressi geschrieben.«

Er nickte lächelnd. »Das war der beste Grund, den du haben konntest, um mich zu wecken.«

»Ja.« Kurz drückte sie ihre Wange an seine. »Er ist über den Berg! Ich bin so froh!«

»Ich auch«, antwortete er.

»Ja«, sagte sie noch einmal und spürte, wie sie errötete. Wieder fühlte sie sich so seltsam befangen! »Ich gehe dann mal zurück in mein Zimmer. Eine Stunde können wir ja noch schlafen.«

»Zwei Stunden«, korrigierte er sie. »Es ist Sonntag, und am Sonntagmorgen dürfen die Gäste ›ausschlafen‹ … bis sieben Uhr.«

»Was für ein Luxus!«, lachte sie und huschte schnell davon.

Es war kurz nach halb acht, als Alexandra und Tobias gemeinsam das Refektorium betraten. Die Mönche – darunter auch einige, die sie bislang noch nicht kennengelernt hatten – saßen an der Tischreihe auf der rechten Seite, die Hotelgäste an der auf der linken Seite. Leises Gemurmel und das Klirren von Geschirr und Besteck waren zu hören.

Alexandra nahm neben Tina Wittecker Platz, Tobias setzte sich ihr gegenüber hin. Die Leiterin des Mahlzeitendienstes machte wie ihre Kollegen noch einen recht verschlafenen Eindruck, aber als sie Alexandra sah, lächelte sie freundlich.

»Guten Morgen, Frau Berger«, sagte sie. »Hallo, Herr Rombach.« Obwohl es noch so früh am Tag war, war sie bereits perfekt geschminkt.

Sie erwiderten die Begrüßung, und Tina Wittecker stellte gleich darauf fest: »Sie beide sehen auch ziemlich geschafft aus, wenn ich das einmal so sagen darf. Dabei mussten Sie sich doch gestern Abend gar nicht den Vortrag unseres hochverehrten Herrn Assmann anhören.«

»Oh, hat er noch lange auf Sie eingeredet?«, erkundigte sich Alexandra.

»Ja, ich meine, es war Viertel vor elf, als wir uns endlich in unsere Zimmer zurückziehen durften. Der Gute konnte gar kein Ende finden. Und dann diese unterschwelligen Drohungen, weiteren Mitarbeitern zu kündigen.« Sie nahm eine Scheibe Brot, verteilte ein wenig Margarine darauf und zog sich dann den Käseteller heran. »Er versucht wirklich, Wilden in jeder Hinsicht zu übertreffen. Und ich glaube, dass der Vorstand ihm die kommissarische Leitung des Verbands übertragen wird.«

»Oh«, entfuhr es Alexandra. »Das dürfte aber einigen Leuten gar nicht gefallen.«

Tina Wittecker grinste sie an. »Sehen Sie mal ans Tischende, was da für eine Stimmung herrscht!«

Alexandra beugte sich vor, um nach der Kaffeekanne zu greifen, dabei warf sie einen unauffälligen Blick in die angegebene Richtung. Die Bereichsleiter saßen dort und starrten so finster vor sich hin, als hätten sie in der vergangenen Nacht die Kündigung erhalten. Sie schenkte sich Kaffee ein.

Tobias war ihrem Blick gefolgt. »Wo ist eigentlich Assmann?«, fragte er scheinbar ahnungslos und sah sich suchend im Refektorium um. Bevor Alexandra und er zum Frühstück gekommen waren, hatten sie noch einmal an Assmanns Zimmertür geklopft – ohne eine Antwort zu erhalten. Als sie ihn dann auf dem Handy angerufen hatten, war kein Telefonklingeln aus dem Zimmer zu hören gewesen, und Assmann hatte sich nicht gemeldet.

»Noch nicht aufgetaucht«, sagte die Angestellte. »Phh, vielleicht wartet er ja darauf, dass ihm das Frühstück auf dem Zimmer serviert wird. Soll er ruhig hungern, dann hat er wenigstens mal einen guten Grund für seine schlechte Laune.«

Alexandra nickte nur. Offenbar waren Tobias und sie die Einzigen, die von der geplanten Übergabe des Laptops an Kurt Assmann wussten. Sie beschlich ein ungutes Gefühl. Nicht, dass Assmann etwas zugestoßen war! Alexandra nahm sich vor, ihm gegen zehn Uhr noch einmal eine SMS zu schicken, in der sie ihn dringend aufforderte, sich baldmöglichst bei ihr zu melden. Notfalls mussten sie versuchen, seine Freundin zu erreichen, und sie fragen, ob sie in der vergangenen Nacht etwas von Assmann gehört hatte.

»Guten Morgen, Frau Berger«, riss eine leise Stimme Alexandra aus ihren düsteren Gedanken. Sie hob den Kopf und entdeckte Bruder Johannes neben ihrem Tisch. »Haben Sie Neuigkeiten von Kater Brown?«

Alexandra schüttelte den Kopf. Beim Anblick seiner besorgten Miene fiel es ihr zwar nicht leicht, den Mönch im Ungewissen zu lassen, aber sie konnte nicht riskieren, dass er etwas ausplauderte, was niemand wissen sollte. Vielleicht würde sich der Giftattentäter ja selbst verraten, solange er im Unklaren war, ob Kater Brown überlebt hatte. »Nein, leider nicht.«

»Sprechen Sie von dem schwarzen Kater, der Ihnen schon die ganze Zeit nachläuft?«, erkundigte sich Yvonne Tonger, die neben Tobias saß und die Frage des Mönchs mitbekommen hatte. »Ist er etwa entlaufen?«

»Nein«, antwortete Alexandra. »Offenbar wurde er vergiftet.«

Kaum hatte sie ausgesprochen, machte sich am Tisch erschrockenes Schweigen breit. Alle Angestellten sahen zu ihr herüber, und Alexandra nutzte genauso wie Tobias die Gelegenheit, um die Mienen der Leute genauer zu studieren. Einige waren sichtlich entsetzt, andere schauten ungläubig drein, und ein paar wenige – vor allem Groß, Dessing und Kramsch – demonstrierten völliges Desinteresse. Vielleicht lag es daran, dass die leitenden Angestellten zu sehr mit Wildens mutmaßlicher Nachfolge beschäftigt waren, dass das Schicksal einer Katze sie so kaltließ.

»Wussten Sie das nicht?«, fragte Alexandra verwundert in die Runde. »Ich dachte, das hätte sich längst herumgesprochen.«

»Das ist der Unterschied zwischen einem Kloster und einem Marktplatz«, warf Bruder Johannes ein und lächelte sanft. »Wenn Sie gefrühstückt haben, können wir wie verabredet in den Keller hinuntergehen. Sagen Sie einfach Bescheid, wenn Sie beide fertig sind.«

Als Bruder Johannes an seinen Tisch zurückkehrte, ließ Alexandra einen kritischen Blick über die versammelten Mönche wandern, die in ihr Frühstück vertieft waren und schwiegen. Keiner von ihnen sah in ihre Richtung.

Stattdessen bombardierten die Angestellten des Laurentius-Hilfswerks sie mit Fragen zu dem Giftanschlag, die Tobias und Alexandra so vage wie möglich beantworteten.

Nachdem sie zu Ende gefrühstückt hatten, gab Bruder Johannes ihnen ein Zeichen. »Kommen Sie bitte!«, sagte er, ging ihnen voran ins Foyer und nahm den Bund mit den Kellerschlüsseln vom Schlüsselbrett. Dann geleitete er sie zu der Kellertür.

Er schloss auf und betätigte einen Lichtschalter links neben dem Türrahmen. Eine Reihe von Deckenlampen flammten auf und sorgten in dem schmalen Treppenhaus für genügend Helligkeit.

Sie gelangten in den Keller, der deutlich besser beleuchtet war als in Alexandras Traum. Unbehagen machte sich in Alexandra breit, als sie sich dem angrenzenden Kellerraum näherten. Und fast meinte sie, wieder Wildens drohende Stimme zu hören: Du bist einfach zu neugierig …

Alexandra räusperte sich, weil sie glaubte, seine Hände um ihren Hals zu spüren.

Ein Schauer kroch ihr den Rücken herunter, und ihr stockte der Atem, als Bruder Johannes die Tür öffnete, die so in den Angeln quietschte, dass es ihr in den Ohren wehtat.


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